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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die llberbürdung

Beweises, für den Bau einer Sprache, für die Schönheit eines Gedichts, für
Naturschönheit und Kunstschönheit, für das Spiel der im menschlichen Leben
wirksamen Kräfte, wie die Weltgeschichte es darstellt oder darstellen soll, das
alles geht, jedes zu seiner ^eit, dem Schiller oft ganz plötzlich auf, wie die
knospe über Nacht aufplatzt, und was bis zu diesem Zeitpunkte an Lehre und
Übung aufgewendet wurde, ist Verlorne Mühe. Und zwar gehen diese Lichter
weder allen in demselben Lebensalter, noch allen in derselben Reihenfolge, noch
überhaupt alle allen auf; wie ja anch die Blumen verschiedene Zeiten des
Aufblühens habe" und an Gestalt, Größe, Duft und Farbe verschieden sind.
Der Zwang zur Gleichartigkeit kann nicht anders als verkrüppelnd wirken, und
diese gewaltsame Verkrüppelung wird als Überbürdung empfunden.

Dazu kommt ferner die eiserne Disziplin und die kriminalistische Be¬
handlung jeder Übertretung, jeder Kinderei, vielleicht auch schon jeder unbe¬
queme" Äußerung eines selbständigen Willens. Während man heutzutage im
allgemeinen geneigt ist, den Staatsbürger bis an sein Lebensende als ein un¬
mündiges Kind z>: behandeln, das nicht für sich selbst zu sorge" verstehe und
daher vom Staate bemuttert werden müsse, fordert man vom zwölfjährigen
Knaben in Beziehung anf alles gebotene und verbotene die volle Umsicht und
Selbstbeherrschung des männlichen Alters, indem man jugendliche Vergehungen
und Vergeßlichkeiten zu Verbreche" stempelt, die seinen zukünftigen Lebensgang
nachteilig beeinflussen, die er also, wenn er nicht gewissenlos sein will, unbe¬
dingt "leiden muß. Wie könnten heutige Eltern die gesunde Erziehungspraxis
der Frau Regel Amrhein beobachten, die ihren Georg, wenn sie sah, daß er
ii" Begriff stand, el"e Dummheit zu begehen, ruhig hineintappe" ließ? Das
alles zusanunengenommen erzeugt die Empfindung eines beständigen Druckes,
ähnlich dem Druck bei beginnender Gehirnerweichung, die oft mit Angst gemischt
ist. Der Lehrer kann sich diese Empfindung sehr gut vergegenwärtigen, wenn
er sich vorstellt, es wohnte jeder seiner Stunde" ein Schulrat bei, der fort¬
während auf etwaige Pädagogische Schnitzer lauerte, die ihm Straflektionen,
Sitzenbleiben auf derselben Gehaltsstufe und schließlich Ausstoßung aus dem
Lehrerstande eintragen könnten. Und er wäre immer noch besser dran als der
Schiller, den" erstens würde bei ihm der Zwang nur 20 bis 24 Stunden
in der Woche dauern, und zweitens ist er ein Mann, muß also weit mehr
Trag- und Widerstandskraft besitze".

' Und das alles geht uun jahraus jahrein gleichmäßig, ohne Abwechslung
und vo" den Ferien abgesehen -- ohne Ruhepause fort! Früher konnte
einer in der Untersekunda ein wenig ausruhen, sich sammeln, mit Rückblicken
"ut Vorblicke" beschäftige"!, auch wohl in Allotriis seine Neigungen und Fähig¬
keiten erproben. Wo das bisher noch möglich war, soll es fortan vollends
aufhören; überall soll nach Oberseknnda eine förmliche Versetzung stattfinde".
Früher hatte der Schüler noch zuweilen das Vergnügen, einmal sagen zu


Die llberbürdung

Beweises, für den Bau einer Sprache, für die Schönheit eines Gedichts, für
Naturschönheit und Kunstschönheit, für das Spiel der im menschlichen Leben
wirksamen Kräfte, wie die Weltgeschichte es darstellt oder darstellen soll, das
alles geht, jedes zu seiner ^eit, dem Schiller oft ganz plötzlich auf, wie die
knospe über Nacht aufplatzt, und was bis zu diesem Zeitpunkte an Lehre und
Übung aufgewendet wurde, ist Verlorne Mühe. Und zwar gehen diese Lichter
weder allen in demselben Lebensalter, noch allen in derselben Reihenfolge, noch
überhaupt alle allen auf; wie ja anch die Blumen verschiedene Zeiten des
Aufblühens habe» und an Gestalt, Größe, Duft und Farbe verschieden sind.
Der Zwang zur Gleichartigkeit kann nicht anders als verkrüppelnd wirken, und
diese gewaltsame Verkrüppelung wird als Überbürdung empfunden.

Dazu kommt ferner die eiserne Disziplin und die kriminalistische Be¬
handlung jeder Übertretung, jeder Kinderei, vielleicht auch schon jeder unbe¬
queme» Äußerung eines selbständigen Willens. Während man heutzutage im
allgemeinen geneigt ist, den Staatsbürger bis an sein Lebensende als ein un¬
mündiges Kind z>: behandeln, das nicht für sich selbst zu sorge» verstehe und
daher vom Staate bemuttert werden müsse, fordert man vom zwölfjährigen
Knaben in Beziehung anf alles gebotene und verbotene die volle Umsicht und
Selbstbeherrschung des männlichen Alters, indem man jugendliche Vergehungen
und Vergeßlichkeiten zu Verbreche» stempelt, die seinen zukünftigen Lebensgang
nachteilig beeinflussen, die er also, wenn er nicht gewissenlos sein will, unbe¬
dingt »leiden muß. Wie könnten heutige Eltern die gesunde Erziehungspraxis
der Frau Regel Amrhein beobachten, die ihren Georg, wenn sie sah, daß er
ii» Begriff stand, el»e Dummheit zu begehen, ruhig hineintappe» ließ? Das
alles zusanunengenommen erzeugt die Empfindung eines beständigen Druckes,
ähnlich dem Druck bei beginnender Gehirnerweichung, die oft mit Angst gemischt
ist. Der Lehrer kann sich diese Empfindung sehr gut vergegenwärtigen, wenn
er sich vorstellt, es wohnte jeder seiner Stunde» ein Schulrat bei, der fort¬
während auf etwaige Pädagogische Schnitzer lauerte, die ihm Straflektionen,
Sitzenbleiben auf derselben Gehaltsstufe und schließlich Ausstoßung aus dem
Lehrerstande eintragen könnten. Und er wäre immer noch besser dran als der
Schiller, den» erstens würde bei ihm der Zwang nur 20 bis 24 Stunden
in der Woche dauern, und zweitens ist er ein Mann, muß also weit mehr
Trag- und Widerstandskraft besitze».

' Und das alles geht uun jahraus jahrein gleichmäßig, ohne Abwechslung
und vo» den Ferien abgesehen — ohne Ruhepause fort! Früher konnte
einer in der Untersekunda ein wenig ausruhen, sich sammeln, mit Rückblicken
»ut Vorblicke» beschäftige»!, auch wohl in Allotriis seine Neigungen und Fähig¬
keiten erproben. Wo das bisher noch möglich war, soll es fortan vollends
aufhören; überall soll nach Oberseknnda eine förmliche Versetzung stattfinde».
Früher hatte der Schüler noch zuweilen das Vergnügen, einmal sagen zu


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[0075] Die llberbürdung Beweises, für den Bau einer Sprache, für die Schönheit eines Gedichts, für Naturschönheit und Kunstschönheit, für das Spiel der im menschlichen Leben wirksamen Kräfte, wie die Weltgeschichte es darstellt oder darstellen soll, das alles geht, jedes zu seiner ^eit, dem Schiller oft ganz plötzlich auf, wie die knospe über Nacht aufplatzt, und was bis zu diesem Zeitpunkte an Lehre und Übung aufgewendet wurde, ist Verlorne Mühe. Und zwar gehen diese Lichter weder allen in demselben Lebensalter, noch allen in derselben Reihenfolge, noch überhaupt alle allen auf; wie ja anch die Blumen verschiedene Zeiten des Aufblühens habe» und an Gestalt, Größe, Duft und Farbe verschieden sind. Der Zwang zur Gleichartigkeit kann nicht anders als verkrüppelnd wirken, und diese gewaltsame Verkrüppelung wird als Überbürdung empfunden. Dazu kommt ferner die eiserne Disziplin und die kriminalistische Be¬ handlung jeder Übertretung, jeder Kinderei, vielleicht auch schon jeder unbe¬ queme» Äußerung eines selbständigen Willens. Während man heutzutage im allgemeinen geneigt ist, den Staatsbürger bis an sein Lebensende als ein un¬ mündiges Kind z>: behandeln, das nicht für sich selbst zu sorge» verstehe und daher vom Staate bemuttert werden müsse, fordert man vom zwölfjährigen Knaben in Beziehung anf alles gebotene und verbotene die volle Umsicht und Selbstbeherrschung des männlichen Alters, indem man jugendliche Vergehungen und Vergeßlichkeiten zu Verbreche» stempelt, die seinen zukünftigen Lebensgang nachteilig beeinflussen, die er also, wenn er nicht gewissenlos sein will, unbe¬ dingt »leiden muß. Wie könnten heutige Eltern die gesunde Erziehungspraxis der Frau Regel Amrhein beobachten, die ihren Georg, wenn sie sah, daß er ii» Begriff stand, el»e Dummheit zu begehen, ruhig hineintappe» ließ? Das alles zusanunengenommen erzeugt die Empfindung eines beständigen Druckes, ähnlich dem Druck bei beginnender Gehirnerweichung, die oft mit Angst gemischt ist. Der Lehrer kann sich diese Empfindung sehr gut vergegenwärtigen, wenn er sich vorstellt, es wohnte jeder seiner Stunde» ein Schulrat bei, der fort¬ während auf etwaige Pädagogische Schnitzer lauerte, die ihm Straflektionen, Sitzenbleiben auf derselben Gehaltsstufe und schließlich Ausstoßung aus dem Lehrerstande eintragen könnten. Und er wäre immer noch besser dran als der Schiller, den» erstens würde bei ihm der Zwang nur 20 bis 24 Stunden in der Woche dauern, und zweitens ist er ein Mann, muß also weit mehr Trag- und Widerstandskraft besitze». ' Und das alles geht uun jahraus jahrein gleichmäßig, ohne Abwechslung und vo» den Ferien abgesehen — ohne Ruhepause fort! Früher konnte einer in der Untersekunda ein wenig ausruhen, sich sammeln, mit Rückblicken »ut Vorblicke» beschäftige»!, auch wohl in Allotriis seine Neigungen und Fähig¬ keiten erproben. Wo das bisher noch möglich war, soll es fortan vollends aufhören; überall soll nach Oberseknnda eine förmliche Versetzung stattfinde». Früher hatte der Schüler noch zuweilen das Vergnügen, einmal sagen zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/75>, abgerufen am 25.08.2024.