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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Der Nationalismus

geschichtliche Vorgänge eine nationale Verschmelzung nicht zuließen, sagt der
Verfasser: Gesunde, politische Einsicht, Rechtsgefühl und Sorge um die Zu¬
kunft lasse" wünschen, daß die künstlichen Schranken entfernt werden, die die
Bewohner dieser Grenzländer von der russischen Volksmasse trennen und sie
zum Teil niedriger als Tataren und Turkmenen in dem Umfang ihrer bürger¬
lichen Rechte stellen.

Um Schlüsse heißt es: Der enge Nationalismus widerspricht jedem Schritt
unsrer Geschichte und widerspricht sehr entschiede" allen unsern Aussichten auf
die Zukunft. Er ist eben so unhaltbar auf dem wirtschaftliche" wie auf dein
politischen Boden.

Dies im wesentlichen der Gedankengang dieses Russen, dem der schwer¬
lich seine Anerkennung wird versagen können, der es in unsern Tagen noch
wagt, die Worte Idealismus oder Humanität öffentlich auszusprechen. Wir
Deutschen werden seinen Erörterungen insofern einige Einschränkungen machen
müssen, als er bei Verurteilung unsers Strebens nach materieller Macht,
unsers Militarismus und der damit zusammenhängenden Beunruhigung
Europas die Nötigung zu wenig beachtet, die uns hierzu durch unsre Stellung
unter deu Mächten Europas auferlegt wird. Die stete Bedrohung unsrer
jungen Staatseinheit durch Nachbarn, die sich an ein starkes Deutschland noch
nicht gewöhnt haben, zwingt uns zum Militarismus, zu einem harten Egois¬
mus in der nationalen Politik. Doch wollen wir gern gestehen, daß anch
nur im Eifer der Verteidigung oft zu weit gehen und uns manche Sünde auf
diesem Gebiete haben zu schulden kommen lassen. Eigentümlich genng, daß
dieser Hauch echten, liberalen Denkens aus dem Ostreiche, das von vielen
nicht ohne Recht heute ein Barbnreustaat genannt wird, zu uns herüberweht, und
nicht minder wunderbar, daß wir allen Grund haben, die darin liegende Mahnung
dankbar anzunehmen, auch wenn sie in erster Reihe an den russischen Staat
gerichtet ist. So verwandelt ist das Europa Voltaires, Goethes, Byrons,
daß es vo" einem Manne aus dem barbarischen Osten den Vorwurf hinnehmen
muß, der Fahne humaner Kultur untreu geworden zu sein. Denn dieser Mann
hat Recht: ehedem galt als nationales Recht jedes Volkes, sich an der fried¬
lichen Kulturarbeit frei zu beteiligen; im Erwerb, in der Kunst, in der Wissen¬
schaft, im bürgerliche,? Leben sollte jeder seine Kräfte in seiner Sprache, seiner
Sitte, seinein Recht, seinem Glaube" entfalte" dürfen, alle sollten gemeinsam
an einem Werke arbeiten, man glaubte an eine Kultur, die über Volk und
Staat erhaben jeder friedlich und rechtlich schaffenden Arbeit Schutz gewähre"
und jeder zerstörenden Gewalt wehren sollte. Die friedliche Arbeit selbst schien
mit ihre" Erfindungen. Völker ""d Staaten von Tag z" Tage einander
nähern, die nationalen Gegensätze ausgleichen, die freie Entfaltung der persön¬
lichen Kräfte für die Lösung gewaltiger humaner Ausgaben fördern zu wollen.
Und wohin sind wir heute gelangt?


Der Nationalismus

geschichtliche Vorgänge eine nationale Verschmelzung nicht zuließen, sagt der
Verfasser: Gesunde, politische Einsicht, Rechtsgefühl und Sorge um die Zu¬
kunft lasse» wünschen, daß die künstlichen Schranken entfernt werden, die die
Bewohner dieser Grenzländer von der russischen Volksmasse trennen und sie
zum Teil niedriger als Tataren und Turkmenen in dem Umfang ihrer bürger¬
lichen Rechte stellen.

Um Schlüsse heißt es: Der enge Nationalismus widerspricht jedem Schritt
unsrer Geschichte und widerspricht sehr entschiede» allen unsern Aussichten auf
die Zukunft. Er ist eben so unhaltbar auf dem wirtschaftliche» wie auf dein
politischen Boden.

Dies im wesentlichen der Gedankengang dieses Russen, dem der schwer¬
lich seine Anerkennung wird versagen können, der es in unsern Tagen noch
wagt, die Worte Idealismus oder Humanität öffentlich auszusprechen. Wir
Deutschen werden seinen Erörterungen insofern einige Einschränkungen machen
müssen, als er bei Verurteilung unsers Strebens nach materieller Macht,
unsers Militarismus und der damit zusammenhängenden Beunruhigung
Europas die Nötigung zu wenig beachtet, die uns hierzu durch unsre Stellung
unter deu Mächten Europas auferlegt wird. Die stete Bedrohung unsrer
jungen Staatseinheit durch Nachbarn, die sich an ein starkes Deutschland noch
nicht gewöhnt haben, zwingt uns zum Militarismus, zu einem harten Egois¬
mus in der nationalen Politik. Doch wollen wir gern gestehen, daß anch
nur im Eifer der Verteidigung oft zu weit gehen und uns manche Sünde auf
diesem Gebiete haben zu schulden kommen lassen. Eigentümlich genng, daß
dieser Hauch echten, liberalen Denkens aus dem Ostreiche, das von vielen
nicht ohne Recht heute ein Barbnreustaat genannt wird, zu uns herüberweht, und
nicht minder wunderbar, daß wir allen Grund haben, die darin liegende Mahnung
dankbar anzunehmen, auch wenn sie in erster Reihe an den russischen Staat
gerichtet ist. So verwandelt ist das Europa Voltaires, Goethes, Byrons,
daß es vo» einem Manne aus dem barbarischen Osten den Vorwurf hinnehmen
muß, der Fahne humaner Kultur untreu geworden zu sein. Denn dieser Mann
hat Recht: ehedem galt als nationales Recht jedes Volkes, sich an der fried¬
lichen Kulturarbeit frei zu beteiligen; im Erwerb, in der Kunst, in der Wissen¬
schaft, im bürgerliche,? Leben sollte jeder seine Kräfte in seiner Sprache, seiner
Sitte, seinein Recht, seinem Glaube» entfalte» dürfen, alle sollten gemeinsam
an einem Werke arbeiten, man glaubte an eine Kultur, die über Volk und
Staat erhaben jeder friedlich und rechtlich schaffenden Arbeit Schutz gewähre»
und jeder zerstörenden Gewalt wehren sollte. Die friedliche Arbeit selbst schien
mit ihre» Erfindungen. Völker »»d Staaten von Tag z» Tage einander
nähern, die nationalen Gegensätze ausgleichen, die freie Entfaltung der persön¬
lichen Kräfte für die Lösung gewaltiger humaner Ausgaben fördern zu wollen.
Und wohin sind wir heute gelangt?


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[0121] Der Nationalismus geschichtliche Vorgänge eine nationale Verschmelzung nicht zuließen, sagt der Verfasser: Gesunde, politische Einsicht, Rechtsgefühl und Sorge um die Zu¬ kunft lasse» wünschen, daß die künstlichen Schranken entfernt werden, die die Bewohner dieser Grenzländer von der russischen Volksmasse trennen und sie zum Teil niedriger als Tataren und Turkmenen in dem Umfang ihrer bürger¬ lichen Rechte stellen. Um Schlüsse heißt es: Der enge Nationalismus widerspricht jedem Schritt unsrer Geschichte und widerspricht sehr entschiede» allen unsern Aussichten auf die Zukunft. Er ist eben so unhaltbar auf dem wirtschaftliche» wie auf dein politischen Boden. Dies im wesentlichen der Gedankengang dieses Russen, dem der schwer¬ lich seine Anerkennung wird versagen können, der es in unsern Tagen noch wagt, die Worte Idealismus oder Humanität öffentlich auszusprechen. Wir Deutschen werden seinen Erörterungen insofern einige Einschränkungen machen müssen, als er bei Verurteilung unsers Strebens nach materieller Macht, unsers Militarismus und der damit zusammenhängenden Beunruhigung Europas die Nötigung zu wenig beachtet, die uns hierzu durch unsre Stellung unter deu Mächten Europas auferlegt wird. Die stete Bedrohung unsrer jungen Staatseinheit durch Nachbarn, die sich an ein starkes Deutschland noch nicht gewöhnt haben, zwingt uns zum Militarismus, zu einem harten Egois¬ mus in der nationalen Politik. Doch wollen wir gern gestehen, daß anch nur im Eifer der Verteidigung oft zu weit gehen und uns manche Sünde auf diesem Gebiete haben zu schulden kommen lassen. Eigentümlich genng, daß dieser Hauch echten, liberalen Denkens aus dem Ostreiche, das von vielen nicht ohne Recht heute ein Barbnreustaat genannt wird, zu uns herüberweht, und nicht minder wunderbar, daß wir allen Grund haben, die darin liegende Mahnung dankbar anzunehmen, auch wenn sie in erster Reihe an den russischen Staat gerichtet ist. So verwandelt ist das Europa Voltaires, Goethes, Byrons, daß es vo» einem Manne aus dem barbarischen Osten den Vorwurf hinnehmen muß, der Fahne humaner Kultur untreu geworden zu sein. Denn dieser Mann hat Recht: ehedem galt als nationales Recht jedes Volkes, sich an der fried¬ lichen Kulturarbeit frei zu beteiligen; im Erwerb, in der Kunst, in der Wissen¬ schaft, im bürgerliche,? Leben sollte jeder seine Kräfte in seiner Sprache, seiner Sitte, seinein Recht, seinem Glaube» entfalte» dürfen, alle sollten gemeinsam an einem Werke arbeiten, man glaubte an eine Kultur, die über Volk und Staat erhaben jeder friedlich und rechtlich schaffenden Arbeit Schutz gewähre» und jeder zerstörenden Gewalt wehren sollte. Die friedliche Arbeit selbst schien mit ihre» Erfindungen. Völker »»d Staaten von Tag z» Tage einander nähern, die nationalen Gegensätze ausgleichen, die freie Entfaltung der persön¬ lichen Kräfte für die Lösung gewaltiger humaner Ausgaben fördern zu wollen. Und wohin sind wir heute gelangt?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/121>, abgerufen am 24.07.2024.