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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die Uberl'in'dung

die Gegenstände, in denen er unterrichtete: lateinische und griechische Dichter,
Französisch, deutsche Litteratur, deutschen Aufsatz, philosophische Propädeutik,
in vielfache Verbindung mit einander zu bringen wußte > und aus selbständiges
Urteil. Das letztere wurde dadurch geübt, das; er uns daran gewöhnte, über
Gegenstände, die uns nicht ohne weiteres klar waren, namentlich in der Logik
und Psychologie, ganz frei mit ihm zu disputiren. Nicht selten behielten wir
Recht gegen ihn; zuweilen gestand er eS in der nächsten Stunde zu mir den
Wortein "N,, ich habe mir die Sache überlegt, Sie haben doch Recht!" Er
richtete anch eine Stunde für freien Vortrag ein. Der Vortragende hatte seine
Behauptungen gegen die Angriffe der Opponenten zu verteidigen, und einer
protokollirre die Verhandlung. Für die ganze Anstalt war Freitag von elf
bis zwölf eine ästhetische Stunde angesetzt, die aus abwechselnden Gesängen
und Vortragen oder Deklamationen bestand. Die Schüler, die nichts dabei
zu thun hatten, saßen vor dem Podium und hörten zu oder trieben, was sie
^use hatten.

Die letzten vier Jahre hindurch wohnte ich im Kouvikt. Hier herrschte
eine strenge, auf Selbstregierung, genauer gesagt, Regierung der jüngern
Schüler durch die ältern, gegründete Hausordnung, im übrigen völlige Freiheit.
Die freie Zeit war sehr reichlich bemessen, und niemand kümmerte sich darum,
was Nur in ihr trieben. Die einzige Beschränkung bestand darin, das; wir de^
Winters in der Zeit von sieben bis nenn Uhr abends nicht ausgehen durften.
Aber gearbeitet wurde da nicht, sondern geplaudert, oder Schach gespielt, oder
gelesen, oder in dem geräumigen Hofe gespielt, oder anch gebalgt; im Speise¬
saale wurde oft gesungen und musizirt, zuweilen auch getanzt. Der Lärm im
größten Arbeitszimmer, das den stolzen Namen Museum führte, war vor und
uach den Studien meistens betäubend, aber der gegeuüberwvhueude Regens
hatte nichts dagegen. 5kam er einmal herein, um irgend etwas anzuordnen,
so machten wir natürlich Honneurs. Wurde um fünf Uhr das Glockenzeichen
zum Studium gegeben, so war eS im ganzen Hause augenblicklich mmischenftill.
Früh vom Aufstehen (im Sommer um halb fünf, im Winter um halb sechs)
bis zur Frühstückpause um sieben Uhr durfte nicht laut gesprochen werden.
Der Gewohnheit des frühen Aufstehens und des Stillschweigens in den
Morgenstunden bin ich bis heute treu geblieben. Nach dem Abendgebet ver¬
stummte das laute Gespräch wieder. Die Jüngern mußten zu Bett gehen
und, falls sie noch arbeiten wollten, die Genehmigung des Zimmerältesten
(Präfekten) dazu nachsuchen, auch ihr eignes Licht brennen. (Der Schüler, der
alle Zimmer mit Lichtern zu versorgen hatte, führte den Titel Caudelar.) Die
sekundärer und Primaner hatten das Recht, so lange sie wollten, aufzubleiben,
zu arbeiten oder sich leise zu unterhalten. Gewöhnlich wurde diese Zeit zu
irgend einem Lieblingsstudium benutzt, das einige Freunde gemeinsam betrieben.
An Allotriis, zu dieser und zu andern Zeiten, fehlte eS auch nicht, doch wurde


Die Uberl'in'dung

die Gegenstände, in denen er unterrichtete: lateinische und griechische Dichter,
Französisch, deutsche Litteratur, deutschen Aufsatz, philosophische Propädeutik,
in vielfache Verbindung mit einander zu bringen wußte > und aus selbständiges
Urteil. Das letztere wurde dadurch geübt, das; er uns daran gewöhnte, über
Gegenstände, die uns nicht ohne weiteres klar waren, namentlich in der Logik
und Psychologie, ganz frei mit ihm zu disputiren. Nicht selten behielten wir
Recht gegen ihn; zuweilen gestand er eS in der nächsten Stunde zu mir den
Wortein „N,, ich habe mir die Sache überlegt, Sie haben doch Recht!" Er
richtete anch eine Stunde für freien Vortrag ein. Der Vortragende hatte seine
Behauptungen gegen die Angriffe der Opponenten zu verteidigen, und einer
protokollirre die Verhandlung. Für die ganze Anstalt war Freitag von elf
bis zwölf eine ästhetische Stunde angesetzt, die aus abwechselnden Gesängen
und Vortragen oder Deklamationen bestand. Die Schüler, die nichts dabei
zu thun hatten, saßen vor dem Podium und hörten zu oder trieben, was sie
^use hatten.

Die letzten vier Jahre hindurch wohnte ich im Kouvikt. Hier herrschte
eine strenge, auf Selbstregierung, genauer gesagt, Regierung der jüngern
Schüler durch die ältern, gegründete Hausordnung, im übrigen völlige Freiheit.
Die freie Zeit war sehr reichlich bemessen, und niemand kümmerte sich darum,
was Nur in ihr trieben. Die einzige Beschränkung bestand darin, das; wir de^
Winters in der Zeit von sieben bis nenn Uhr abends nicht ausgehen durften.
Aber gearbeitet wurde da nicht, sondern geplaudert, oder Schach gespielt, oder
gelesen, oder in dem geräumigen Hofe gespielt, oder anch gebalgt; im Speise¬
saale wurde oft gesungen und musizirt, zuweilen auch getanzt. Der Lärm im
größten Arbeitszimmer, das den stolzen Namen Museum führte, war vor und
uach den Studien meistens betäubend, aber der gegeuüberwvhueude Regens
hatte nichts dagegen. 5kam er einmal herein, um irgend etwas anzuordnen,
so machten wir natürlich Honneurs. Wurde um fünf Uhr das Glockenzeichen
zum Studium gegeben, so war eS im ganzen Hause augenblicklich mmischenftill.
Früh vom Aufstehen (im Sommer um halb fünf, im Winter um halb sechs)
bis zur Frühstückpause um sieben Uhr durfte nicht laut gesprochen werden.
Der Gewohnheit des frühen Aufstehens und des Stillschweigens in den
Morgenstunden bin ich bis heute treu geblieben. Nach dem Abendgebet ver¬
stummte das laute Gespräch wieder. Die Jüngern mußten zu Bett gehen
und, falls sie noch arbeiten wollten, die Genehmigung des Zimmerältesten
(Präfekten) dazu nachsuchen, auch ihr eignes Licht brennen. (Der Schüler, der
alle Zimmer mit Lichtern zu versorgen hatte, führte den Titel Caudelar.) Die
sekundärer und Primaner hatten das Recht, so lange sie wollten, aufzubleiben,
zu arbeiten oder sich leise zu unterhalten. Gewöhnlich wurde diese Zeit zu
irgend einem Lieblingsstudium benutzt, das einige Freunde gemeinsam betrieben.
An Allotriis, zu dieser und zu andern Zeiten, fehlte eS auch nicht, doch wurde


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[0072] Die Uberl'in'dung die Gegenstände, in denen er unterrichtete: lateinische und griechische Dichter, Französisch, deutsche Litteratur, deutschen Aufsatz, philosophische Propädeutik, in vielfache Verbindung mit einander zu bringen wußte > und aus selbständiges Urteil. Das letztere wurde dadurch geübt, das; er uns daran gewöhnte, über Gegenstände, die uns nicht ohne weiteres klar waren, namentlich in der Logik und Psychologie, ganz frei mit ihm zu disputiren. Nicht selten behielten wir Recht gegen ihn; zuweilen gestand er eS in der nächsten Stunde zu mir den Wortein „N,, ich habe mir die Sache überlegt, Sie haben doch Recht!" Er richtete anch eine Stunde für freien Vortrag ein. Der Vortragende hatte seine Behauptungen gegen die Angriffe der Opponenten zu verteidigen, und einer protokollirre die Verhandlung. Für die ganze Anstalt war Freitag von elf bis zwölf eine ästhetische Stunde angesetzt, die aus abwechselnden Gesängen und Vortragen oder Deklamationen bestand. Die Schüler, die nichts dabei zu thun hatten, saßen vor dem Podium und hörten zu oder trieben, was sie ^use hatten. Die letzten vier Jahre hindurch wohnte ich im Kouvikt. Hier herrschte eine strenge, auf Selbstregierung, genauer gesagt, Regierung der jüngern Schüler durch die ältern, gegründete Hausordnung, im übrigen völlige Freiheit. Die freie Zeit war sehr reichlich bemessen, und niemand kümmerte sich darum, was Nur in ihr trieben. Die einzige Beschränkung bestand darin, das; wir de^ Winters in der Zeit von sieben bis nenn Uhr abends nicht ausgehen durften. Aber gearbeitet wurde da nicht, sondern geplaudert, oder Schach gespielt, oder gelesen, oder in dem geräumigen Hofe gespielt, oder anch gebalgt; im Speise¬ saale wurde oft gesungen und musizirt, zuweilen auch getanzt. Der Lärm im größten Arbeitszimmer, das den stolzen Namen Museum führte, war vor und uach den Studien meistens betäubend, aber der gegeuüberwvhueude Regens hatte nichts dagegen. 5kam er einmal herein, um irgend etwas anzuordnen, so machten wir natürlich Honneurs. Wurde um fünf Uhr das Glockenzeichen zum Studium gegeben, so war eS im ganzen Hause augenblicklich mmischenftill. Früh vom Aufstehen (im Sommer um halb fünf, im Winter um halb sechs) bis zur Frühstückpause um sieben Uhr durfte nicht laut gesprochen werden. Der Gewohnheit des frühen Aufstehens und des Stillschweigens in den Morgenstunden bin ich bis heute treu geblieben. Nach dem Abendgebet ver¬ stummte das laute Gespräch wieder. Die Jüngern mußten zu Bett gehen und, falls sie noch arbeiten wollten, die Genehmigung des Zimmerältesten (Präfekten) dazu nachsuchen, auch ihr eignes Licht brennen. (Der Schüler, der alle Zimmer mit Lichtern zu versorgen hatte, führte den Titel Caudelar.) Die sekundärer und Primaner hatten das Recht, so lange sie wollten, aufzubleiben, zu arbeiten oder sich leise zu unterhalten. Gewöhnlich wurde diese Zeit zu irgend einem Lieblingsstudium benutzt, das einige Freunde gemeinsam betrieben. An Allotriis, zu dieser und zu andern Zeiten, fehlte eS auch nicht, doch wurde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/72>, abgerufen am 23.07.2024.