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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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ereignisse, verloren zu haben scheine" und in einem kümmerlichen 5lritizismns
von Kleinigkeiten und Einzelheiten die Blüte der wissenschaftlichen Thätigkeit
erblicken. Dieser mit glänzendem Scharfsinn geführte Kampf des Verfassers
gegen die kritische Scholastik, gegen die sich breitmachende Geistlosigkeit, gegen
die feige, idem- und gefühlsarme Spezialistenherrschaft in der Wissenschaft
giebt seinein Werke das Gepräge; dieser Kampf ist das Gewitter, von dem
wir sprachen. Wie der leider vielfach so schwülstige Rembrandt-Deutsche, ruft
Lorenz die Deutschen seines Berufs zur Besinnung und stellt ihnen die Kleinheit
ihrer Auffassung im Angesicht der Größe der Aufgabe recht drastisch vor
Augen. Aber uicht sowohl in dieser fo glänzenden Polemik, als in der
positiven Begründung der wahre" Aufgaben der Geschichtswissenschaft, in der
Grundlegung für alle wissenschaftliche historische Arbeit liegt die Größe des
Lorenzschen Buches, und davon wollen wir hier eine gedrängte Skizze entwerfen.

Es handelt sich zuvörderst um die Erkenntnis des wahren Grundes unsers
durch gar keine Verirrung und Langeweile der Gelehrten zerstörbaren Interesses
an der Geschichte. Wenn wir Naturwissenschaften, sei es Chemie oder Phhsik
oder gar Medizin betreiben, so ist der Zweck dieser so gewaltig gediehenen
gelehrten Arbeit dem schlichtesten Verstande faßlich: die Kenntnis der Natur
und ihrer Kräfte ist unmittelbar nützlich. Die Naturwissenschaft macht den
Menschen zum Herrn der Welt, sie hilft ihm, sein Leben zu verbessern, zu
erleichtern, zu erhöhen. Nicht so unmittelbar einleuchtend ist der Wert und
der Zweck der Geschichtsforschung, so allgemein verbreitet auch, natürlich in
sehr großen Abstufungen, das Interesse an den geschichtlichen Dingen sein
mag. Historischer Sinn ist ohne Zweifel eine allgemeine Eigenschaft der
menschlichen Natur, und er ist um so lebendiger, je lebhafter sich der Mensch
als ein politisches Wesen fühlt, als Mitglied einer Gemeinschaft, von der sein
Gedeihe" und Nichtgedeihen abhängt. Der historische Sinn offenbart sich schon
in der Wißbegier des Kindes über die Art und Weise, wie Vater und Mutter
sich vereinigt haben, wie der Großvater beschaffen war, wie alles gekommen
ist, daß alles jetzt so und uicht anders ist. Je mehr der Mensch am Leben
der Gemeinschaft Anteil nimmt, je mehr er sich als politisches Wesen stehlt,
um so lebhafter werden seine historischen Bedürfnisse sein; mau sieht das um
deutlichsten beim Adel, der mit seinem reicheren historischen Bewußtsein anch
einen stärkeren politischen Charakter offenbart. Diese Bedürfnisse zu befriedigen
ist Aufgabe der Wissenschaft. Sie hat also ihren natürlichen Ausgangspunkt
von dem Gefühl der Gegenwart, von den modernen Zuständen, deren Ent¬
stehen sie begreiflich oder vielmehr anschaulich verständlich in der Form des
Werdens macheu soll. Aus dieser Grundthatsache und Grundaufgabe ergebe"
sich nten eine Anzahl Folgerungen, u. a. auch die, daß der Historiker in seiner
eignen Zeit den Maßstab für die Vergangenheit findet; daß der erste Ge¬
schichtsunterricht ein nationaler, vaterländischer sein muß, denn in dein po-


ereignisse, verloren zu haben scheine» und in einem kümmerlichen 5lritizismns
von Kleinigkeiten und Einzelheiten die Blüte der wissenschaftlichen Thätigkeit
erblicken. Dieser mit glänzendem Scharfsinn geführte Kampf des Verfassers
gegen die kritische Scholastik, gegen die sich breitmachende Geistlosigkeit, gegen
die feige, idem- und gefühlsarme Spezialistenherrschaft in der Wissenschaft
giebt seinein Werke das Gepräge; dieser Kampf ist das Gewitter, von dem
wir sprachen. Wie der leider vielfach so schwülstige Rembrandt-Deutsche, ruft
Lorenz die Deutschen seines Berufs zur Besinnung und stellt ihnen die Kleinheit
ihrer Auffassung im Angesicht der Größe der Aufgabe recht drastisch vor
Augen. Aber uicht sowohl in dieser fo glänzenden Polemik, als in der
positiven Begründung der wahre» Aufgaben der Geschichtswissenschaft, in der
Grundlegung für alle wissenschaftliche historische Arbeit liegt die Größe des
Lorenzschen Buches, und davon wollen wir hier eine gedrängte Skizze entwerfen.

Es handelt sich zuvörderst um die Erkenntnis des wahren Grundes unsers
durch gar keine Verirrung und Langeweile der Gelehrten zerstörbaren Interesses
an der Geschichte. Wenn wir Naturwissenschaften, sei es Chemie oder Phhsik
oder gar Medizin betreiben, so ist der Zweck dieser so gewaltig gediehenen
gelehrten Arbeit dem schlichtesten Verstande faßlich: die Kenntnis der Natur
und ihrer Kräfte ist unmittelbar nützlich. Die Naturwissenschaft macht den
Menschen zum Herrn der Welt, sie hilft ihm, sein Leben zu verbessern, zu
erleichtern, zu erhöhen. Nicht so unmittelbar einleuchtend ist der Wert und
der Zweck der Geschichtsforschung, so allgemein verbreitet auch, natürlich in
sehr großen Abstufungen, das Interesse an den geschichtlichen Dingen sein
mag. Historischer Sinn ist ohne Zweifel eine allgemeine Eigenschaft der
menschlichen Natur, und er ist um so lebendiger, je lebhafter sich der Mensch
als ein politisches Wesen fühlt, als Mitglied einer Gemeinschaft, von der sein
Gedeihe» und Nichtgedeihen abhängt. Der historische Sinn offenbart sich schon
in der Wißbegier des Kindes über die Art und Weise, wie Vater und Mutter
sich vereinigt haben, wie der Großvater beschaffen war, wie alles gekommen
ist, daß alles jetzt so und uicht anders ist. Je mehr der Mensch am Leben
der Gemeinschaft Anteil nimmt, je mehr er sich als politisches Wesen stehlt,
um so lebhafter werden seine historischen Bedürfnisse sein; mau sieht das um
deutlichsten beim Adel, der mit seinem reicheren historischen Bewußtsein anch
einen stärkeren politischen Charakter offenbart. Diese Bedürfnisse zu befriedigen
ist Aufgabe der Wissenschaft. Sie hat also ihren natürlichen Ausgangspunkt
von dem Gefühl der Gegenwart, von den modernen Zuständen, deren Ent¬
stehen sie begreiflich oder vielmehr anschaulich verständlich in der Form des
Werdens macheu soll. Aus dieser Grundthatsache und Grundaufgabe ergebe»
sich nten eine Anzahl Folgerungen, u. a. auch die, daß der Historiker in seiner
eignen Zeit den Maßstab für die Vergangenheit findet; daß der erste Ge¬
schichtsunterricht ein nationaler, vaterländischer sein muß, denn in dein po-


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[0142] ereignisse, verloren zu haben scheine» und in einem kümmerlichen 5lritizismns von Kleinigkeiten und Einzelheiten die Blüte der wissenschaftlichen Thätigkeit erblicken. Dieser mit glänzendem Scharfsinn geführte Kampf des Verfassers gegen die kritische Scholastik, gegen die sich breitmachende Geistlosigkeit, gegen die feige, idem- und gefühlsarme Spezialistenherrschaft in der Wissenschaft giebt seinein Werke das Gepräge; dieser Kampf ist das Gewitter, von dem wir sprachen. Wie der leider vielfach so schwülstige Rembrandt-Deutsche, ruft Lorenz die Deutschen seines Berufs zur Besinnung und stellt ihnen die Kleinheit ihrer Auffassung im Angesicht der Größe der Aufgabe recht drastisch vor Augen. Aber uicht sowohl in dieser fo glänzenden Polemik, als in der positiven Begründung der wahre» Aufgaben der Geschichtswissenschaft, in der Grundlegung für alle wissenschaftliche historische Arbeit liegt die Größe des Lorenzschen Buches, und davon wollen wir hier eine gedrängte Skizze entwerfen. Es handelt sich zuvörderst um die Erkenntnis des wahren Grundes unsers durch gar keine Verirrung und Langeweile der Gelehrten zerstörbaren Interesses an der Geschichte. Wenn wir Naturwissenschaften, sei es Chemie oder Phhsik oder gar Medizin betreiben, so ist der Zweck dieser so gewaltig gediehenen gelehrten Arbeit dem schlichtesten Verstande faßlich: die Kenntnis der Natur und ihrer Kräfte ist unmittelbar nützlich. Die Naturwissenschaft macht den Menschen zum Herrn der Welt, sie hilft ihm, sein Leben zu verbessern, zu erleichtern, zu erhöhen. Nicht so unmittelbar einleuchtend ist der Wert und der Zweck der Geschichtsforschung, so allgemein verbreitet auch, natürlich in sehr großen Abstufungen, das Interesse an den geschichtlichen Dingen sein mag. Historischer Sinn ist ohne Zweifel eine allgemeine Eigenschaft der menschlichen Natur, und er ist um so lebendiger, je lebhafter sich der Mensch als ein politisches Wesen fühlt, als Mitglied einer Gemeinschaft, von der sein Gedeihe» und Nichtgedeihen abhängt. Der historische Sinn offenbart sich schon in der Wißbegier des Kindes über die Art und Weise, wie Vater und Mutter sich vereinigt haben, wie der Großvater beschaffen war, wie alles gekommen ist, daß alles jetzt so und uicht anders ist. Je mehr der Mensch am Leben der Gemeinschaft Anteil nimmt, je mehr er sich als politisches Wesen stehlt, um so lebhafter werden seine historischen Bedürfnisse sein; mau sieht das um deutlichsten beim Adel, der mit seinem reicheren historischen Bewußtsein anch einen stärkeren politischen Charakter offenbart. Diese Bedürfnisse zu befriedigen ist Aufgabe der Wissenschaft. Sie hat also ihren natürlichen Ausgangspunkt von dem Gefühl der Gegenwart, von den modernen Zuständen, deren Ent¬ stehen sie begreiflich oder vielmehr anschaulich verständlich in der Form des Werdens macheu soll. Aus dieser Grundthatsache und Grundaufgabe ergebe» sich nten eine Anzahl Folgerungen, u. a. auch die, daß der Historiker in seiner eignen Zeit den Maßstab für die Vergangenheit findet; daß der erste Ge¬ schichtsunterricht ein nationaler, vaterländischer sein muß, denn in dein po-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/142>, abgerufen am 24.07.2024.