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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Der Rationalismus

Wesen und trägt hente noch dieses Gepräge; der Osten hat mit unsrer ge¬
schichtlichen Entwicklung bis vor zwei Jahrhunderten fast nichts zu thun
gehabt und ist deshalb anders geworden als wir. In Europa hat sich die
Kultur von innen heraus entwickelt: aus dein Kloster, der Stadtgemeinde,
dem Fürstenhof, aus den tausend kleinen und festen Körpern der Stände,
Zünfte, Gemeinden heraus. Das Mittelalter, das von Thoren nicht ver¬
standene und deshalb verspottete, ist die Heimat unsrer Kultur; der einzelne
Ritter, Bürger, Klosterbruder, diese Rittersbnrg, jene Genossenschaft, jenes
Kloster, kurz die kleinen und kleinsten Elemente des staatlich-gesellschaftlichen
Baues, sie waren die Saugorgane, die den Bildungsstoff aufnahmen, ver¬
arbeiteten und allmählich das Ganze, Volk und Staat damit erfüllten. Ru߬
land, d. h. nicht das Rußland Petersburgs, uoch das Nußland Moskaus,
souderu das alte Nußland Kiews und der ersten Jahrhunderte der norman-
nischen Herrschaft, dieses hat eine ähnliche Entwicklung begonnen wie Europa.
Als Rußland ein Föderativstaat nnter fünfzig, sechzig, siebzig kleinen norman¬
nischen Fürsten war, fingen manche dieser kleinen Höfe an, ähnliche Snug-
orgaue der Kultur zu werden, wie es die Burgen, Klöster und Höfe des
Westens wnreu. Daun kamen die Mongole". Aber mehr als diese, zerstörte
der dnrch sie und im Kampfe mit ihnen emporgekommene moskowitische Ein¬
heitsstaat jene Pflanzstätten der Kultur. Nicht so sehr die Herrschaft der
Mongolen, denen es hauptsächlich um den Tribut zu thun war, als die nach¬
folgende Herrschaft Moskaus, war das furchtbar kulturvernichtende Joch, das
sich auf Rußland legte. Die Russen haben mit Unrecht die eigne schwere
Schuld auf die Mongolen abzuwälzen gesucht. Im sechzehnten Jahrhundert
stand Rußland Europa ferner als im elften und zwölften, nicht weil die
Mongolen, sondern weil die Großfürsten von Moskau alle und jede selbständige
Regung im Lande niedergetreten hatten. Dann kam Peter I. mit seiner Art
von Kultur, um diesen durch Moskau entseelten Körper zu beleben. Er war
ein Doktor Eisenbart, ebenso despotisch wie seine Vorgänger, die Wüteriche
Iwan III. und Iwan IV., aber mit andern Zielen. Diese mordeten und
Peitschten das Volk zum Sterben, Peter mordete und peitschte es zum Leben;
diese wüteten für sich, Peter wütete für die Zivilisation, freilich so, wie er sie
eben verstand. Von oben herab, nicht von unten hinauf, von dem eiuen
Mittelpunkt aus, nicht von unzähligen im Lande verstreuten Punkten, wie in
Europa, begann die neue Kultur. Und so ist es im wesentlichen bis auf den
heutigen Tag geblieben. Die unglückliche, auf einer Knltnrlüge beruhende
äußere politische Stellung Rußlands trägt die Hauptschuld an dieser Er¬
scheinung, daß die Kultur, um einmal am falschen Ende begonnen, den falschen
Gang fortgesetzt zu gehen strebt. Hierin liegt ein Gegensatz, und vielleicht der
klaffendste Gegensatz zu Europa, ein Gegensatz, der Ursache und Wirkung darin
zugleich umschließt, daß Rußland vergeblich nach Erlösung aus seiner Erstar-


Der Rationalismus

Wesen und trägt hente noch dieses Gepräge; der Osten hat mit unsrer ge¬
schichtlichen Entwicklung bis vor zwei Jahrhunderten fast nichts zu thun
gehabt und ist deshalb anders geworden als wir. In Europa hat sich die
Kultur von innen heraus entwickelt: aus dein Kloster, der Stadtgemeinde,
dem Fürstenhof, aus den tausend kleinen und festen Körpern der Stände,
Zünfte, Gemeinden heraus. Das Mittelalter, das von Thoren nicht ver¬
standene und deshalb verspottete, ist die Heimat unsrer Kultur; der einzelne
Ritter, Bürger, Klosterbruder, diese Rittersbnrg, jene Genossenschaft, jenes
Kloster, kurz die kleinen und kleinsten Elemente des staatlich-gesellschaftlichen
Baues, sie waren die Saugorgane, die den Bildungsstoff aufnahmen, ver¬
arbeiteten und allmählich das Ganze, Volk und Staat damit erfüllten. Ru߬
land, d. h. nicht das Rußland Petersburgs, uoch das Nußland Moskaus,
souderu das alte Nußland Kiews und der ersten Jahrhunderte der norman-
nischen Herrschaft, dieses hat eine ähnliche Entwicklung begonnen wie Europa.
Als Rußland ein Föderativstaat nnter fünfzig, sechzig, siebzig kleinen norman¬
nischen Fürsten war, fingen manche dieser kleinen Höfe an, ähnliche Snug-
orgaue der Kultur zu werden, wie es die Burgen, Klöster und Höfe des
Westens wnreu. Daun kamen die Mongole». Aber mehr als diese, zerstörte
der dnrch sie und im Kampfe mit ihnen emporgekommene moskowitische Ein¬
heitsstaat jene Pflanzstätten der Kultur. Nicht so sehr die Herrschaft der
Mongolen, denen es hauptsächlich um den Tribut zu thun war, als die nach¬
folgende Herrschaft Moskaus, war das furchtbar kulturvernichtende Joch, das
sich auf Rußland legte. Die Russen haben mit Unrecht die eigne schwere
Schuld auf die Mongolen abzuwälzen gesucht. Im sechzehnten Jahrhundert
stand Rußland Europa ferner als im elften und zwölften, nicht weil die
Mongolen, sondern weil die Großfürsten von Moskau alle und jede selbständige
Regung im Lande niedergetreten hatten. Dann kam Peter I. mit seiner Art
von Kultur, um diesen durch Moskau entseelten Körper zu beleben. Er war
ein Doktor Eisenbart, ebenso despotisch wie seine Vorgänger, die Wüteriche
Iwan III. und Iwan IV., aber mit andern Zielen. Diese mordeten und
Peitschten das Volk zum Sterben, Peter mordete und peitschte es zum Leben;
diese wüteten für sich, Peter wütete für die Zivilisation, freilich so, wie er sie
eben verstand. Von oben herab, nicht von unten hinauf, von dem eiuen
Mittelpunkt aus, nicht von unzähligen im Lande verstreuten Punkten, wie in
Europa, begann die neue Kultur. Und so ist es im wesentlichen bis auf den
heutigen Tag geblieben. Die unglückliche, auf einer Knltnrlüge beruhende
äußere politische Stellung Rußlands trägt die Hauptschuld an dieser Er¬
scheinung, daß die Kultur, um einmal am falschen Ende begonnen, den falschen
Gang fortgesetzt zu gehen strebt. Hierin liegt ein Gegensatz, und vielleicht der
klaffendste Gegensatz zu Europa, ein Gegensatz, der Ursache und Wirkung darin
zugleich umschließt, daß Rußland vergeblich nach Erlösung aus seiner Erstar-


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[0175] Der Rationalismus Wesen und trägt hente noch dieses Gepräge; der Osten hat mit unsrer ge¬ schichtlichen Entwicklung bis vor zwei Jahrhunderten fast nichts zu thun gehabt und ist deshalb anders geworden als wir. In Europa hat sich die Kultur von innen heraus entwickelt: aus dein Kloster, der Stadtgemeinde, dem Fürstenhof, aus den tausend kleinen und festen Körpern der Stände, Zünfte, Gemeinden heraus. Das Mittelalter, das von Thoren nicht ver¬ standene und deshalb verspottete, ist die Heimat unsrer Kultur; der einzelne Ritter, Bürger, Klosterbruder, diese Rittersbnrg, jene Genossenschaft, jenes Kloster, kurz die kleinen und kleinsten Elemente des staatlich-gesellschaftlichen Baues, sie waren die Saugorgane, die den Bildungsstoff aufnahmen, ver¬ arbeiteten und allmählich das Ganze, Volk und Staat damit erfüllten. Ru߬ land, d. h. nicht das Rußland Petersburgs, uoch das Nußland Moskaus, souderu das alte Nußland Kiews und der ersten Jahrhunderte der norman- nischen Herrschaft, dieses hat eine ähnliche Entwicklung begonnen wie Europa. Als Rußland ein Föderativstaat nnter fünfzig, sechzig, siebzig kleinen norman¬ nischen Fürsten war, fingen manche dieser kleinen Höfe an, ähnliche Snug- orgaue der Kultur zu werden, wie es die Burgen, Klöster und Höfe des Westens wnreu. Daun kamen die Mongole». Aber mehr als diese, zerstörte der dnrch sie und im Kampfe mit ihnen emporgekommene moskowitische Ein¬ heitsstaat jene Pflanzstätten der Kultur. Nicht so sehr die Herrschaft der Mongolen, denen es hauptsächlich um den Tribut zu thun war, als die nach¬ folgende Herrschaft Moskaus, war das furchtbar kulturvernichtende Joch, das sich auf Rußland legte. Die Russen haben mit Unrecht die eigne schwere Schuld auf die Mongolen abzuwälzen gesucht. Im sechzehnten Jahrhundert stand Rußland Europa ferner als im elften und zwölften, nicht weil die Mongolen, sondern weil die Großfürsten von Moskau alle und jede selbständige Regung im Lande niedergetreten hatten. Dann kam Peter I. mit seiner Art von Kultur, um diesen durch Moskau entseelten Körper zu beleben. Er war ein Doktor Eisenbart, ebenso despotisch wie seine Vorgänger, die Wüteriche Iwan III. und Iwan IV., aber mit andern Zielen. Diese mordeten und Peitschten das Volk zum Sterben, Peter mordete und peitschte es zum Leben; diese wüteten für sich, Peter wütete für die Zivilisation, freilich so, wie er sie eben verstand. Von oben herab, nicht von unten hinauf, von dem eiuen Mittelpunkt aus, nicht von unzähligen im Lande verstreuten Punkten, wie in Europa, begann die neue Kultur. Und so ist es im wesentlichen bis auf den heutigen Tag geblieben. Die unglückliche, auf einer Knltnrlüge beruhende äußere politische Stellung Rußlands trägt die Hauptschuld an dieser Er¬ scheinung, daß die Kultur, um einmal am falschen Ende begonnen, den falschen Gang fortgesetzt zu gehen strebt. Hierin liegt ein Gegensatz, und vielleicht der klaffendste Gegensatz zu Europa, ein Gegensatz, der Ursache und Wirkung darin zugleich umschließt, daß Rußland vergeblich nach Erlösung aus seiner Erstar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/175>, abgerufen am 24.07.2024.