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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die Ubertmrdnng

''Hiebe von, Lehrer thaten nicht mehr weh als die von Kameraden, und das
nachsitzen trug nicht, wie hente schon jede ins Klassenbuch eingetragene Rüge,
den Charakter einer Kriminalstrafe, die für die Zukunft des Schülers ver¬
hängnisvoll werden kann, sondern war lediglich eine pädagogische Maßregel.
So mußte ich in der Sekunda fast jeden Sonnabend über Mittag dableibe".
Wir bekamen da nämlich die deutschen Aufsätze zurück, und meiner war zwar
immer gut oder befriedigend, aber so schlecht geschrieben, daß ich ihn nochmals
abschreiben mußte. Sobald ich damit fertig war, ging ich zum Herrn Kor¬
rektor hinüber, um das Heft vorzuzeigen. Das Zimmer, worin man schrieb,
wurde nämlich nicht verschlossen, das nachsitzen war ja nur zum Abschreiben
notwendig und sollte nicht etwa ein Arrest sein. Eines Sonnabends über¬
reichte ich das Heft mit den Worten: "Herr Korrektor, es ist wieder recht
schlecht ausgefallen; ich hatte eine so schlechte Feder." Darauf sagte er: "Wart'
ein bischen!" holte eine Feder und gab sie mir, indem er lächelnd sagte: "Hier
hast du eine ganz gute Feder, da schreib es nur noch einmal ab!" Das störte
die Gemütlichkeit und das gute Einvernehmen nicht im mindesten und hinderte
nicht, daß ich der erste in der Klasse war und blieb. Ebenso wenig hatte es
zu Hanse unangenehme Folgen. Die Mutter war bald darauf eingerichtet
und stellte nur jeden Sonnabend meine Erbsen warm. Genützt hat es freilich
nichts, wie mir der Setzer bezeugen wird.") Daß sich Jungen wegen erlittener
Schulstrafen oder wegen Sitzenbleibens erhängen könnten, würde der damaligen
Generation, wenn es jemand vorausgesagt Hütte, unglaublich vorgekommen
sein. Schulstraseu gehörten vielmehr zu den Ereignissen, die Abwechslung
ins sehnlicher brachten und es amüsant machten.

Nachdem ich ein halbes Jahr in der Bürgerschnlprima gesessen hatte,
siedelte ich in das Gymnasium zu G. über, no ich wegen meiner Schwäche
in der lateinischen Grammatik bis in die Quarta hiuabrutschte. Hier wurde
nun die Gemütlichkeit schon ziemlich stark vom kategorischen Imperativ beein¬
trächtigt. Im ersten Vierteljahre war ich zweimal so unglücklich, wegen
Nichtaufertiguug einer aufgegebenen schriftliche" Arbeit nachsitzen zu müssen.
Noch erinnere ich mich lebhaft des Entsetzens, das mich ergriff, als ich die
Schlüssel des Pedells klirren hörte, der mich einschloß. Das war ein wirk¬
licher Arrest! Dazu empörte sich mein Inneres bei dem Bewußtsein meiner
Schuldlosigkeit. Ich arbeitete auch an der neuen Anstalt mit Vergnügen und
meiner Ansicht nach mehr, als die strenge Verpflichtung auferlegte. Die beideu
Kleinigkeiten, die mich ins Gefängnis brachten, hatte ich vergessen zu machen,
und was kann man dafür, dachte ich, wenn einem etwas nicht einfällt? Aber
die Strafe wirkte. Das Wort "vergessen" war seitdem für die Praxis ans



Ganz im Gegenteil, ich freue mich stets über die klare, deutliche, jeden Zweifel aus.
Der Setzer. schließende Handschrift.
Die Ubertmrdnng

''Hiebe von, Lehrer thaten nicht mehr weh als die von Kameraden, und das
nachsitzen trug nicht, wie hente schon jede ins Klassenbuch eingetragene Rüge,
den Charakter einer Kriminalstrafe, die für die Zukunft des Schülers ver¬
hängnisvoll werden kann, sondern war lediglich eine pädagogische Maßregel.
So mußte ich in der Sekunda fast jeden Sonnabend über Mittag dableibe».
Wir bekamen da nämlich die deutschen Aufsätze zurück, und meiner war zwar
immer gut oder befriedigend, aber so schlecht geschrieben, daß ich ihn nochmals
abschreiben mußte. Sobald ich damit fertig war, ging ich zum Herrn Kor¬
rektor hinüber, um das Heft vorzuzeigen. Das Zimmer, worin man schrieb,
wurde nämlich nicht verschlossen, das nachsitzen war ja nur zum Abschreiben
notwendig und sollte nicht etwa ein Arrest sein. Eines Sonnabends über¬
reichte ich das Heft mit den Worten: „Herr Korrektor, es ist wieder recht
schlecht ausgefallen; ich hatte eine so schlechte Feder." Darauf sagte er: „Wart'
ein bischen!" holte eine Feder und gab sie mir, indem er lächelnd sagte: „Hier
hast du eine ganz gute Feder, da schreib es nur noch einmal ab!" Das störte
die Gemütlichkeit und das gute Einvernehmen nicht im mindesten und hinderte
nicht, daß ich der erste in der Klasse war und blieb. Ebenso wenig hatte es
zu Hanse unangenehme Folgen. Die Mutter war bald darauf eingerichtet
und stellte nur jeden Sonnabend meine Erbsen warm. Genützt hat es freilich
nichts, wie mir der Setzer bezeugen wird.") Daß sich Jungen wegen erlittener
Schulstrafen oder wegen Sitzenbleibens erhängen könnten, würde der damaligen
Generation, wenn es jemand vorausgesagt Hütte, unglaublich vorgekommen
sein. Schulstraseu gehörten vielmehr zu den Ereignissen, die Abwechslung
ins sehnlicher brachten und es amüsant machten.

Nachdem ich ein halbes Jahr in der Bürgerschnlprima gesessen hatte,
siedelte ich in das Gymnasium zu G. über, no ich wegen meiner Schwäche
in der lateinischen Grammatik bis in die Quarta hiuabrutschte. Hier wurde
nun die Gemütlichkeit schon ziemlich stark vom kategorischen Imperativ beein¬
trächtigt. Im ersten Vierteljahre war ich zweimal so unglücklich, wegen
Nichtaufertiguug einer aufgegebenen schriftliche» Arbeit nachsitzen zu müssen.
Noch erinnere ich mich lebhaft des Entsetzens, das mich ergriff, als ich die
Schlüssel des Pedells klirren hörte, der mich einschloß. Das war ein wirk¬
licher Arrest! Dazu empörte sich mein Inneres bei dem Bewußtsein meiner
Schuldlosigkeit. Ich arbeitete auch an der neuen Anstalt mit Vergnügen und
meiner Ansicht nach mehr, als die strenge Verpflichtung auferlegte. Die beideu
Kleinigkeiten, die mich ins Gefängnis brachten, hatte ich vergessen zu machen,
und was kann man dafür, dachte ich, wenn einem etwas nicht einfällt? Aber
die Strafe wirkte. Das Wort „vergessen" war seitdem für die Praxis ans



Ganz im Gegenteil, ich freue mich stets über die klare, deutliche, jeden Zweifel aus.
Der Setzer. schließende Handschrift.
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[0068] Die Ubertmrdnng ''Hiebe von, Lehrer thaten nicht mehr weh als die von Kameraden, und das nachsitzen trug nicht, wie hente schon jede ins Klassenbuch eingetragene Rüge, den Charakter einer Kriminalstrafe, die für die Zukunft des Schülers ver¬ hängnisvoll werden kann, sondern war lediglich eine pädagogische Maßregel. So mußte ich in der Sekunda fast jeden Sonnabend über Mittag dableibe». Wir bekamen da nämlich die deutschen Aufsätze zurück, und meiner war zwar immer gut oder befriedigend, aber so schlecht geschrieben, daß ich ihn nochmals abschreiben mußte. Sobald ich damit fertig war, ging ich zum Herrn Kor¬ rektor hinüber, um das Heft vorzuzeigen. Das Zimmer, worin man schrieb, wurde nämlich nicht verschlossen, das nachsitzen war ja nur zum Abschreiben notwendig und sollte nicht etwa ein Arrest sein. Eines Sonnabends über¬ reichte ich das Heft mit den Worten: „Herr Korrektor, es ist wieder recht schlecht ausgefallen; ich hatte eine so schlechte Feder." Darauf sagte er: „Wart' ein bischen!" holte eine Feder und gab sie mir, indem er lächelnd sagte: „Hier hast du eine ganz gute Feder, da schreib es nur noch einmal ab!" Das störte die Gemütlichkeit und das gute Einvernehmen nicht im mindesten und hinderte nicht, daß ich der erste in der Klasse war und blieb. Ebenso wenig hatte es zu Hanse unangenehme Folgen. Die Mutter war bald darauf eingerichtet und stellte nur jeden Sonnabend meine Erbsen warm. Genützt hat es freilich nichts, wie mir der Setzer bezeugen wird.") Daß sich Jungen wegen erlittener Schulstrafen oder wegen Sitzenbleibens erhängen könnten, würde der damaligen Generation, wenn es jemand vorausgesagt Hütte, unglaublich vorgekommen sein. Schulstraseu gehörten vielmehr zu den Ereignissen, die Abwechslung ins sehnlicher brachten und es amüsant machten. Nachdem ich ein halbes Jahr in der Bürgerschnlprima gesessen hatte, siedelte ich in das Gymnasium zu G. über, no ich wegen meiner Schwäche in der lateinischen Grammatik bis in die Quarta hiuabrutschte. Hier wurde nun die Gemütlichkeit schon ziemlich stark vom kategorischen Imperativ beein¬ trächtigt. Im ersten Vierteljahre war ich zweimal so unglücklich, wegen Nichtaufertiguug einer aufgegebenen schriftliche» Arbeit nachsitzen zu müssen. Noch erinnere ich mich lebhaft des Entsetzens, das mich ergriff, als ich die Schlüssel des Pedells klirren hörte, der mich einschloß. Das war ein wirk¬ licher Arrest! Dazu empörte sich mein Inneres bei dem Bewußtsein meiner Schuldlosigkeit. Ich arbeitete auch an der neuen Anstalt mit Vergnügen und meiner Ansicht nach mehr, als die strenge Verpflichtung auferlegte. Die beideu Kleinigkeiten, die mich ins Gefängnis brachten, hatte ich vergessen zu machen, und was kann man dafür, dachte ich, wenn einem etwas nicht einfällt? Aber die Strafe wirkte. Das Wort „vergessen" war seitdem für die Praxis ans Ganz im Gegenteil, ich freue mich stets über die klare, deutliche, jeden Zweifel aus. Der Setzer. schließende Handschrift.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/68>, abgerufen am 23.07.2024.