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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Der Nationalismus

Worden ist. Ein Kulturvolk hängt an seiner Kultur ebenso fest, ja fester als
der Wilde an Leib und Leben; die Arbeit und Mühe von Jahrhunderten ist
dem Kulturmenschen ein höherer Schatz als dem Wilden sein Jagdgrund, sein
Götzenbild, sein Acker. Der Eroberungszug der Türken durch die alte Kultur-
welt war sicherlich eine weit fürchterlichere nationale Gewaltthat, als die Unter¬
jochung Rußlands durch die Mongolen. Denn ein Kulturvolk verwindet weit
eher den Verlust vou großen Mengen seiner Angehörigen, als den Verlust an
seinen nationalen Kultnrschövfnngen. Die Mongolen erschlugen viele Slawen,
zerstörten Dörfer und Städte, aber sie ließen die Unterworfenen in ihrer Weise
das Zerstörte wieder aufbauen, sie hemmten den Gang des nationalen Lebens
im Innern nicht, sie brachten ihm vielmehr vielfache neue Anregung, manchen
Kulturstoff hinzu. Die Türken vernichteten die Kultur überall, wo sie hin¬
kamen, und setzten eine weit geringere an die Stelle. Das aber, in seiner
Kulturarbeit gewaltsam unterbrochen zu werden, seinen Kulturbesitz zerstört zu
sehen, ist -- ich wiederhole es -- das härteste Geschick, das ein Volk treffen
kann. Der Unterjochte haßt weniger den Fremden, als das Fremde, das dieser
ihm aufzwingt; er haßt es doppelt und dreifach stärker, wenn dieses Fremde
in niedern Knlturformcn besteht, die höheres Kulturleben des Unterjochten ver¬
drängen. Je weiter entwickelt die Kultur eines Volkes ist, desto empfindlicher
ist es gegen gewaltsamen Eingriff.

Sehr lehrreich ist die Geschichte Rußlands in diesem Sinne. Die Slawen
von Kiew waren um das Jahr 1000 ein unter normannischer Leitung auf¬
strebendes Kulturvolk, das begann, seine Sprache, Religion und Ordnung nach
Osten hin zu verbreiten. Die Slawisirnng des finnisch-türkisch-mongolischen
Gebietes, das heute Großrußland heißt, ging, wenn wir den Quellen glauben
dürfen, ohne die erbitterten Kämpfe vor sich, in denen z. V. die germanischen
Stämme ihre Freiheit und ihre Götter gegen das vordringende Römcrtum
und später gegen die fränkisch-romanische Macht und das Christentum ver¬
teidigten. Der weiche Charakter jeuer östlichen Völker und ihre völlige Roheit
erleichterten ihre Entuativnalisirnug, die sich noch heute in friedlichster Weise
fortsetzt, indem an der Wolga und am Ural ein finnisches oder mongolisches
Dorf nach dem andern national aufgesogen wird. Wo die Slawen auf höhere
Kultur stießen, wie bei den Bulgaren am Ural, da gab es einen Kampf auf
Leben und Tod. Rußland tritt seit Jahrzehnten in Asien als Vermittler
europäischer Kultur auf, und wo es wirklich als Kulturträger handelt, wo es
staatliche Ordnung an die Stelle von Naubwesen oder roher Tyrannei, wo
es Ackerwirtschaft an die Stelle von nomadischer Viehwirtschaft setzt, wo es
Industrien und Straßen errichtet, wo es Justiz und Polizei einführt zur
Steuer von Rechtlosigkeit und Gewalt, da fügt sich der Asiate leicht der
fremden Herrschaft. Freilich ist auch dort, besonders im .Kaukasus, dessen
Stämme dem Großrussen an Kraft und Selbständigkeit überlegen sind, der


Grenzwteil 11 1891 22
Der Nationalismus

Worden ist. Ein Kulturvolk hängt an seiner Kultur ebenso fest, ja fester als
der Wilde an Leib und Leben; die Arbeit und Mühe von Jahrhunderten ist
dem Kulturmenschen ein höherer Schatz als dem Wilden sein Jagdgrund, sein
Götzenbild, sein Acker. Der Eroberungszug der Türken durch die alte Kultur-
welt war sicherlich eine weit fürchterlichere nationale Gewaltthat, als die Unter¬
jochung Rußlands durch die Mongolen. Denn ein Kulturvolk verwindet weit
eher den Verlust vou großen Mengen seiner Angehörigen, als den Verlust an
seinen nationalen Kultnrschövfnngen. Die Mongolen erschlugen viele Slawen,
zerstörten Dörfer und Städte, aber sie ließen die Unterworfenen in ihrer Weise
das Zerstörte wieder aufbauen, sie hemmten den Gang des nationalen Lebens
im Innern nicht, sie brachten ihm vielmehr vielfache neue Anregung, manchen
Kulturstoff hinzu. Die Türken vernichteten die Kultur überall, wo sie hin¬
kamen, und setzten eine weit geringere an die Stelle. Das aber, in seiner
Kulturarbeit gewaltsam unterbrochen zu werden, seinen Kulturbesitz zerstört zu
sehen, ist — ich wiederhole es — das härteste Geschick, das ein Volk treffen
kann. Der Unterjochte haßt weniger den Fremden, als das Fremde, das dieser
ihm aufzwingt; er haßt es doppelt und dreifach stärker, wenn dieses Fremde
in niedern Knlturformcn besteht, die höheres Kulturleben des Unterjochten ver¬
drängen. Je weiter entwickelt die Kultur eines Volkes ist, desto empfindlicher
ist es gegen gewaltsamen Eingriff.

Sehr lehrreich ist die Geschichte Rußlands in diesem Sinne. Die Slawen
von Kiew waren um das Jahr 1000 ein unter normannischer Leitung auf¬
strebendes Kulturvolk, das begann, seine Sprache, Religion und Ordnung nach
Osten hin zu verbreiten. Die Slawisirnng des finnisch-türkisch-mongolischen
Gebietes, das heute Großrußland heißt, ging, wenn wir den Quellen glauben
dürfen, ohne die erbitterten Kämpfe vor sich, in denen z. V. die germanischen
Stämme ihre Freiheit und ihre Götter gegen das vordringende Römcrtum
und später gegen die fränkisch-romanische Macht und das Christentum ver¬
teidigten. Der weiche Charakter jeuer östlichen Völker und ihre völlige Roheit
erleichterten ihre Entuativnalisirnug, die sich noch heute in friedlichster Weise
fortsetzt, indem an der Wolga und am Ural ein finnisches oder mongolisches
Dorf nach dem andern national aufgesogen wird. Wo die Slawen auf höhere
Kultur stießen, wie bei den Bulgaren am Ural, da gab es einen Kampf auf
Leben und Tod. Rußland tritt seit Jahrzehnten in Asien als Vermittler
europäischer Kultur auf, und wo es wirklich als Kulturträger handelt, wo es
staatliche Ordnung an die Stelle von Naubwesen oder roher Tyrannei, wo
es Ackerwirtschaft an die Stelle von nomadischer Viehwirtschaft setzt, wo es
Industrien und Straßen errichtet, wo es Justiz und Polizei einführt zur
Steuer von Rechtlosigkeit und Gewalt, da fügt sich der Asiate leicht der
fremden Herrschaft. Freilich ist auch dort, besonders im .Kaukasus, dessen
Stämme dem Großrussen an Kraft und Selbständigkeit überlegen sind, der


Grenzwteil 11 1891 22
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[0173] Der Nationalismus Worden ist. Ein Kulturvolk hängt an seiner Kultur ebenso fest, ja fester als der Wilde an Leib und Leben; die Arbeit und Mühe von Jahrhunderten ist dem Kulturmenschen ein höherer Schatz als dem Wilden sein Jagdgrund, sein Götzenbild, sein Acker. Der Eroberungszug der Türken durch die alte Kultur- welt war sicherlich eine weit fürchterlichere nationale Gewaltthat, als die Unter¬ jochung Rußlands durch die Mongolen. Denn ein Kulturvolk verwindet weit eher den Verlust vou großen Mengen seiner Angehörigen, als den Verlust an seinen nationalen Kultnrschövfnngen. Die Mongolen erschlugen viele Slawen, zerstörten Dörfer und Städte, aber sie ließen die Unterworfenen in ihrer Weise das Zerstörte wieder aufbauen, sie hemmten den Gang des nationalen Lebens im Innern nicht, sie brachten ihm vielmehr vielfache neue Anregung, manchen Kulturstoff hinzu. Die Türken vernichteten die Kultur überall, wo sie hin¬ kamen, und setzten eine weit geringere an die Stelle. Das aber, in seiner Kulturarbeit gewaltsam unterbrochen zu werden, seinen Kulturbesitz zerstört zu sehen, ist — ich wiederhole es — das härteste Geschick, das ein Volk treffen kann. Der Unterjochte haßt weniger den Fremden, als das Fremde, das dieser ihm aufzwingt; er haßt es doppelt und dreifach stärker, wenn dieses Fremde in niedern Knlturformcn besteht, die höheres Kulturleben des Unterjochten ver¬ drängen. Je weiter entwickelt die Kultur eines Volkes ist, desto empfindlicher ist es gegen gewaltsamen Eingriff. Sehr lehrreich ist die Geschichte Rußlands in diesem Sinne. Die Slawen von Kiew waren um das Jahr 1000 ein unter normannischer Leitung auf¬ strebendes Kulturvolk, das begann, seine Sprache, Religion und Ordnung nach Osten hin zu verbreiten. Die Slawisirnng des finnisch-türkisch-mongolischen Gebietes, das heute Großrußland heißt, ging, wenn wir den Quellen glauben dürfen, ohne die erbitterten Kämpfe vor sich, in denen z. V. die germanischen Stämme ihre Freiheit und ihre Götter gegen das vordringende Römcrtum und später gegen die fränkisch-romanische Macht und das Christentum ver¬ teidigten. Der weiche Charakter jeuer östlichen Völker und ihre völlige Roheit erleichterten ihre Entuativnalisirnug, die sich noch heute in friedlichster Weise fortsetzt, indem an der Wolga und am Ural ein finnisches oder mongolisches Dorf nach dem andern national aufgesogen wird. Wo die Slawen auf höhere Kultur stießen, wie bei den Bulgaren am Ural, da gab es einen Kampf auf Leben und Tod. Rußland tritt seit Jahrzehnten in Asien als Vermittler europäischer Kultur auf, und wo es wirklich als Kulturträger handelt, wo es staatliche Ordnung an die Stelle von Naubwesen oder roher Tyrannei, wo es Ackerwirtschaft an die Stelle von nomadischer Viehwirtschaft setzt, wo es Industrien und Straßen errichtet, wo es Justiz und Polizei einführt zur Steuer von Rechtlosigkeit und Gewalt, da fügt sich der Asiate leicht der fremden Herrschaft. Freilich ist auch dort, besonders im .Kaukasus, dessen Stämme dem Großrussen an Kraft und Selbständigkeit überlegen sind, der Grenzwteil 11 1891 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/173>, abgerufen am 24.07.2024.