Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.biuduug wird gefürchtet. Der russische Nationalismus ist negativ: er lebt Ich leugne nicht, es liegt in dem Nationalismus, wie er sich in Europa *) Vergl. das kürzlich erschienene Werk K. von Ditinars- Reisen und Anfenthalt in
Kamtschatka in den Jahren 1351-1855, Se. Petersburg. biuduug wird gefürchtet. Der russische Nationalismus ist negativ: er lebt Ich leugne nicht, es liegt in dem Nationalismus, wie er sich in Europa *) Vergl. das kürzlich erschienene Werk K. von Ditinars- Reisen und Anfenthalt in
Kamtschatka in den Jahren 1351-1855, Se. Petersburg. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0179" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/210046"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_476" prev="#ID_475"> biuduug wird gefürchtet. Der russische Nationalismus ist negativ: er lebt<lb/> durch die Befehdung andrer Völker und durch die Bekämpfung jeder innern<lb/> sozialen Organisation; er ist nach außen bedrohend und erobernd; er ist positiv<lb/> nur in der Erhaltung der kirchlich-staatlichen Beamtendespotic. Daraus ergiebt<lb/> sich seine Negation auch der Kultur gegenüber, daraus die tausendjährige Un¬<lb/> kultur. Man fragt bei Betrachtung dieses Staates vergebens nach einem<lb/> sittlichem Grunde seines Bestehens. Warum besteht er, was ist sei» Zweck<lb/> außer dem, zu sein, d. h. aus Land, Menschen und Regierung zu bestehen?<lb/> Zum Wohle seiner Einwohner hat er seit vielen Jahrhunderten nicht bestanden,<lb/> und der oberflächlichste reisende Beobachter kann bemerken, daß auch bellte<lb/> Rußland nicht zum Wohle der Russen, noch weniger zum Wohle der drin<lb/> wohnende» andern Leute da ist. Diese sittliche Leere des Staatskörpers ward<lb/> ehedem ausgefüllt durch das Wohl von Zar, Beamtentum und Adel; jetzt<lb/> ist nnr noch Zar und Beamtentum da, d. h. das Gerippe eines Staates,<lb/> und diesem ist der deckende Mantel des Nationalismus übergeschlagen. Wo<lb/> man hinsieht, wird zur Ehre der russischen Nation, wie vordem zur Ehre<lb/> des Großfürsten von Moskau zerstört. Nie ist auch nur die Rede davon, ob<lb/> Polen, Deutsche, Letten, Finnen, Kleinrussen, Kaukasier, ja bis, zu den Be-<lb/> wohnern von Kamtschatka^) ein gutes oder schlechtes Dasein führen, ob eine<lb/> Maßregel ihnen zum Wohl oder zum Schaden gereiche: einziges Prinzip ist,<lb/> nichts zu dulden, was eigenartig aussieht, ist, denkt, fühlt, lebt, spricht, war<lb/> oder vielleicht einmal sein könnte. Und das ist der gesamte saubere Inhalt<lb/> dieses modernen, freilich ius Russische übersetzten Begriffs von Nationalismus.<lb/> Auf der Höhe dieses Kameles sitzend, reitet der Slawist stolz lind zufrieden<lb/> durch die Wüste, die er sich und andern zu Nutz immer weiter auszubreiten<lb/> bemüht ist. Die Pest, Beamtenleben an die Stelle von Volksleben zu setzen,<lb/> diese Pest, an der Rußland diese tausend Jahre lang dahinsiechte, ist heilte<lb/> zum. Nativualheiligtnm erhoben worden. Früher hieß der Kamelreiter ein<lb/> znrischer, jetzt heißt er ein nationaler Tschinownik. Man verzichtet auf eine<lb/> Entwicklung des Volkes, mau will nichts als — Russe sein.</p><lb/> <p xml:id="ID_477" next="#ID_478"> Ich leugne nicht, es liegt in dem Nationalismus, wie er sich in Europa<lb/> und Amerika ausgebildet hat, eine gewaltige Kraft. Seine Wurzeln ruhen<lb/> in einem Boden, der reich ist an Nährstoff aus alten verwesten und jetzt sich<lb/> auflösenden Organismen. „Das Verschwinden der örtlichen und korporativen<lb/> Baude, der Verfall der Autonomie von Gemeinde und Landschaft" — das<lb/> gab und giebt diesen von Slonimski richtig bezeichneten Boden, auf dem der<lb/> Individualismus aufsproß und dann zum Nationalismus zusammenwnchs.<lb/> Je gründlicher mit den alten Verbänden aufgeräumt wurde und wird, umso</p><lb/> <note xml:id="FID_11" place="foot"> *) Vergl. das kürzlich erschienene Werk K. von Ditinars- Reisen und Anfenthalt in<lb/> Kamtschatka in den Jahren 1351-1855, Se. Petersburg.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0179]
biuduug wird gefürchtet. Der russische Nationalismus ist negativ: er lebt
durch die Befehdung andrer Völker und durch die Bekämpfung jeder innern
sozialen Organisation; er ist nach außen bedrohend und erobernd; er ist positiv
nur in der Erhaltung der kirchlich-staatlichen Beamtendespotic. Daraus ergiebt
sich seine Negation auch der Kultur gegenüber, daraus die tausendjährige Un¬
kultur. Man fragt bei Betrachtung dieses Staates vergebens nach einem
sittlichem Grunde seines Bestehens. Warum besteht er, was ist sei» Zweck
außer dem, zu sein, d. h. aus Land, Menschen und Regierung zu bestehen?
Zum Wohle seiner Einwohner hat er seit vielen Jahrhunderten nicht bestanden,
und der oberflächlichste reisende Beobachter kann bemerken, daß auch bellte
Rußland nicht zum Wohle der Russen, noch weniger zum Wohle der drin
wohnende» andern Leute da ist. Diese sittliche Leere des Staatskörpers ward
ehedem ausgefüllt durch das Wohl von Zar, Beamtentum und Adel; jetzt
ist nnr noch Zar und Beamtentum da, d. h. das Gerippe eines Staates,
und diesem ist der deckende Mantel des Nationalismus übergeschlagen. Wo
man hinsieht, wird zur Ehre der russischen Nation, wie vordem zur Ehre
des Großfürsten von Moskau zerstört. Nie ist auch nur die Rede davon, ob
Polen, Deutsche, Letten, Finnen, Kleinrussen, Kaukasier, ja bis, zu den Be-
wohnern von Kamtschatka^) ein gutes oder schlechtes Dasein führen, ob eine
Maßregel ihnen zum Wohl oder zum Schaden gereiche: einziges Prinzip ist,
nichts zu dulden, was eigenartig aussieht, ist, denkt, fühlt, lebt, spricht, war
oder vielleicht einmal sein könnte. Und das ist der gesamte saubere Inhalt
dieses modernen, freilich ius Russische übersetzten Begriffs von Nationalismus.
Auf der Höhe dieses Kameles sitzend, reitet der Slawist stolz lind zufrieden
durch die Wüste, die er sich und andern zu Nutz immer weiter auszubreiten
bemüht ist. Die Pest, Beamtenleben an die Stelle von Volksleben zu setzen,
diese Pest, an der Rußland diese tausend Jahre lang dahinsiechte, ist heilte
zum. Nativualheiligtnm erhoben worden. Früher hieß der Kamelreiter ein
znrischer, jetzt heißt er ein nationaler Tschinownik. Man verzichtet auf eine
Entwicklung des Volkes, mau will nichts als — Russe sein.
Ich leugne nicht, es liegt in dem Nationalismus, wie er sich in Europa
und Amerika ausgebildet hat, eine gewaltige Kraft. Seine Wurzeln ruhen
in einem Boden, der reich ist an Nährstoff aus alten verwesten und jetzt sich
auflösenden Organismen. „Das Verschwinden der örtlichen und korporativen
Baude, der Verfall der Autonomie von Gemeinde und Landschaft" — das
gab und giebt diesen von Slonimski richtig bezeichneten Boden, auf dem der
Individualismus aufsproß und dann zum Nationalismus zusammenwnchs.
Je gründlicher mit den alten Verbänden aufgeräumt wurde und wird, umso
*) Vergl. das kürzlich erschienene Werk K. von Ditinars- Reisen und Anfenthalt in
Kamtschatka in den Jahren 1351-1855, Se. Petersburg.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |