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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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freier schlägt der Nationalismus seine Wurzeln. Alles öffentliche Interesse
der frühern Zeit, das sich dein Wachstum und Wohlergehen von tausend
kleinen und großen Gebilden des sozialen Lebens zuwandte, das hier einem
Neubau des Rathauses, da einer Wahl des Zunftmeisters galt, hente der
Verteidigung altgewohnter und erprobter Stadtrechte gegen Übergriffe des
Fiskus, morgen dem Widerstande gegen landesherrliche Bedrohung ständischer
Selbstverwaltung -- alles dieses Interesse hat sich zum größten Teil in das
Strombett der großen, d. h. der nationalen Politik ergossen. Die kleinen
Interessen werden hente weniger von den ihnen zunächst stehenden Leuten,
denen sie bekannt sind, als von den ihnen ferner stehenden Beamten des Staates
verwaltet, die geneigt sind, nach allgemeinen Gesetzen oder Vorurteilen mehr
als nach genauer Berücksichtigung der einzelnen und lokalen Verhältnisse zu
handeln. Diese Ablenkung des öffentlichen Interesses von dem Besondern
zum Allgemeinen, dieses Verstaatlichen des öffentlichen Bewußtseins führt leicht
zu einer Vernachlässigung der innern Volksarbeit, des eigentlichen Knltnr-
fchaffens und zu einer ungesunden Bevorzugung der äußern Politik. Und je
stärker sich das Übergewicht der äußern Politik in dem Volksbewußtsein aus¬
bildet, umso eher und stärker tritt die Wertschätzung der äußern Macht hervor.
Dieses Machtbewnßtsein, diese Verherrlichung der Herrschaft über andre Völker,
von dein modernen Nationalismus zu einem sittlichen Prinzip, zu einem
nationalen Recht erhoben, erhitzt die nationale Leidenschaft zu der Höhe des
sogenannten Chauvinismus. Die Macht gegenüber andern wird an sich zur
Leidenschaft, der äußere Glanz, die rohe Gewalt erhalten eine Vedentnng, die
ihnen im Interesse der Kultur und des allgemeinen Wohlergehens nicht zu¬
kommt: die Eitelkeit tritt an die Stelle der Selbstachtung, das Volk lernt dein
Schein nachjagen und rohe Gelüste für nationale Rechte halten. Wer an
eine sittliche "Weltordnung glaubt, muß die Kultur als oberstes politisches
Prinzip anerkennen. Ob die Kultur der Weg zu allgemeiner Glückseligkeit ist,
mag fraglich sein; aber es giebt keinen andern Weg, den wir gehen können,
weil die Glückseligkeit einer paradiesischen Zukunft, zu der ein Rousseau zu
streben meinte, leerer Traum ist. Der Russe weist heute gern auf die wurden
Stellen am Körper der Kulturstaaten hin: das Elend der Fabriken, die Laster¬
höhlen der Großstädte, die drohende Wolke der sozialen Revolution, die all¬
gemeine Unruhe der Völker. Ist aber die Ruhe Rußlands ein Zeichen der
Glückseligkeit seiner Einwohner? Kurbel nicht die gesamte russische Litteratur
das gerade Gegenteil vou Glück bei diesem Volte? "Wo -- ruft schon Gogol
verzweifelnd aus -- wo ist der, der in der Volkssprache dieses gewaltige
Wort "Vorwärts" unsrer Seele zurufen könnte? der, alle Kräfte und Eigen¬
schaften und die ganze Tiefe unsrer Natur kennend, mit einem Zanberwink
uns auf ein hohes Leben hin richten könnte? Mit welchen Thränen, welcher
Liebe würde der dankbare russische Mensch ihm das vergelten! Aber Jahr-


freier schlägt der Nationalismus seine Wurzeln. Alles öffentliche Interesse
der frühern Zeit, das sich dein Wachstum und Wohlergehen von tausend
kleinen und großen Gebilden des sozialen Lebens zuwandte, das hier einem
Neubau des Rathauses, da einer Wahl des Zunftmeisters galt, hente der
Verteidigung altgewohnter und erprobter Stadtrechte gegen Übergriffe des
Fiskus, morgen dem Widerstande gegen landesherrliche Bedrohung ständischer
Selbstverwaltung — alles dieses Interesse hat sich zum größten Teil in das
Strombett der großen, d. h. der nationalen Politik ergossen. Die kleinen
Interessen werden hente weniger von den ihnen zunächst stehenden Leuten,
denen sie bekannt sind, als von den ihnen ferner stehenden Beamten des Staates
verwaltet, die geneigt sind, nach allgemeinen Gesetzen oder Vorurteilen mehr
als nach genauer Berücksichtigung der einzelnen und lokalen Verhältnisse zu
handeln. Diese Ablenkung des öffentlichen Interesses von dem Besondern
zum Allgemeinen, dieses Verstaatlichen des öffentlichen Bewußtseins führt leicht
zu einer Vernachlässigung der innern Volksarbeit, des eigentlichen Knltnr-
fchaffens und zu einer ungesunden Bevorzugung der äußern Politik. Und je
stärker sich das Übergewicht der äußern Politik in dem Volksbewußtsein aus¬
bildet, umso eher und stärker tritt die Wertschätzung der äußern Macht hervor.
Dieses Machtbewnßtsein, diese Verherrlichung der Herrschaft über andre Völker,
von dein modernen Nationalismus zu einem sittlichen Prinzip, zu einem
nationalen Recht erhoben, erhitzt die nationale Leidenschaft zu der Höhe des
sogenannten Chauvinismus. Die Macht gegenüber andern wird an sich zur
Leidenschaft, der äußere Glanz, die rohe Gewalt erhalten eine Vedentnng, die
ihnen im Interesse der Kultur und des allgemeinen Wohlergehens nicht zu¬
kommt: die Eitelkeit tritt an die Stelle der Selbstachtung, das Volk lernt dein
Schein nachjagen und rohe Gelüste für nationale Rechte halten. Wer an
eine sittliche »Weltordnung glaubt, muß die Kultur als oberstes politisches
Prinzip anerkennen. Ob die Kultur der Weg zu allgemeiner Glückseligkeit ist,
mag fraglich sein; aber es giebt keinen andern Weg, den wir gehen können,
weil die Glückseligkeit einer paradiesischen Zukunft, zu der ein Rousseau zu
streben meinte, leerer Traum ist. Der Russe weist heute gern auf die wurden
Stellen am Körper der Kulturstaaten hin: das Elend der Fabriken, die Laster¬
höhlen der Großstädte, die drohende Wolke der sozialen Revolution, die all¬
gemeine Unruhe der Völker. Ist aber die Ruhe Rußlands ein Zeichen der
Glückseligkeit seiner Einwohner? Kurbel nicht die gesamte russische Litteratur
das gerade Gegenteil vou Glück bei diesem Volte? „Wo — ruft schon Gogol
verzweifelnd aus — wo ist der, der in der Volkssprache dieses gewaltige
Wort »Vorwärts« unsrer Seele zurufen könnte? der, alle Kräfte und Eigen¬
schaften und die ganze Tiefe unsrer Natur kennend, mit einem Zanberwink
uns auf ein hohes Leben hin richten könnte? Mit welchen Thränen, welcher
Liebe würde der dankbare russische Mensch ihm das vergelten! Aber Jahr-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/180>, abgerufen am 24.07.2024.