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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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licher Steifheit aller Gelenke und heftigem Schmerz in der linken verhärteten
Wade gesellten sich kalter Angstschweiß, Herzklopfen, Atemlosigkeit, Neigung
zum Erbrechen, im Verlaufe fürchterlicher Nächte Brustkrämpfe und Er¬
stickungsanfälle, die sich nach Mitte Mai milderten. Und erst am ersten Juni
durste der Kranke wieder eine Stunde außer Bette sein. "Mußte in geheizter
Stube stecken, während ich sonst dachte, der Frühling könne nicht existiren,,
ohne daß ich ihn kontrollire." Am Juni schlich er a>, einer Krücke in den
kleinen Hausgarten seines Wirtes, "war geblendet von dein grünen Glänze der
Erde und dem blauen des Himmels, dazu so allein nud hilflos, auch geistig,
daß mir wehmütig und überaus sehnsüchtig zu Mute ward. Die Herrlichkeit
der Sommerwelt bedrängte und drückte mich ordentlich." Wahrend der
schlimmsten Krankheitstage hatte er nicht nur mit körperlichen, sondern vor
allem mit seelischen Schmerzen gerungen. Mit der dunkeln Furcht, allein, in
der Fremde zu sterben, paarte sich die natürlichste Besorgnis über die Aus¬
sichtslosigkeit seiner gegenwärtigen Lage. "Wie bin ich so milde! Und soll
ich immer fort und immer fort sorgen!" -- "Mut, Vertrauen, Kraft -- die
letzten Reste nehmen Abschied." "Von nun an soll meine Gesundheit das
erste und ausschließende Recht auf mich haben -- das andre mag werden,
wie es will. Berühmt zu werden bin ich zu alt und zu schwach!" "Bin in
einem höchst seltsamen Zustande! Wie im Halbtraum! Viele Sehnsucht, mehr
Sorge, wenig Hoffnung und am meisten Resignation ans Mattigkeit. Das
ist die Mischung!" Diese und ähnliche Ausrufe in Ludwigs Tagebuch aus
jenen traurigen Sommerwochen kennzeichne" hinlänglich die tiefe Hoffnungs¬
losigkeit des weltfremden jungen Mannes, die teils ans der Krankheit, teils
und zwar größernteils, aus deu ersten Berührungen mit der Leipziger
Kunst- und Litteraturwelt stammte. Die Eindrücke, die Ludwig zunächst
empfangen hatte, machten ihm die Unvereinbarkeit seines Kunstdranges, seiner
Anschanung, seines Wollens mit dem landläufige" und tagesüblichen Treiben
bis zur Verzweiflung an der eignen Zukunft klar.

Schon während seiner Krankheit und noch mehr während der allmählichen
Genesung regte sich bei Ludwig ein entschiedenes Verlangen, zu den Musik¬
studien zurückzukehren. In demselben Augenblicke, wo die humoristische Novelle
"Die Emanzipation der Dienstboten" in Herloßsvhns "Kometen" (April t 840)
veröffentlicht wurde, auch einige seiner Gedichte (darunter das Answandrerlied
von 1834) erschienen, traten die litterarischen Pläne in den Hintergrund. War
es vor allem sein starkes Pflichtgefühl, das ihm ins Gedächtnis rief, daß das
Stipendium des Herzogs von Meiningen ihm eben nur zur Ausbildung in
der Musik gewährt worden sei, entstammte der neue musikalische Eifer dem
sehnsüchtigen Wunsche, als Kantor in Eisfeld oder als Lehrer auf dem Lande
eine gesicherte Existenz zu finden, verließen ihn die poetischen Gestalten, die
ihn während des verflossenen Winters unablässig umdrängt hatten, suchte er


licher Steifheit aller Gelenke und heftigem Schmerz in der linken verhärteten
Wade gesellten sich kalter Angstschweiß, Herzklopfen, Atemlosigkeit, Neigung
zum Erbrechen, im Verlaufe fürchterlicher Nächte Brustkrämpfe und Er¬
stickungsanfälle, die sich nach Mitte Mai milderten. Und erst am ersten Juni
durste der Kranke wieder eine Stunde außer Bette sein. „Mußte in geheizter
Stube stecken, während ich sonst dachte, der Frühling könne nicht existiren,,
ohne daß ich ihn kontrollire." Am Juni schlich er a>, einer Krücke in den
kleinen Hausgarten seines Wirtes, „war geblendet von dein grünen Glänze der
Erde und dem blauen des Himmels, dazu so allein nud hilflos, auch geistig,
daß mir wehmütig und überaus sehnsüchtig zu Mute ward. Die Herrlichkeit
der Sommerwelt bedrängte und drückte mich ordentlich." Wahrend der
schlimmsten Krankheitstage hatte er nicht nur mit körperlichen, sondern vor
allem mit seelischen Schmerzen gerungen. Mit der dunkeln Furcht, allein, in
der Fremde zu sterben, paarte sich die natürlichste Besorgnis über die Aus¬
sichtslosigkeit seiner gegenwärtigen Lage. „Wie bin ich so milde! Und soll
ich immer fort und immer fort sorgen!" — „Mut, Vertrauen, Kraft — die
letzten Reste nehmen Abschied." „Von nun an soll meine Gesundheit das
erste und ausschließende Recht auf mich haben — das andre mag werden,
wie es will. Berühmt zu werden bin ich zu alt und zu schwach!" „Bin in
einem höchst seltsamen Zustande! Wie im Halbtraum! Viele Sehnsucht, mehr
Sorge, wenig Hoffnung und am meisten Resignation ans Mattigkeit. Das
ist die Mischung!" Diese und ähnliche Ausrufe in Ludwigs Tagebuch aus
jenen traurigen Sommerwochen kennzeichne» hinlänglich die tiefe Hoffnungs¬
losigkeit des weltfremden jungen Mannes, die teils ans der Krankheit, teils
und zwar größernteils, aus deu ersten Berührungen mit der Leipziger
Kunst- und Litteraturwelt stammte. Die Eindrücke, die Ludwig zunächst
empfangen hatte, machten ihm die Unvereinbarkeit seines Kunstdranges, seiner
Anschanung, seines Wollens mit dem landläufige» und tagesüblichen Treiben
bis zur Verzweiflung an der eignen Zukunft klar.

Schon während seiner Krankheit und noch mehr während der allmählichen
Genesung regte sich bei Ludwig ein entschiedenes Verlangen, zu den Musik¬
studien zurückzukehren. In demselben Augenblicke, wo die humoristische Novelle
„Die Emanzipation der Dienstboten" in Herloßsvhns „Kometen" (April t 840)
veröffentlicht wurde, auch einige seiner Gedichte (darunter das Answandrerlied
von 1834) erschienen, traten die litterarischen Pläne in den Hintergrund. War
es vor allem sein starkes Pflichtgefühl, das ihm ins Gedächtnis rief, daß das
Stipendium des Herzogs von Meiningen ihm eben nur zur Ausbildung in
der Musik gewährt worden sei, entstammte der neue musikalische Eifer dem
sehnsüchtigen Wunsche, als Kantor in Eisfeld oder als Lehrer auf dem Lande
eine gesicherte Existenz zu finden, verließen ihn die poetischen Gestalten, die
ihn während des verflossenen Winters unablässig umdrängt hatten, suchte er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/96>, abgerufen am 25.08.2024.