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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die Uberblirdung

erfülluug ihre ganze Kraft verbrauchen, sodaß sie für die freie Pflichterfüllung
im Leben keine mehr übrig haben.

Daß die modernen Verhältnisse auch im sehnlicher auf Zwang und
Uniformität Hindrängen, ist leider wahr. Schon Herbart hat eS ausgesprochen,
daß das Eltern in teresse und das Staatsinteresse einander vielfach entgegen¬
gesetzt seien. Dem Staate liegt daran, für alle Fächer längliche Beamte zu
bekommen. Ob sie dabei mich vollkommene und glückliche Menschen werden,
und was aus den übrigen wird, die bei der vielfachen Worfeluug zu leicht
befunden werden, das ist ihm an sich gleichgiltig. Seitdem sind wir einen
Schritt weiter gekommen. Heute bilden die Prüfungen und die Vorschriften
über Qualifikation weit weniger den Zweck, dem Staate die erforderliche Zahl
der geeigneten Anwärter zu sichern, als vielmehr deren Andrang abzuwehren.
Zwischen dem Schalterdienst auf einem Bahnhof und dem Primauerzeuguis
besteht keinerlei innerer vernünftiger Zusammenhang; mau fordert dieses, damit
nicht gar zuviel junge Leute um den Platz am Schalter ringen. Mit diesem
Qunlifikationsweseu wird ja wohl nnn, dein Wunsche des Kaisers gemäß, ein
wenig aufgeräumt werde", und das wird eine wirkliche Besserung sein. Die
beliebte Redensart, durch die Qnalifikationsvvrschriften sei das Bildungsniveau
des ganzen Volkes höher geschraubt worden, enthält eine starke Übertreibung.
Die Fähigkeit, eine vorgeschrieben Anzahl von Prüfungsfragen beantworten
zu können, ist noch leine höhere Bildung. Karl Vogt, der ,,Affenvvgt," hat vor
ein paar Jahren seine Erfahrungen mit den, Bildungsniveau in einem Feuille¬
ton der "Neuen Freien Presse" niedergelegt. Er sagt da ungefähr l Ich habe
ein in jeder Beziehung erbärmliches Gymnasium besucht. Naturgeschichte wurde
da gar nicht gelehrt, aber Nur haben aus freie" Stücken sehr viel davon ge¬
lernt; Zeit zum Botanisiren n. dergl. hatten nur genug. Meine heutigen
Studenten dagegen kommen alle so wohl vorbereitet, auch in deu Natur-
wissenschaften, vom Gymnasium, daß man sich, was das Buchwissen anlangt,
ordentlich vor ihnen geniren muß; aber selbständig beobachten und selbständig
denken, das können sie nicht. Sie sind allesamt Musterjünglinge, aber nicht
zu gebrauchen; die Wissenschaft werden sie nicht bereichern.

Die aus der Ungleichheit der Anlagen für die verschiednen Fächer ent¬
springende Schwierigkeit hat Pestalozzi ans folgende Weise überwunden.
Möglichst viele Massen nahmen in derselben Stunde denselben Gegenstand
durch. Ein sekundärer nun z. B., der in der Mathematik seinen Mitschülern
voraus oder hinter ihnen zurückgeblieben war, nahm an dem Mathematik-
uuterrichte der Primaner oder Tertianer teil. Herbart empfahl dieselbe Ein¬
richtung, deren Durchführung allerdings fast auf unüberwindliche Schwierig¬
keiten stoßen würde. Unser Regens in G. bedauerte sehr, daß nicht noch,
wie in seiner eignen Schülerzeit, ein ganzer Tag in der Woche, die Mittwoch,
frei sei; jeder habe da ein Liebliugsstudium getrieben und irgend etwas, z. B.


Die Uberblirdung

erfülluug ihre ganze Kraft verbrauchen, sodaß sie für die freie Pflichterfüllung
im Leben keine mehr übrig haben.

Daß die modernen Verhältnisse auch im sehnlicher auf Zwang und
Uniformität Hindrängen, ist leider wahr. Schon Herbart hat eS ausgesprochen,
daß das Eltern in teresse und das Staatsinteresse einander vielfach entgegen¬
gesetzt seien. Dem Staate liegt daran, für alle Fächer längliche Beamte zu
bekommen. Ob sie dabei mich vollkommene und glückliche Menschen werden,
und was aus den übrigen wird, die bei der vielfachen Worfeluug zu leicht
befunden werden, das ist ihm an sich gleichgiltig. Seitdem sind wir einen
Schritt weiter gekommen. Heute bilden die Prüfungen und die Vorschriften
über Qualifikation weit weniger den Zweck, dem Staate die erforderliche Zahl
der geeigneten Anwärter zu sichern, als vielmehr deren Andrang abzuwehren.
Zwischen dem Schalterdienst auf einem Bahnhof und dem Primauerzeuguis
besteht keinerlei innerer vernünftiger Zusammenhang; mau fordert dieses, damit
nicht gar zuviel junge Leute um den Platz am Schalter ringen. Mit diesem
Qunlifikationsweseu wird ja wohl nnn, dein Wunsche des Kaisers gemäß, ein
wenig aufgeräumt werde», und das wird eine wirkliche Besserung sein. Die
beliebte Redensart, durch die Qnalifikationsvvrschriften sei das Bildungsniveau
des ganzen Volkes höher geschraubt worden, enthält eine starke Übertreibung.
Die Fähigkeit, eine vorgeschrieben Anzahl von Prüfungsfragen beantworten
zu können, ist noch leine höhere Bildung. Karl Vogt, der ,,Affenvvgt," hat vor
ein paar Jahren seine Erfahrungen mit den, Bildungsniveau in einem Feuille¬
ton der „Neuen Freien Presse" niedergelegt. Er sagt da ungefähr l Ich habe
ein in jeder Beziehung erbärmliches Gymnasium besucht. Naturgeschichte wurde
da gar nicht gelehrt, aber Nur haben aus freie» Stücken sehr viel davon ge¬
lernt; Zeit zum Botanisiren n. dergl. hatten nur genug. Meine heutigen
Studenten dagegen kommen alle so wohl vorbereitet, auch in deu Natur-
wissenschaften, vom Gymnasium, daß man sich, was das Buchwissen anlangt,
ordentlich vor ihnen geniren muß; aber selbständig beobachten und selbständig
denken, das können sie nicht. Sie sind allesamt Musterjünglinge, aber nicht
zu gebrauchen; die Wissenschaft werden sie nicht bereichern.

Die aus der Ungleichheit der Anlagen für die verschiednen Fächer ent¬
springende Schwierigkeit hat Pestalozzi ans folgende Weise überwunden.
Möglichst viele Massen nahmen in derselben Stunde denselben Gegenstand
durch. Ein sekundärer nun z. B., der in der Mathematik seinen Mitschülern
voraus oder hinter ihnen zurückgeblieben war, nahm an dem Mathematik-
uuterrichte der Primaner oder Tertianer teil. Herbart empfahl dieselbe Ein¬
richtung, deren Durchführung allerdings fast auf unüberwindliche Schwierig¬
keiten stoßen würde. Unser Regens in G. bedauerte sehr, daß nicht noch,
wie in seiner eignen Schülerzeit, ein ganzer Tag in der Woche, die Mittwoch,
frei sei; jeder habe da ein Liebliugsstudium getrieben und irgend etwas, z. B.


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[0077] Die Uberblirdung erfülluug ihre ganze Kraft verbrauchen, sodaß sie für die freie Pflichterfüllung im Leben keine mehr übrig haben. Daß die modernen Verhältnisse auch im sehnlicher auf Zwang und Uniformität Hindrängen, ist leider wahr. Schon Herbart hat eS ausgesprochen, daß das Eltern in teresse und das Staatsinteresse einander vielfach entgegen¬ gesetzt seien. Dem Staate liegt daran, für alle Fächer längliche Beamte zu bekommen. Ob sie dabei mich vollkommene und glückliche Menschen werden, und was aus den übrigen wird, die bei der vielfachen Worfeluug zu leicht befunden werden, das ist ihm an sich gleichgiltig. Seitdem sind wir einen Schritt weiter gekommen. Heute bilden die Prüfungen und die Vorschriften über Qualifikation weit weniger den Zweck, dem Staate die erforderliche Zahl der geeigneten Anwärter zu sichern, als vielmehr deren Andrang abzuwehren. Zwischen dem Schalterdienst auf einem Bahnhof und dem Primauerzeuguis besteht keinerlei innerer vernünftiger Zusammenhang; mau fordert dieses, damit nicht gar zuviel junge Leute um den Platz am Schalter ringen. Mit diesem Qunlifikationsweseu wird ja wohl nnn, dein Wunsche des Kaisers gemäß, ein wenig aufgeräumt werde», und das wird eine wirkliche Besserung sein. Die beliebte Redensart, durch die Qnalifikationsvvrschriften sei das Bildungsniveau des ganzen Volkes höher geschraubt worden, enthält eine starke Übertreibung. Die Fähigkeit, eine vorgeschrieben Anzahl von Prüfungsfragen beantworten zu können, ist noch leine höhere Bildung. Karl Vogt, der ,,Affenvvgt," hat vor ein paar Jahren seine Erfahrungen mit den, Bildungsniveau in einem Feuille¬ ton der „Neuen Freien Presse" niedergelegt. Er sagt da ungefähr l Ich habe ein in jeder Beziehung erbärmliches Gymnasium besucht. Naturgeschichte wurde da gar nicht gelehrt, aber Nur haben aus freie» Stücken sehr viel davon ge¬ lernt; Zeit zum Botanisiren n. dergl. hatten nur genug. Meine heutigen Studenten dagegen kommen alle so wohl vorbereitet, auch in deu Natur- wissenschaften, vom Gymnasium, daß man sich, was das Buchwissen anlangt, ordentlich vor ihnen geniren muß; aber selbständig beobachten und selbständig denken, das können sie nicht. Sie sind allesamt Musterjünglinge, aber nicht zu gebrauchen; die Wissenschaft werden sie nicht bereichern. Die aus der Ungleichheit der Anlagen für die verschiednen Fächer ent¬ springende Schwierigkeit hat Pestalozzi ans folgende Weise überwunden. Möglichst viele Massen nahmen in derselben Stunde denselben Gegenstand durch. Ein sekundärer nun z. B., der in der Mathematik seinen Mitschülern voraus oder hinter ihnen zurückgeblieben war, nahm an dem Mathematik- uuterrichte der Primaner oder Tertianer teil. Herbart empfahl dieselbe Ein¬ richtung, deren Durchführung allerdings fast auf unüberwindliche Schwierig¬ keiten stoßen würde. Unser Regens in G. bedauerte sehr, daß nicht noch, wie in seiner eignen Schülerzeit, ein ganzer Tag in der Woche, die Mittwoch, frei sei; jeder habe da ein Liebliugsstudium getrieben und irgend etwas, z. B.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/77>, abgerufen am 25.08.2024.