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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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kehrs- und Wirtschaftsleben als Ausdruck einer politischen Spannung, der sich
niemand entziehen kaun. Unter solchen Umständen wird es nützlich sein, einen
Blick auf die Gesamtlage unsrer auswärtigen Politik z" werfen und ruhig
abzuwägen, wo Gefahren drohen, und welche Mittel uns zu ihrer unblutigen
Abwendung zu Gebote stehen.

Daß die geographische Lage Deutschlands uns jeden Druck von Ost und
West, von Nord und Süd mitempfinden läßt, bedeutet an sich einen Nachteil
und einen Vorzug. Der Vorzug, mit hineingezogen zu werden in die gesamte
Geistesarbeit des Weltteils, ist nicht gering zu schätzen, wenn er auch teuer
dadurch erkauft wird, daß wir auch an den Folgen der politischen und
moralischen Krankheiten unsrer Nachbarn teilnehmen müsse". Machte sich in
frühern Jahrhunderte!? die schlimme oder gute Folge dieser zentralen Stellung
verhältnismäßig langsamer fühlbar, so haben die gesteigerten Verbindungs¬
mittel, wie sie Eisenbahn und Telegraph bieten, den Einfluß der Fremden so
bedeutend gesteigert, daß es kaum möglich ist, sich ihm zu entziehen. Der
Umstand, daß Deutschland nun über ein Menschenalter hindurch das politische
Zentrum Europas gewesen ist, hat die Wirkung jener .Kräfte noch mehr ge¬
fördert. Die in der Peripherie liegenden Staaten haben an dem Leben und
dem Leiden der Gesamtheit weit geringern Anteil als wir; sie alle können sich
weit eher in sich abschließen. Ganz undenkbar aber wäre es, eine geistige
Schutzmauer um Deutschland aufzuführen. Der naheliegende Schluß ans
diesen Voraussetzungen ist, daß kein Staat der Welt in gleichem Maße einer
stetigen Anspannung aller .Kräfte bedarf, um sich gesund zu erhalten; daß
anderseits keins von den Ereignissen, die sich in einem Winkel Europas ab¬
spielen, für uus im eigentliche": Sinne des Wortes gleichgiltig sein kann.

Die heute die allgemeine Lage Europas bestimmenden Strömungen lassen
sich auf dreierlei zurückführen. Erstens auf das im Prinzip feststehende russisch-
frauzösische Offensivbüuduis und das ihr entsprechende Friedensbnnduis
Deutschlands, Österreich-Ungarns und Italiens; zweitens macht sich der schlecht
gelöschte Vraud im europäischen Orient, zu dem in diesem Falle die Levante
und Ägypten anzurechnen sind, als beunruhigende Thatsache geltend; drittens
drückt eine wirtschaftliche Krisis, die von Amerika und Rußland ausgeht, auf
Handel und Wandel in einer Weise, die das Fortdauern des sozialen Problems
wesentlich fördert.

Daß die französisch-russische Einigung feststeht, wird kaum noch bestritten
werden können. Der kurze Traum einer Aussöhnung zwischen Deutschland
und Frankreich ist zerronnen, und ebenso ist die Aussicht geschwunden, eine
Verständigung mit Rußland zu finden, wie sie unsre Politik mit beispielloser
Zähigkeit Jahre hindurch zu erreichen bemüht gewesen ist. Aber Franzosen
und Russen gleichen sich darin, daß sie gute Worte und gute Dienste nicht zu
vertragen vermöge"; je mehr Deutschland dem einen wie dem andern Teil


kehrs- und Wirtschaftsleben als Ausdruck einer politischen Spannung, der sich
niemand entziehen kaun. Unter solchen Umständen wird es nützlich sein, einen
Blick auf die Gesamtlage unsrer auswärtigen Politik z» werfen und ruhig
abzuwägen, wo Gefahren drohen, und welche Mittel uns zu ihrer unblutigen
Abwendung zu Gebote stehen.

Daß die geographische Lage Deutschlands uns jeden Druck von Ost und
West, von Nord und Süd mitempfinden läßt, bedeutet an sich einen Nachteil
und einen Vorzug. Der Vorzug, mit hineingezogen zu werden in die gesamte
Geistesarbeit des Weltteils, ist nicht gering zu schätzen, wenn er auch teuer
dadurch erkauft wird, daß wir auch an den Folgen der politischen und
moralischen Krankheiten unsrer Nachbarn teilnehmen müsse». Machte sich in
frühern Jahrhunderte!? die schlimme oder gute Folge dieser zentralen Stellung
verhältnismäßig langsamer fühlbar, so haben die gesteigerten Verbindungs¬
mittel, wie sie Eisenbahn und Telegraph bieten, den Einfluß der Fremden so
bedeutend gesteigert, daß es kaum möglich ist, sich ihm zu entziehen. Der
Umstand, daß Deutschland nun über ein Menschenalter hindurch das politische
Zentrum Europas gewesen ist, hat die Wirkung jener .Kräfte noch mehr ge¬
fördert. Die in der Peripherie liegenden Staaten haben an dem Leben und
dem Leiden der Gesamtheit weit geringern Anteil als wir; sie alle können sich
weit eher in sich abschließen. Ganz undenkbar aber wäre es, eine geistige
Schutzmauer um Deutschland aufzuführen. Der naheliegende Schluß ans
diesen Voraussetzungen ist, daß kein Staat der Welt in gleichem Maße einer
stetigen Anspannung aller .Kräfte bedarf, um sich gesund zu erhalten; daß
anderseits keins von den Ereignissen, die sich in einem Winkel Europas ab¬
spielen, für uus im eigentliche«: Sinne des Wortes gleichgiltig sein kann.

Die heute die allgemeine Lage Europas bestimmenden Strömungen lassen
sich auf dreierlei zurückführen. Erstens auf das im Prinzip feststehende russisch-
frauzösische Offensivbüuduis und das ihr entsprechende Friedensbnnduis
Deutschlands, Österreich-Ungarns und Italiens; zweitens macht sich der schlecht
gelöschte Vraud im europäischen Orient, zu dem in diesem Falle die Levante
und Ägypten anzurechnen sind, als beunruhigende Thatsache geltend; drittens
drückt eine wirtschaftliche Krisis, die von Amerika und Rußland ausgeht, auf
Handel und Wandel in einer Weise, die das Fortdauern des sozialen Problems
wesentlich fördert.

Daß die französisch-russische Einigung feststeht, wird kaum noch bestritten
werden können. Der kurze Traum einer Aussöhnung zwischen Deutschland
und Frankreich ist zerronnen, und ebenso ist die Aussicht geschwunden, eine
Verständigung mit Rußland zu finden, wie sie unsre Politik mit beispielloser
Zähigkeit Jahre hindurch zu erreichen bemüht gewesen ist. Aber Franzosen
und Russen gleichen sich darin, daß sie gute Worte und gute Dienste nicht zu
vertragen vermöge»; je mehr Deutschland dem einen wie dem andern Teil


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/111>, abgerufen am 24.07.2024.