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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Der Nationalismus

Es ist von großem Interesse, zu verfolgen, wie sich dieser russische Staats-
chauvinismus allmählich zu seiner jetzigen Höhe hinaufgearbeitet hat. Man
braucht noch nicht alt zu sein, um sich zu erinnern, wie in ganz Rußland
alles, was Anspruch auf Bildung, auf Stellung in der Gesellschaft machte,
allerlei Sprachen, nur nicht die russische sprach. Vor zwanzig Jahren, vor
vierzig war man noch natürlich, naiv und gestand offen ein, daß man als
Russe hinter der europäischen Kulturwelt zurückstehe. Mau hatte Ehrfurcht
vor der Kultur, mau blickte zu Engländern, Franzosen, Deutschen, Italienern
als zu höher stehenden Völkern empor und suchte sie und ihr Wirken für sich,
für Rußland nutzbar zu machen: Fremde und Fremdes war in Rußland von
jedermann geehrt und herbeigesehnt, die Dinge gingen ihren natürlichen Gang
der Entwicklung, und nur der Staat erhob in Dingen der äußern Politik die
Ansprüche eines mit dem Westen paritätischen Knlturstaatcs. Dann begann
die slawvphile Presse ihre Belehrung: nicht Nußland habe zu lernen von Europa,
sondern der faule Westen habe künftig die Führung dem jugendlich starken
Slawentum abzutreten. Das war die Verherrlichung der nationale!? "Kraft,"
wie sie Solowjew kennzeichnet. Und man redete sich so weit in die Selbst¬
verherrlichung hinein, daß heute Iwan der Grausame zum Nationalhelden ge¬
worden ist und Solowjew mit Recht dein heutigen Slawistentum den Vorwarf
macht, die Barbarei als nationale Tugend zu verehren.

So weit ist es in Rußland gekommen, nachdem die Nationalität an sich,
abgesehen von Kultur und innerer Tüchtigkeit, ans den Thron erhoben worden
ist. Diesem starren, zerstörenden Nationalismus, diesem lähmenden Selbst-
betruge wird die politische Kraft und die natürliche Kulturentwicklung geopfert,
in ihm sucht der Einzelne, wie Slonimski sagt, sein soziales Bedürfnis nach
Zusammenschluß mit andern zu befriedigen und fällt dabei ins Leere. Gerade
weil die soziale Gliederung fast gänzlich dein russische" Volke fehlt, hat die
nationale Idee bei ihm solche Bedeutung gewonnen; weil dieses Volk nur den
einen sozialen Verband der bäuerlichen Dorfgemeinde besitzt, erscheint ihm
dieser nächst der Nation selbst als das zweite nationale Heiligtum. Der
kulturlose Dorfbauer hier, und der haltlose Individualismus der gouvernementalen
Menge dort -- das sind vollkommene Gegensätze. Seit die Teilfürsten ver¬
schwanden, ist außer der Dorfgemeinde das Nusseutum eine soziale Wüste
gewesen, und dies war ein Hauptgrund seines Kulturstillstandes, denn seit
tausend Jahren warten wir, wie Dahn in seiner Urgeschichte der Germanen
und Romanen beißend bemerkt, "nicht ohne Neugier" auf die kommende russische
Kultur. Heute ist der Staat nur haltbar, solange er eine solche Wüste bleibt,
und es ist ein kluger Gedanke, vielmehr ein richtiger Instinkt, diese soziale
Wüste zum Inhalt des nationalen Chauvinismus zu machen. Im Namen
dieses Nationalismus wird zerbrochen, was noch außer der Dorfgemeinde
irgend soziale Form lind Gliederung im Volke hat, und jede soziale Ver-


Der Nationalismus

Es ist von großem Interesse, zu verfolgen, wie sich dieser russische Staats-
chauvinismus allmählich zu seiner jetzigen Höhe hinaufgearbeitet hat. Man
braucht noch nicht alt zu sein, um sich zu erinnern, wie in ganz Rußland
alles, was Anspruch auf Bildung, auf Stellung in der Gesellschaft machte,
allerlei Sprachen, nur nicht die russische sprach. Vor zwanzig Jahren, vor
vierzig war man noch natürlich, naiv und gestand offen ein, daß man als
Russe hinter der europäischen Kulturwelt zurückstehe. Mau hatte Ehrfurcht
vor der Kultur, mau blickte zu Engländern, Franzosen, Deutschen, Italienern
als zu höher stehenden Völkern empor und suchte sie und ihr Wirken für sich,
für Rußland nutzbar zu machen: Fremde und Fremdes war in Rußland von
jedermann geehrt und herbeigesehnt, die Dinge gingen ihren natürlichen Gang
der Entwicklung, und nur der Staat erhob in Dingen der äußern Politik die
Ansprüche eines mit dem Westen paritätischen Knlturstaatcs. Dann begann
die slawvphile Presse ihre Belehrung: nicht Nußland habe zu lernen von Europa,
sondern der faule Westen habe künftig die Führung dem jugendlich starken
Slawentum abzutreten. Das war die Verherrlichung der nationale!? „Kraft,"
wie sie Solowjew kennzeichnet. Und man redete sich so weit in die Selbst¬
verherrlichung hinein, daß heute Iwan der Grausame zum Nationalhelden ge¬
worden ist und Solowjew mit Recht dein heutigen Slawistentum den Vorwarf
macht, die Barbarei als nationale Tugend zu verehren.

So weit ist es in Rußland gekommen, nachdem die Nationalität an sich,
abgesehen von Kultur und innerer Tüchtigkeit, ans den Thron erhoben worden
ist. Diesem starren, zerstörenden Nationalismus, diesem lähmenden Selbst-
betruge wird die politische Kraft und die natürliche Kulturentwicklung geopfert,
in ihm sucht der Einzelne, wie Slonimski sagt, sein soziales Bedürfnis nach
Zusammenschluß mit andern zu befriedigen und fällt dabei ins Leere. Gerade
weil die soziale Gliederung fast gänzlich dein russische» Volke fehlt, hat die
nationale Idee bei ihm solche Bedeutung gewonnen; weil dieses Volk nur den
einen sozialen Verband der bäuerlichen Dorfgemeinde besitzt, erscheint ihm
dieser nächst der Nation selbst als das zweite nationale Heiligtum. Der
kulturlose Dorfbauer hier, und der haltlose Individualismus der gouvernementalen
Menge dort — das sind vollkommene Gegensätze. Seit die Teilfürsten ver¬
schwanden, ist außer der Dorfgemeinde das Nusseutum eine soziale Wüste
gewesen, und dies war ein Hauptgrund seines Kulturstillstandes, denn seit
tausend Jahren warten wir, wie Dahn in seiner Urgeschichte der Germanen
und Romanen beißend bemerkt, „nicht ohne Neugier" auf die kommende russische
Kultur. Heute ist der Staat nur haltbar, solange er eine solche Wüste bleibt,
und es ist ein kluger Gedanke, vielmehr ein richtiger Instinkt, diese soziale
Wüste zum Inhalt des nationalen Chauvinismus zu machen. Im Namen
dieses Nationalismus wird zerbrochen, was noch außer der Dorfgemeinde
irgend soziale Form lind Gliederung im Volke hat, und jede soziale Ver-


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[0178] Der Nationalismus Es ist von großem Interesse, zu verfolgen, wie sich dieser russische Staats- chauvinismus allmählich zu seiner jetzigen Höhe hinaufgearbeitet hat. Man braucht noch nicht alt zu sein, um sich zu erinnern, wie in ganz Rußland alles, was Anspruch auf Bildung, auf Stellung in der Gesellschaft machte, allerlei Sprachen, nur nicht die russische sprach. Vor zwanzig Jahren, vor vierzig war man noch natürlich, naiv und gestand offen ein, daß man als Russe hinter der europäischen Kulturwelt zurückstehe. Mau hatte Ehrfurcht vor der Kultur, mau blickte zu Engländern, Franzosen, Deutschen, Italienern als zu höher stehenden Völkern empor und suchte sie und ihr Wirken für sich, für Rußland nutzbar zu machen: Fremde und Fremdes war in Rußland von jedermann geehrt und herbeigesehnt, die Dinge gingen ihren natürlichen Gang der Entwicklung, und nur der Staat erhob in Dingen der äußern Politik die Ansprüche eines mit dem Westen paritätischen Knlturstaatcs. Dann begann die slawvphile Presse ihre Belehrung: nicht Nußland habe zu lernen von Europa, sondern der faule Westen habe künftig die Führung dem jugendlich starken Slawentum abzutreten. Das war die Verherrlichung der nationale!? „Kraft," wie sie Solowjew kennzeichnet. Und man redete sich so weit in die Selbst¬ verherrlichung hinein, daß heute Iwan der Grausame zum Nationalhelden ge¬ worden ist und Solowjew mit Recht dein heutigen Slawistentum den Vorwarf macht, die Barbarei als nationale Tugend zu verehren. So weit ist es in Rußland gekommen, nachdem die Nationalität an sich, abgesehen von Kultur und innerer Tüchtigkeit, ans den Thron erhoben worden ist. Diesem starren, zerstörenden Nationalismus, diesem lähmenden Selbst- betruge wird die politische Kraft und die natürliche Kulturentwicklung geopfert, in ihm sucht der Einzelne, wie Slonimski sagt, sein soziales Bedürfnis nach Zusammenschluß mit andern zu befriedigen und fällt dabei ins Leere. Gerade weil die soziale Gliederung fast gänzlich dein russische» Volke fehlt, hat die nationale Idee bei ihm solche Bedeutung gewonnen; weil dieses Volk nur den einen sozialen Verband der bäuerlichen Dorfgemeinde besitzt, erscheint ihm dieser nächst der Nation selbst als das zweite nationale Heiligtum. Der kulturlose Dorfbauer hier, und der haltlose Individualismus der gouvernementalen Menge dort — das sind vollkommene Gegensätze. Seit die Teilfürsten ver¬ schwanden, ist außer der Dorfgemeinde das Nusseutum eine soziale Wüste gewesen, und dies war ein Hauptgrund seines Kulturstillstandes, denn seit tausend Jahren warten wir, wie Dahn in seiner Urgeschichte der Germanen und Romanen beißend bemerkt, „nicht ohne Neugier" auf die kommende russische Kultur. Heute ist der Staat nur haltbar, solange er eine solche Wüste bleibt, und es ist ein kluger Gedanke, vielmehr ein richtiger Instinkt, diese soziale Wüste zum Inhalt des nationalen Chauvinismus zu machen. Im Namen dieses Nationalismus wird zerbrochen, was noch außer der Dorfgemeinde irgend soziale Form lind Gliederung im Volke hat, und jede soziale Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/178>, abgerufen am 24.07.2024.