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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Der Nationalismus

sinkt allmählich herab auf jene Stufe, die Jhering die erste Stufe des Rechtes
des Fremden genannt hat: der Fremde ist rechtlos, er wird einfach erschlagen,
weil er uicht zu dem Volle gehört, zu dein er gekommen ist. Das ist die
Stufe vollster Wildheit der Völker. Fast ist man versucht, anzunehmen, daß
uuter deu Großmächten Europas heute uur uoch in der Türkei die Nationalität
unter dein Schutze des Gesetzes stehe. Dort lebt der Fremde -- soweit Koran
und Rassenhaß staatlich gebändigt sind -- ruhig uach seiner Weise, darf seine
Sprache reden, seine Sitte" Pflege", seine Schulen gründen. Ja der Sultan
hat noch im vorigen Jahre bei Gründung eines Armenasyls ausdrücklich be¬
stimmt, daß es für alle ohne Unterschied der Nasse oder des Bekenntnisses
offen stehen solle. Das Europa, das daheim den Fremden verfolgt, sorgt
durch seine konsularischeu Gerichte und seine Diplomaten i" der Türkei dafür,
daß auch der Fremde dort zu seinem Rechte komme. O gewiß, das zivilisirte
Europa ist berufen, darauf zu achten, daß bei dem barbarischen Türken solche
Ungerechtigkeiten nicht vorkommen, wie etwa in Rußland, Deutschland, Frank¬
reich oder Osterreich! Das Enropa des Christentums, der Liebe zu seinem
Nächsten ist verpflichtet, die nationalen Rechte, die es daheim mit Füßen
tritt, gegen den Muselmann zu schützen! Das Europa der Humanität und
Bildung muß dasttr sorgen, daß in Byzanz, Smhrua und Damaskus jeder
Europäer seine Sprache reden, an seinen Gott glauben, seine Schule bauen,
seine bürgerliche Arbeit in seiner nationalen Weise verrichten dürfe. Nur
verlange man von dem "christlichen" Europa uicht, daß es den Balken im
eignen Auge sehe! Ein ergötzliches Lustspiel: die Türkei, eine Zuflucht der
Hmuauitüt wider Willen, und der Großtttrle ein Vorkämpfer der Humanität
aus Überzeugung! Und vielleicht ein andres, ebenso lustiges Stück, das sich
daneben sehen läßt: das Volk Israel als einziges Beispiel nationaler
Freiheit in Europa, ein Idyll des Friedens inmitten des nationalen Kampfes!
Denn wie stark auch der Haß sei, der in deu Völkern gegen die Juden brennt,
so erfreuen sie sich heute doch großer Freiheit in den meisten Ländern: man
stört ihnen den Glauben nicht, noch die Schule, uoch die Sitte, die Sprache;
und während Slawen, Germanen und Romanen um dieser Dinge willen ver¬
folgt werden, gilt es bei all diesen Nationen heute für unwürdig, für unver¬
träglich mit der europäischen Kultur, die Juden um derselben Dinge willen
zu verfolgen. Selbst der Aufenthalt des Juden in einem Staate ist weniger
angefeindet, als der andrer Leute. Man hält es für barbarisch, daß Rußland
noch immer -- wenigstens gesetzlich -- sich dem Eindringen der Juden ver¬
schließt, aber hält es uicht für barbarisch, Germanen, Slawen, Romanen, die
auf dem Boden ihrer Voreltern sitzen, gewaltsam davon zu vertreiben oder
wenigstens so stark zu drücken, daß sie ihn verlassen müssen. Die Synagoge,
der Melemed mit seiner Sprache und Weisheit aus dem vorigen und vor-
vorigen Jahrtausend, die sonderbarsten und wunderlichsten Gebräuche haben


Der Nationalismus

sinkt allmählich herab auf jene Stufe, die Jhering die erste Stufe des Rechtes
des Fremden genannt hat: der Fremde ist rechtlos, er wird einfach erschlagen,
weil er uicht zu dem Volle gehört, zu dein er gekommen ist. Das ist die
Stufe vollster Wildheit der Völker. Fast ist man versucht, anzunehmen, daß
uuter deu Großmächten Europas heute uur uoch in der Türkei die Nationalität
unter dein Schutze des Gesetzes stehe. Dort lebt der Fremde — soweit Koran
und Rassenhaß staatlich gebändigt sind — ruhig uach seiner Weise, darf seine
Sprache reden, seine Sitte» Pflege», seine Schulen gründen. Ja der Sultan
hat noch im vorigen Jahre bei Gründung eines Armenasyls ausdrücklich be¬
stimmt, daß es für alle ohne Unterschied der Nasse oder des Bekenntnisses
offen stehen solle. Das Europa, das daheim den Fremden verfolgt, sorgt
durch seine konsularischeu Gerichte und seine Diplomaten i» der Türkei dafür,
daß auch der Fremde dort zu seinem Rechte komme. O gewiß, das zivilisirte
Europa ist berufen, darauf zu achten, daß bei dem barbarischen Türken solche
Ungerechtigkeiten nicht vorkommen, wie etwa in Rußland, Deutschland, Frank¬
reich oder Osterreich! Das Enropa des Christentums, der Liebe zu seinem
Nächsten ist verpflichtet, die nationalen Rechte, die es daheim mit Füßen
tritt, gegen den Muselmann zu schützen! Das Europa der Humanität und
Bildung muß dasttr sorgen, daß in Byzanz, Smhrua und Damaskus jeder
Europäer seine Sprache reden, an seinen Gott glauben, seine Schule bauen,
seine bürgerliche Arbeit in seiner nationalen Weise verrichten dürfe. Nur
verlange man von dem „christlichen" Europa uicht, daß es den Balken im
eignen Auge sehe! Ein ergötzliches Lustspiel: die Türkei, eine Zuflucht der
Hmuauitüt wider Willen, und der Großtttrle ein Vorkämpfer der Humanität
aus Überzeugung! Und vielleicht ein andres, ebenso lustiges Stück, das sich
daneben sehen läßt: das Volk Israel als einziges Beispiel nationaler
Freiheit in Europa, ein Idyll des Friedens inmitten des nationalen Kampfes!
Denn wie stark auch der Haß sei, der in deu Völkern gegen die Juden brennt,
so erfreuen sie sich heute doch großer Freiheit in den meisten Ländern: man
stört ihnen den Glauben nicht, noch die Schule, uoch die Sitte, die Sprache;
und während Slawen, Germanen und Romanen um dieser Dinge willen ver¬
folgt werden, gilt es bei all diesen Nationen heute für unwürdig, für unver¬
träglich mit der europäischen Kultur, die Juden um derselben Dinge willen
zu verfolgen. Selbst der Aufenthalt des Juden in einem Staate ist weniger
angefeindet, als der andrer Leute. Man hält es für barbarisch, daß Rußland
noch immer — wenigstens gesetzlich — sich dem Eindringen der Juden ver¬
schließt, aber hält es uicht für barbarisch, Germanen, Slawen, Romanen, die
auf dem Boden ihrer Voreltern sitzen, gewaltsam davon zu vertreiben oder
wenigstens so stark zu drücken, daß sie ihn verlassen müssen. Die Synagoge,
der Melemed mit seiner Sprache und Weisheit aus dem vorigen und vor-
vorigen Jahrtausend, die sonderbarsten und wunderlichsten Gebräuche haben


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[0123] Der Nationalismus sinkt allmählich herab auf jene Stufe, die Jhering die erste Stufe des Rechtes des Fremden genannt hat: der Fremde ist rechtlos, er wird einfach erschlagen, weil er uicht zu dem Volle gehört, zu dein er gekommen ist. Das ist die Stufe vollster Wildheit der Völker. Fast ist man versucht, anzunehmen, daß uuter deu Großmächten Europas heute uur uoch in der Türkei die Nationalität unter dein Schutze des Gesetzes stehe. Dort lebt der Fremde — soweit Koran und Rassenhaß staatlich gebändigt sind — ruhig uach seiner Weise, darf seine Sprache reden, seine Sitte» Pflege», seine Schulen gründen. Ja der Sultan hat noch im vorigen Jahre bei Gründung eines Armenasyls ausdrücklich be¬ stimmt, daß es für alle ohne Unterschied der Nasse oder des Bekenntnisses offen stehen solle. Das Europa, das daheim den Fremden verfolgt, sorgt durch seine konsularischeu Gerichte und seine Diplomaten i» der Türkei dafür, daß auch der Fremde dort zu seinem Rechte komme. O gewiß, das zivilisirte Europa ist berufen, darauf zu achten, daß bei dem barbarischen Türken solche Ungerechtigkeiten nicht vorkommen, wie etwa in Rußland, Deutschland, Frank¬ reich oder Osterreich! Das Enropa des Christentums, der Liebe zu seinem Nächsten ist verpflichtet, die nationalen Rechte, die es daheim mit Füßen tritt, gegen den Muselmann zu schützen! Das Europa der Humanität und Bildung muß dasttr sorgen, daß in Byzanz, Smhrua und Damaskus jeder Europäer seine Sprache reden, an seinen Gott glauben, seine Schule bauen, seine bürgerliche Arbeit in seiner nationalen Weise verrichten dürfe. Nur verlange man von dem „christlichen" Europa uicht, daß es den Balken im eignen Auge sehe! Ein ergötzliches Lustspiel: die Türkei, eine Zuflucht der Hmuauitüt wider Willen, und der Großtttrle ein Vorkämpfer der Humanität aus Überzeugung! Und vielleicht ein andres, ebenso lustiges Stück, das sich daneben sehen läßt: das Volk Israel als einziges Beispiel nationaler Freiheit in Europa, ein Idyll des Friedens inmitten des nationalen Kampfes! Denn wie stark auch der Haß sei, der in deu Völkern gegen die Juden brennt, so erfreuen sie sich heute doch großer Freiheit in den meisten Ländern: man stört ihnen den Glauben nicht, noch die Schule, uoch die Sitte, die Sprache; und während Slawen, Germanen und Romanen um dieser Dinge willen ver¬ folgt werden, gilt es bei all diesen Nationen heute für unwürdig, für unver¬ träglich mit der europäischen Kultur, die Juden um derselben Dinge willen zu verfolgen. Selbst der Aufenthalt des Juden in einem Staate ist weniger angefeindet, als der andrer Leute. Man hält es für barbarisch, daß Rußland noch immer — wenigstens gesetzlich — sich dem Eindringen der Juden ver¬ schließt, aber hält es uicht für barbarisch, Germanen, Slawen, Romanen, die auf dem Boden ihrer Voreltern sitzen, gewaltsam davon zu vertreiben oder wenigstens so stark zu drücken, daß sie ihn verlassen müssen. Die Synagoge, der Melemed mit seiner Sprache und Weisheit aus dem vorigen und vor- vorigen Jahrtausend, die sonderbarsten und wunderlichsten Gebräuche haben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/123>, abgerufen am 24.07.2024.