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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die Überlnirdung

eine neuere Sprache, erlernt, die an der Anstalt nicht gelehrt wurde. Diese
Einrichtung würde es auch möglich runchen, einen Schüler zu versetzen, der
bei solistiger Tüchtigkeit in einem Hauptsache zurückgeblieben ist, denn er würde
später, wenn ihm das Licht aufgeht, an dem freien Tage das fehlende nach¬
holen können.

Auch verdient Herbarts Ansicht Beachtung, daß in der Schule eigentlich
nichts gelehrt werdeu sollte, was der Schüler ohne fremde Hilfe erlernen kann.
In die alten Sprachen und in die Mathematik kann der Schiller ohne Hilfe
des Lehrers nicht eindringen, aber (beschichte, sagt Herbart, ist gar kein Lehr¬
fach; die kann sich jeder Schüler aus Büchern aneignen, lind die meisten thun
es sehr gern. Was mau an Jahreszahlen, Namen und Begebenheiten wissen
müsse, um für einen gebildeten Mann zu gelten, darüber sind die Gelehrten
ohnehin uneins, und, würde er heute hinzufügen, für alle Falle haben nur ja
jeder den Auszug von Plötz zur Hand. Mit der Beantwortung des Ent¬
wurfs , daß der Geschichtsunterricht zur Pflege patriotischer Gesinnung not¬
wendig sei, würden wir auf ein andres Gebiet abschweifen. Auch Englisch
gehört meiner Ansicht nach nicht in die Schule, weil es so leicht ist, daß eS
jeder für sich allem, etwa mit Hilfe der Langeuscheidtscheu Briefe, erlernen
kann. Zur Übung im Sprechen kann einer dann, wenn ers nötig hat, ein
paar Wochen Konversationsstunden nehmen.

Meiner persönlichen Auffassung nach ist es zum Totlachen, wen" sich die
Büreaukratie gegen die Sozialdemokratie ereifert; mir kommt es wie Konkurrenz¬
neid vor. Das eigentlich Verwerfliche an der Sozialdemokratie, die durch
Vernichtung der Individualitäten hergestellte Uniformitüt, ist ja durch die
Büreaukratie schon weithin verwirklicht worden. Wir wachsen nicht hinein in
den sozialdemokratischen Staat, aber nur werdeu hineingepreßt. Das Gymnasium
ist die Stelle, wo die höhern Stunde an ihren Söhnen den Druck der Presse,
die zerrende und verstümmelnde Arbeit des Prokrustesbettes empfinden, daher
der Schmerzensschrei: Überbürdung! Der Grundfehler des modernen Staats¬
lebens besteht darin, daß man Einrichtungen, die an ihrem. Ort und für ihren
Zweck vortrefflich sind, aufs Ganze ausdehnen zu müssen glaubt. Auf mili¬
tärischem Gebiet giebt es gewiß in der ganzen Welt nichts Vollkommeneres
als ein preußisches Regiment, aber es wäre eil, verhängnisvoller Irrtum, zu
glauben, daß die Verfassung eines Linienregiments auch die beste Verfassung
für eine ganze Nation sei. Unsre Schulen tragen schon ein zu starkes militürisch-
büreankratisches Gepräge. Neue Reglements, auch in der besten Absicht erlassen,
könnten leicht das Übel verschlimmern, sofern sie sich uicht auf Bestimmung
derjenigen Dinge beschränken, die beseitigt werden sollen. Will man gründliche
Besserung, so mag man zunächst deu pädagogischen Geist wieder frei walten
lassen in freien Privatanstalten und später nach dem Muster derer, die sich
bewähren, die Stnatsschnlen verbessern. Neue Reglements müßten der Eigenart


Die Überlnirdung

eine neuere Sprache, erlernt, die an der Anstalt nicht gelehrt wurde. Diese
Einrichtung würde es auch möglich runchen, einen Schüler zu versetzen, der
bei solistiger Tüchtigkeit in einem Hauptsache zurückgeblieben ist, denn er würde
später, wenn ihm das Licht aufgeht, an dem freien Tage das fehlende nach¬
holen können.

Auch verdient Herbarts Ansicht Beachtung, daß in der Schule eigentlich
nichts gelehrt werdeu sollte, was der Schüler ohne fremde Hilfe erlernen kann.
In die alten Sprachen und in die Mathematik kann der Schiller ohne Hilfe
des Lehrers nicht eindringen, aber (beschichte, sagt Herbart, ist gar kein Lehr¬
fach; die kann sich jeder Schüler aus Büchern aneignen, lind die meisten thun
es sehr gern. Was mau an Jahreszahlen, Namen und Begebenheiten wissen
müsse, um für einen gebildeten Mann zu gelten, darüber sind die Gelehrten
ohnehin uneins, und, würde er heute hinzufügen, für alle Falle haben nur ja
jeder den Auszug von Plötz zur Hand. Mit der Beantwortung des Ent¬
wurfs , daß der Geschichtsunterricht zur Pflege patriotischer Gesinnung not¬
wendig sei, würden wir auf ein andres Gebiet abschweifen. Auch Englisch
gehört meiner Ansicht nach nicht in die Schule, weil es so leicht ist, daß eS
jeder für sich allem, etwa mit Hilfe der Langeuscheidtscheu Briefe, erlernen
kann. Zur Übung im Sprechen kann einer dann, wenn ers nötig hat, ein
paar Wochen Konversationsstunden nehmen.

Meiner persönlichen Auffassung nach ist es zum Totlachen, wen» sich die
Büreaukratie gegen die Sozialdemokratie ereifert; mir kommt es wie Konkurrenz¬
neid vor. Das eigentlich Verwerfliche an der Sozialdemokratie, die durch
Vernichtung der Individualitäten hergestellte Uniformitüt, ist ja durch die
Büreaukratie schon weithin verwirklicht worden. Wir wachsen nicht hinein in
den sozialdemokratischen Staat, aber nur werdeu hineingepreßt. Das Gymnasium
ist die Stelle, wo die höhern Stunde an ihren Söhnen den Druck der Presse,
die zerrende und verstümmelnde Arbeit des Prokrustesbettes empfinden, daher
der Schmerzensschrei: Überbürdung! Der Grundfehler des modernen Staats¬
lebens besteht darin, daß man Einrichtungen, die an ihrem. Ort und für ihren
Zweck vortrefflich sind, aufs Ganze ausdehnen zu müssen glaubt. Auf mili¬
tärischem Gebiet giebt es gewiß in der ganzen Welt nichts Vollkommeneres
als ein preußisches Regiment, aber es wäre eil, verhängnisvoller Irrtum, zu
glauben, daß die Verfassung eines Linienregiments auch die beste Verfassung
für eine ganze Nation sei. Unsre Schulen tragen schon ein zu starkes militürisch-
büreankratisches Gepräge. Neue Reglements, auch in der besten Absicht erlassen,
könnten leicht das Übel verschlimmern, sofern sie sich uicht auf Bestimmung
derjenigen Dinge beschränken, die beseitigt werden sollen. Will man gründliche
Besserung, so mag man zunächst deu pädagogischen Geist wieder frei walten
lassen in freien Privatanstalten und später nach dem Muster derer, die sich
bewähren, die Stnatsschnlen verbessern. Neue Reglements müßten der Eigenart


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[0078] Die Überlnirdung eine neuere Sprache, erlernt, die an der Anstalt nicht gelehrt wurde. Diese Einrichtung würde es auch möglich runchen, einen Schüler zu versetzen, der bei solistiger Tüchtigkeit in einem Hauptsache zurückgeblieben ist, denn er würde später, wenn ihm das Licht aufgeht, an dem freien Tage das fehlende nach¬ holen können. Auch verdient Herbarts Ansicht Beachtung, daß in der Schule eigentlich nichts gelehrt werdeu sollte, was der Schüler ohne fremde Hilfe erlernen kann. In die alten Sprachen und in die Mathematik kann der Schiller ohne Hilfe des Lehrers nicht eindringen, aber (beschichte, sagt Herbart, ist gar kein Lehr¬ fach; die kann sich jeder Schüler aus Büchern aneignen, lind die meisten thun es sehr gern. Was mau an Jahreszahlen, Namen und Begebenheiten wissen müsse, um für einen gebildeten Mann zu gelten, darüber sind die Gelehrten ohnehin uneins, und, würde er heute hinzufügen, für alle Falle haben nur ja jeder den Auszug von Plötz zur Hand. Mit der Beantwortung des Ent¬ wurfs , daß der Geschichtsunterricht zur Pflege patriotischer Gesinnung not¬ wendig sei, würden wir auf ein andres Gebiet abschweifen. Auch Englisch gehört meiner Ansicht nach nicht in die Schule, weil es so leicht ist, daß eS jeder für sich allem, etwa mit Hilfe der Langeuscheidtscheu Briefe, erlernen kann. Zur Übung im Sprechen kann einer dann, wenn ers nötig hat, ein paar Wochen Konversationsstunden nehmen. Meiner persönlichen Auffassung nach ist es zum Totlachen, wen» sich die Büreaukratie gegen die Sozialdemokratie ereifert; mir kommt es wie Konkurrenz¬ neid vor. Das eigentlich Verwerfliche an der Sozialdemokratie, die durch Vernichtung der Individualitäten hergestellte Uniformitüt, ist ja durch die Büreaukratie schon weithin verwirklicht worden. Wir wachsen nicht hinein in den sozialdemokratischen Staat, aber nur werdeu hineingepreßt. Das Gymnasium ist die Stelle, wo die höhern Stunde an ihren Söhnen den Druck der Presse, die zerrende und verstümmelnde Arbeit des Prokrustesbettes empfinden, daher der Schmerzensschrei: Überbürdung! Der Grundfehler des modernen Staats¬ lebens besteht darin, daß man Einrichtungen, die an ihrem. Ort und für ihren Zweck vortrefflich sind, aufs Ganze ausdehnen zu müssen glaubt. Auf mili¬ tärischem Gebiet giebt es gewiß in der ganzen Welt nichts Vollkommeneres als ein preußisches Regiment, aber es wäre eil, verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, daß die Verfassung eines Linienregiments auch die beste Verfassung für eine ganze Nation sei. Unsre Schulen tragen schon ein zu starkes militürisch- büreankratisches Gepräge. Neue Reglements, auch in der besten Absicht erlassen, könnten leicht das Übel verschlimmern, sofern sie sich uicht auf Bestimmung derjenigen Dinge beschränken, die beseitigt werden sollen. Will man gründliche Besserung, so mag man zunächst deu pädagogischen Geist wieder frei walten lassen in freien Privatanstalten und später nach dem Muster derer, die sich bewähren, die Stnatsschnlen verbessern. Neue Reglements müßten der Eigenart

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/78>, abgerufen am 23.07.2024.