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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die Überbürdung

herum und plauderten mit ihm. Der steife und gewissenhafte Korrektor gab
niemals eine Stunde frei -- wir hätten gar nicht gewagt, ihn darum zu
bitten --, aber er mußte uns bei schöner Schlittenbahn wie bei schönem Sommer¬
wetter manchmal vom Kirchberge hereinholen, um dein die Schulgebäude um
die Kirche herum malerisch hinauf liegen. Das Lateinische wurde ohne feste
Methode von verschiednen Lehrern mit geringem Erfolge gelehrt; in der Prima
lasen wir Cäsar und Ovid.

Acht Wochen nach Vollendung meines dreizehnten Lebensjahres stieg ich
mit einem vierzehnjährigen Freunde in die Prima aus; die sechs Burschen, die
mir dort als alten Bestand antrafen, waren sechzehnjährig. Für das Auf¬
steigen gab es an dieser Schule so wenig wie für die übrigen Dinge mecha¬
nisch gehaudhnbte Vorschriften. Es war zwar jeder Klasse im allgemeinen ihr
Lehrstoff zugeteilt, aber es gab kein Lehrziel im heutigen Sinne, und noch
weniger wurde der Schiller mit dem mechanischen Maßstabe der Fehlcrsummeu
gemessen. Was einer nicht lernen konnte oder mochte, das ließ er einfach
umgelernt, und gefiel es einem in der ,,Quarte" oder ,,Terze" ganz ausneh-
mend, so blieb er ein paar Jahre drin sitzen, ohne daß es ihm zu besondrer
l wehre oder Betrübnis gereicht hätte. Wer dagegen Eifer und Talent zeigte,
stieg jedes Jahr auf. Die meisten gingen mit vierzehn Jahren aus der Quarta
oder Tertia ab und in die Lehre. Die höher hiunufwollteu und konnten,
mürden später Kaufleute oder gingen zu dem damals im ersten Aufschwünge
begriffenen Maschinenbau- und den, Eisenbahufnche über. Das Berechtigungs-
wesen kannte man noch nicht. Man fragte nicht, von welcher Schule der
junge Manu herkomme und was er für ein Zeugnis mitbringe, sondern wie
er sich zu der Sache anstelle. Nicht wenige meiner damaligen Mitschüler, die
heutzutage wegen Mangels der erforderlichen "Qualifikation" alle Zugänge zu
mittlern und höhern Beamtenstelluugen wie zum Ingenieurfach verrammelt
finden würden, haben sehr gute Karriere gemacht. Daß es so etwas wie
Schulräte, ein Provinzialschnlkolleginnl und Inspektionen gebe, davon hatten
wir keine Ahnung.

Mau wird begreifen, daß sich unter diesen Umständen keiner von un5
überbürdet fühlte. Lehrer und Schüler lebten und arbeiteten ein jeder nach
seinem Temperament und seinen sonstigen Eigentümlichkeiten. Jeder beschäftigte
sich am meisten mit dem, wozu er am meiste" Lust hatte, und die Vernach¬
lässigung des andern wurde ihm nicht als Verbrechen angerechnet. Jeder
arbeitete in dem Tempo, das seiner Natur entsprach. Eilte er den andern
voraus, so hielt ihn kein Pedant mit Berufung auf Regierungsverordnungen
zurück; nahm er sich Zeit, so drangsalirte ihn niemand mit Strafen oder mit
Anfstachelnng des Ehrgeizes oder mit dem Hinweis anf die drohende Ver¬
nichtung der Existenz zur Eile. Die Schnlstrafen bereiteten keinem auch uur
das geringste Herzeleid, denn sie hatten schlechterdings keine Folgen fürs Leben.


Die Überbürdung

herum und plauderten mit ihm. Der steife und gewissenhafte Korrektor gab
niemals eine Stunde frei — wir hätten gar nicht gewagt, ihn darum zu
bitten —, aber er mußte uns bei schöner Schlittenbahn wie bei schönem Sommer¬
wetter manchmal vom Kirchberge hereinholen, um dein die Schulgebäude um
die Kirche herum malerisch hinauf liegen. Das Lateinische wurde ohne feste
Methode von verschiednen Lehrern mit geringem Erfolge gelehrt; in der Prima
lasen wir Cäsar und Ovid.

Acht Wochen nach Vollendung meines dreizehnten Lebensjahres stieg ich
mit einem vierzehnjährigen Freunde in die Prima aus; die sechs Burschen, die
mir dort als alten Bestand antrafen, waren sechzehnjährig. Für das Auf¬
steigen gab es an dieser Schule so wenig wie für die übrigen Dinge mecha¬
nisch gehaudhnbte Vorschriften. Es war zwar jeder Klasse im allgemeinen ihr
Lehrstoff zugeteilt, aber es gab kein Lehrziel im heutigen Sinne, und noch
weniger wurde der Schiller mit dem mechanischen Maßstabe der Fehlcrsummeu
gemessen. Was einer nicht lernen konnte oder mochte, das ließ er einfach
umgelernt, und gefiel es einem in der ,,Quarte" oder ,,Terze" ganz ausneh-
mend, so blieb er ein paar Jahre drin sitzen, ohne daß es ihm zu besondrer
l wehre oder Betrübnis gereicht hätte. Wer dagegen Eifer und Talent zeigte,
stieg jedes Jahr auf. Die meisten gingen mit vierzehn Jahren aus der Quarta
oder Tertia ab und in die Lehre. Die höher hiunufwollteu und konnten,
mürden später Kaufleute oder gingen zu dem damals im ersten Aufschwünge
begriffenen Maschinenbau- und den, Eisenbahufnche über. Das Berechtigungs-
wesen kannte man noch nicht. Man fragte nicht, von welcher Schule der
junge Manu herkomme und was er für ein Zeugnis mitbringe, sondern wie
er sich zu der Sache anstelle. Nicht wenige meiner damaligen Mitschüler, die
heutzutage wegen Mangels der erforderlichen „Qualifikation" alle Zugänge zu
mittlern und höhern Beamtenstelluugen wie zum Ingenieurfach verrammelt
finden würden, haben sehr gute Karriere gemacht. Daß es so etwas wie
Schulräte, ein Provinzialschnlkolleginnl und Inspektionen gebe, davon hatten
wir keine Ahnung.

Mau wird begreifen, daß sich unter diesen Umständen keiner von un5
überbürdet fühlte. Lehrer und Schüler lebten und arbeiteten ein jeder nach
seinem Temperament und seinen sonstigen Eigentümlichkeiten. Jeder beschäftigte
sich am meisten mit dem, wozu er am meiste» Lust hatte, und die Vernach¬
lässigung des andern wurde ihm nicht als Verbrechen angerechnet. Jeder
arbeitete in dem Tempo, das seiner Natur entsprach. Eilte er den andern
voraus, so hielt ihn kein Pedant mit Berufung auf Regierungsverordnungen
zurück; nahm er sich Zeit, so drangsalirte ihn niemand mit Strafen oder mit
Anfstachelnng des Ehrgeizes oder mit dem Hinweis anf die drohende Ver¬
nichtung der Existenz zur Eile. Die Schnlstrafen bereiteten keinem auch uur
das geringste Herzeleid, denn sie hatten schlechterdings keine Folgen fürs Leben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/67>, abgerufen am 25.08.2024.