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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Der Nationalismus

Gleichheit vor dem Gesetz -- das galt noch unlängst für einen unantast¬
baren Grundsatz des Kulturstaates. Giebt es heute einen Staat in Europa,
der ihn noch anerkennt? Jahrhundertelang stand der Ketzer, der Anders¬
gläubige außer dem gemeinen Recht. In Spanien, in Rußland unterscheidet
das Gesetz auch heute noch zwischen dem Umfang der Rechte, die dein An¬
hänger der Staatskirche und dem Augehörigen einer andern Konfession zustehen.
Aber wenn in den andern Staaten die religiöse Verfolgung aufgehört hat, so
ist an ihre Stelle die nationale getreten. In Frankreich hat die Tradition
der Revolutionen bisher verhindert, daß Gesetze von der Schärfe des Hasses
geschaffen wurden, der einen Teil der Franzosen gegen die Deutschen beseelt.
Der französische Bürger fremden Blutes genießt im ganzen auch dieselbe"
Rechte wie der Franzose; aber dem vor allen gehaßten deutschen Stamm gegenüber
halten auch die alten Grundsätze der revolutionären Schule nicht mehr stand.
Den Deutschen, z. B. den Vlamen im Nordosten, ist ihre Sprache in der Schule
verboten. Dem Fremden gegenüber, der nicht französischer Bürger ist, natür¬
lich wieder besonders dem Deutschen gilt die Feindschaft und Verfolgung vielfach
für eine heilige Bürgerpflicht, für französischen Patriotismus. Ju England
bekämpfen Engländer und Iren einander mit Feuer und Dolch; in Elsaß-
Lothringen, in Schleswig, in Posen giebt es keine Gleichheit vor dem Gesetz
für Franzosen, Dänen, Polen; ihre Schulen werden geschlossen, ihre Sprache
vergewaltigt man. Im Jahre 1885 begann in den Ostprovinzen Preußens
eine Verfolgung gegen Tausende von Leuten, die man vom Standpunkt streng
formalen Rechts vielleicht für russische Überläufer ausgeben konnte, die aber
vom Gesichtspunkte der Billigkeit aus betrachtet sich zum großen Teil das
Recht auf Schutz und Duldung in Preußen erworben hatten. Männer wurden
von ihren Weibern, Kinder von ihren Eltern gerissen, gute, wohlerworbene Besitz-
Verhältnisse zerstört, im Namen welchen Gesetzes der Sitte oder des Rechtes?
Im Namen des gewaltsamen nationalen Egoismus. In Österreich wütet der
nationale Kampf: hier werdeu Ruteueu, da Deutsche, dort Rumänen oder
Slowenen verfolgt. Rußland hat sich beeilt, anch diese neueste Bethätigung
europäischer Zivilisation in seiner Weise nachzuahmen, wie es bisher stets dem
Westen nachzuahmen pflegte. Millionen russischer Unterthanen haben Rechte
verloren, die jeder Nüsse, ja, wie Slonimski richtig sagt, jeder Talare oder
Turkmene in Nußland genießt, und das nur, weil diese Millionen eine andre
Sprache reden, oder andern Glaubens sind, oder sonst andre Kultnrformen
haben als der herrschende moskowitische Stamm. Anderwärts werden Volks¬
stämme von niederer Kultur durch die großen leitenden Nassen bedrückt und
erhalten dafür wenigstens manche höhere Formen der Kultur, wenn auch
gewaltsam aufgezwungen. In Nußland wird höhere Kultur durch niedere
ersetzt, eines der gehässigsten Verbrechen im Völkerleben. Nationale Verfolgung
überall, Gleichheit vor dem Gesetz fast nirgends! Die Stellung des Fremden


Der Nationalismus

Gleichheit vor dem Gesetz — das galt noch unlängst für einen unantast¬
baren Grundsatz des Kulturstaates. Giebt es heute einen Staat in Europa,
der ihn noch anerkennt? Jahrhundertelang stand der Ketzer, der Anders¬
gläubige außer dem gemeinen Recht. In Spanien, in Rußland unterscheidet
das Gesetz auch heute noch zwischen dem Umfang der Rechte, die dein An¬
hänger der Staatskirche und dem Augehörigen einer andern Konfession zustehen.
Aber wenn in den andern Staaten die religiöse Verfolgung aufgehört hat, so
ist an ihre Stelle die nationale getreten. In Frankreich hat die Tradition
der Revolutionen bisher verhindert, daß Gesetze von der Schärfe des Hasses
geschaffen wurden, der einen Teil der Franzosen gegen die Deutschen beseelt.
Der französische Bürger fremden Blutes genießt im ganzen auch dieselbe«
Rechte wie der Franzose; aber dem vor allen gehaßten deutschen Stamm gegenüber
halten auch die alten Grundsätze der revolutionären Schule nicht mehr stand.
Den Deutschen, z. B. den Vlamen im Nordosten, ist ihre Sprache in der Schule
verboten. Dem Fremden gegenüber, der nicht französischer Bürger ist, natür¬
lich wieder besonders dem Deutschen gilt die Feindschaft und Verfolgung vielfach
für eine heilige Bürgerpflicht, für französischen Patriotismus. Ju England
bekämpfen Engländer und Iren einander mit Feuer und Dolch; in Elsaß-
Lothringen, in Schleswig, in Posen giebt es keine Gleichheit vor dem Gesetz
für Franzosen, Dänen, Polen; ihre Schulen werden geschlossen, ihre Sprache
vergewaltigt man. Im Jahre 1885 begann in den Ostprovinzen Preußens
eine Verfolgung gegen Tausende von Leuten, die man vom Standpunkt streng
formalen Rechts vielleicht für russische Überläufer ausgeben konnte, die aber
vom Gesichtspunkte der Billigkeit aus betrachtet sich zum großen Teil das
Recht auf Schutz und Duldung in Preußen erworben hatten. Männer wurden
von ihren Weibern, Kinder von ihren Eltern gerissen, gute, wohlerworbene Besitz-
Verhältnisse zerstört, im Namen welchen Gesetzes der Sitte oder des Rechtes?
Im Namen des gewaltsamen nationalen Egoismus. In Österreich wütet der
nationale Kampf: hier werdeu Ruteueu, da Deutsche, dort Rumänen oder
Slowenen verfolgt. Rußland hat sich beeilt, anch diese neueste Bethätigung
europäischer Zivilisation in seiner Weise nachzuahmen, wie es bisher stets dem
Westen nachzuahmen pflegte. Millionen russischer Unterthanen haben Rechte
verloren, die jeder Nüsse, ja, wie Slonimski richtig sagt, jeder Talare oder
Turkmene in Nußland genießt, und das nur, weil diese Millionen eine andre
Sprache reden, oder andern Glaubens sind, oder sonst andre Kultnrformen
haben als der herrschende moskowitische Stamm. Anderwärts werden Volks¬
stämme von niederer Kultur durch die großen leitenden Nassen bedrückt und
erhalten dafür wenigstens manche höhere Formen der Kultur, wenn auch
gewaltsam aufgezwungen. In Nußland wird höhere Kultur durch niedere
ersetzt, eines der gehässigsten Verbrechen im Völkerleben. Nationale Verfolgung
überall, Gleichheit vor dem Gesetz fast nirgends! Die Stellung des Fremden


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[0122] Der Nationalismus Gleichheit vor dem Gesetz — das galt noch unlängst für einen unantast¬ baren Grundsatz des Kulturstaates. Giebt es heute einen Staat in Europa, der ihn noch anerkennt? Jahrhundertelang stand der Ketzer, der Anders¬ gläubige außer dem gemeinen Recht. In Spanien, in Rußland unterscheidet das Gesetz auch heute noch zwischen dem Umfang der Rechte, die dein An¬ hänger der Staatskirche und dem Augehörigen einer andern Konfession zustehen. Aber wenn in den andern Staaten die religiöse Verfolgung aufgehört hat, so ist an ihre Stelle die nationale getreten. In Frankreich hat die Tradition der Revolutionen bisher verhindert, daß Gesetze von der Schärfe des Hasses geschaffen wurden, der einen Teil der Franzosen gegen die Deutschen beseelt. Der französische Bürger fremden Blutes genießt im ganzen auch dieselbe« Rechte wie der Franzose; aber dem vor allen gehaßten deutschen Stamm gegenüber halten auch die alten Grundsätze der revolutionären Schule nicht mehr stand. Den Deutschen, z. B. den Vlamen im Nordosten, ist ihre Sprache in der Schule verboten. Dem Fremden gegenüber, der nicht französischer Bürger ist, natür¬ lich wieder besonders dem Deutschen gilt die Feindschaft und Verfolgung vielfach für eine heilige Bürgerpflicht, für französischen Patriotismus. Ju England bekämpfen Engländer und Iren einander mit Feuer und Dolch; in Elsaß- Lothringen, in Schleswig, in Posen giebt es keine Gleichheit vor dem Gesetz für Franzosen, Dänen, Polen; ihre Schulen werden geschlossen, ihre Sprache vergewaltigt man. Im Jahre 1885 begann in den Ostprovinzen Preußens eine Verfolgung gegen Tausende von Leuten, die man vom Standpunkt streng formalen Rechts vielleicht für russische Überläufer ausgeben konnte, die aber vom Gesichtspunkte der Billigkeit aus betrachtet sich zum großen Teil das Recht auf Schutz und Duldung in Preußen erworben hatten. Männer wurden von ihren Weibern, Kinder von ihren Eltern gerissen, gute, wohlerworbene Besitz- Verhältnisse zerstört, im Namen welchen Gesetzes der Sitte oder des Rechtes? Im Namen des gewaltsamen nationalen Egoismus. In Österreich wütet der nationale Kampf: hier werdeu Ruteueu, da Deutsche, dort Rumänen oder Slowenen verfolgt. Rußland hat sich beeilt, anch diese neueste Bethätigung europäischer Zivilisation in seiner Weise nachzuahmen, wie es bisher stets dem Westen nachzuahmen pflegte. Millionen russischer Unterthanen haben Rechte verloren, die jeder Nüsse, ja, wie Slonimski richtig sagt, jeder Talare oder Turkmene in Nußland genießt, und das nur, weil diese Millionen eine andre Sprache reden, oder andern Glaubens sind, oder sonst andre Kultnrformen haben als der herrschende moskowitische Stamm. Anderwärts werden Volks¬ stämme von niederer Kultur durch die großen leitenden Nassen bedrückt und erhalten dafür wenigstens manche höhere Formen der Kultur, wenn auch gewaltsam aufgezwungen. In Nußland wird höhere Kultur durch niedere ersetzt, eines der gehässigsten Verbrechen im Völkerleben. Nationale Verfolgung überall, Gleichheit vor dem Gesetz fast nirgends! Die Stellung des Fremden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/122>, abgerufen am 24.07.2024.