Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Nberl'nrdung

-- Knaben und Mädchen saßen einander gegenüber --, und es wurden immer
dieselben gerufen, sodaß die Lesung auf zwei bis drei Paare beschränkt blieb.
Ob die plöb^ einmal Rebellion gemacht hat, um den Ring zu sprengen und
ihren Anteil an dein von der Aristokratie freventlich Monopolisten heiligen
Lande zurückzuerobern, oder ob sie uns diesen idealen Besitz nnbeneidet über¬
lassen und sich mit dem derberen Spaß entschädigt hat, an dein es anch nicht
fehlte, daran kann ich mich nicht mehr erinnern,

Ju der "Quarte" saßen oder vielmehr räkelten sich nur Knaben, und was
für Knaben! Hier sammelte sich nämlich alles an, was entweder nicht Lust
oder nicht die Fähigkeit hatte, in die höhern Regionen des Wissens empor¬
zusteigen. Unter einer Horde streitender Fnbrikjungen kann es nicht roher und
wilder zugehen, als wie es nnter uns Quartanern zuging. Qbwvhl ich aber
el" schwächliches Kerlchen war, habe ich doch nur mäßig Prügel bekommen,
weil ich immer mit einigen Riesen gut befreundet war, die mich gegen die
übrige Bande verteidigten. An Spaß fehlte es natürlich keinen Tag, namentlich
für einen, der keine Schläge zu fürchten hatte, nieder vom, Lehrer noch von
den Mitschülern. Ein Hauptspaß war im Sommer die Fnßparade, die der
Ordinarius wöchentlich einmal abhielt. Er setzte sich, mit den, Rohrstock be¬
waffnet, so ans die Kante einer Bank, daß er mit der gegenüberliegenden
Fensternische einen Engpaß bildete. Durch diesen Engpaß mußte die Klasse
im Gänsemarsch defiliren. Wir Bestieselten schritten mit hochmütiger Gleich¬
gültigkeit hindurch, die Barfüßler aber, und die waren in der Mehrheit, nnr
dann, wenn sie ein reines Gewissen, d. h. in diesem Falle gewaschne Füße
hatten. Die übrigen traf ein wohlgezielter Hieb, oder er traf sie anch nicht,
wenn sie rechtzeitig mit kühnem Sprung über die gefährliche Stelle wegsetzten,
und uns übrigen machten die geglückten wie die mißglückter Sprünge gleichen
Spaß.

In der Tertia verursachte mir anfänglich das Französische große
Schwierigkeit. Der Lehrer betrieb es nämlich nach Jacotots Methode und
schrieb einen Satz nach dem andern aus dem ^lmnaHllL, ihn gleichzeitig auS-
sprecheud, an die Schultafel, ich aber war schon damals so kurzsichtig, daß ich
nicht bis dahin sehen konnte. Hund und Igel können beim ersten Zusammen¬
prall nicht verwunderter und erzürnter über einander sein, wie wir beiden:
er über mein: KÄipso uöppuvvä "e lcongsolob, und ich über seine,! mir unver¬
ständlichen Zorn. Es dauerte el" Weilchen, ehe wir darauf kamen, woran es
lag. Später bekamen wir ein gedrucktes Büchlein in die Hand, das besonders
einem sehr gute Dienste that, der zu Schnlzwecken das Stottern erlernt hatte
(nebenbei bemerkt, die häufigste Ursprnngsnrt dieser Krankheit). Beim Abhören
des zum Auswendiglernen ausgegebnen Abschnittes pflegte der Lehrer vor der
ersten Bank, ans deren einem Ende der Stammler saß, auf- und abzugehen.
So lauge jener den Rücken wandte, schaute dieser ius Buch und reichte dank


Die Nberl'nrdung

— Knaben und Mädchen saßen einander gegenüber —, und es wurden immer
dieselben gerufen, sodaß die Lesung auf zwei bis drei Paare beschränkt blieb.
Ob die plöb^ einmal Rebellion gemacht hat, um den Ring zu sprengen und
ihren Anteil an dein von der Aristokratie freventlich Monopolisten heiligen
Lande zurückzuerobern, oder ob sie uns diesen idealen Besitz nnbeneidet über¬
lassen und sich mit dem derberen Spaß entschädigt hat, an dein es anch nicht
fehlte, daran kann ich mich nicht mehr erinnern,

Ju der „Quarte" saßen oder vielmehr räkelten sich nur Knaben, und was
für Knaben! Hier sammelte sich nämlich alles an, was entweder nicht Lust
oder nicht die Fähigkeit hatte, in die höhern Regionen des Wissens empor¬
zusteigen. Unter einer Horde streitender Fnbrikjungen kann es nicht roher und
wilder zugehen, als wie es nnter uns Quartanern zuging. Qbwvhl ich aber
el» schwächliches Kerlchen war, habe ich doch nur mäßig Prügel bekommen,
weil ich immer mit einigen Riesen gut befreundet war, die mich gegen die
übrige Bande verteidigten. An Spaß fehlte es natürlich keinen Tag, namentlich
für einen, der keine Schläge zu fürchten hatte, nieder vom, Lehrer noch von
den Mitschülern. Ein Hauptspaß war im Sommer die Fnßparade, die der
Ordinarius wöchentlich einmal abhielt. Er setzte sich, mit den, Rohrstock be¬
waffnet, so ans die Kante einer Bank, daß er mit der gegenüberliegenden
Fensternische einen Engpaß bildete. Durch diesen Engpaß mußte die Klasse
im Gänsemarsch defiliren. Wir Bestieselten schritten mit hochmütiger Gleich¬
gültigkeit hindurch, die Barfüßler aber, und die waren in der Mehrheit, nnr
dann, wenn sie ein reines Gewissen, d. h. in diesem Falle gewaschne Füße
hatten. Die übrigen traf ein wohlgezielter Hieb, oder er traf sie anch nicht,
wenn sie rechtzeitig mit kühnem Sprung über die gefährliche Stelle wegsetzten,
und uns übrigen machten die geglückten wie die mißglückter Sprünge gleichen
Spaß.

In der Tertia verursachte mir anfänglich das Französische große
Schwierigkeit. Der Lehrer betrieb es nämlich nach Jacotots Methode und
schrieb einen Satz nach dem andern aus dem ^lmnaHllL, ihn gleichzeitig auS-
sprecheud, an die Schultafel, ich aber war schon damals so kurzsichtig, daß ich
nicht bis dahin sehen konnte. Hund und Igel können beim ersten Zusammen¬
prall nicht verwunderter und erzürnter über einander sein, wie wir beiden:
er über mein: KÄipso uöppuvvä »e lcongsolob, und ich über seine,! mir unver¬
ständlichen Zorn. Es dauerte el» Weilchen, ehe wir darauf kamen, woran es
lag. Später bekamen wir ein gedrucktes Büchlein in die Hand, das besonders
einem sehr gute Dienste that, der zu Schnlzwecken das Stottern erlernt hatte
(nebenbei bemerkt, die häufigste Ursprnngsnrt dieser Krankheit). Beim Abhören
des zum Auswendiglernen ausgegebnen Abschnittes pflegte der Lehrer vor der
ersten Bank, ans deren einem Ende der Stammler saß, auf- und abzugehen.
So lauge jener den Rücken wandte, schaute dieser ius Buch und reichte dank


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0064" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209297"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Nberl'nrdung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_169" prev="#ID_168"> &#x2014; Knaben und Mädchen saßen einander gegenüber &#x2014;, und es wurden immer<lb/>
dieselben gerufen, sodaß die Lesung auf zwei bis drei Paare beschränkt blieb.<lb/>
Ob die plöb^ einmal Rebellion gemacht hat, um den Ring zu sprengen und<lb/>
ihren Anteil an dein von der Aristokratie freventlich Monopolisten heiligen<lb/>
Lande zurückzuerobern, oder ob sie uns diesen idealen Besitz nnbeneidet über¬<lb/>
lassen und sich mit dem derberen Spaß entschädigt hat, an dein es anch nicht<lb/>
fehlte, daran kann ich mich nicht mehr erinnern,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_170"> Ju der &#x201E;Quarte" saßen oder vielmehr räkelten sich nur Knaben, und was<lb/>
für Knaben! Hier sammelte sich nämlich alles an, was entweder nicht Lust<lb/>
oder nicht die Fähigkeit hatte, in die höhern Regionen des Wissens empor¬<lb/>
zusteigen. Unter einer Horde streitender Fnbrikjungen kann es nicht roher und<lb/>
wilder zugehen, als wie es nnter uns Quartanern zuging. Qbwvhl ich aber<lb/>
el» schwächliches Kerlchen war, habe ich doch nur mäßig Prügel bekommen,<lb/>
weil ich immer mit einigen Riesen gut befreundet war, die mich gegen die<lb/>
übrige Bande verteidigten. An Spaß fehlte es natürlich keinen Tag, namentlich<lb/>
für einen, der keine Schläge zu fürchten hatte, nieder vom, Lehrer noch von<lb/>
den Mitschülern. Ein Hauptspaß war im Sommer die Fnßparade, die der<lb/>
Ordinarius wöchentlich einmal abhielt. Er setzte sich, mit den, Rohrstock be¬<lb/>
waffnet, so ans die Kante einer Bank, daß er mit der gegenüberliegenden<lb/>
Fensternische einen Engpaß bildete. Durch diesen Engpaß mußte die Klasse<lb/>
im Gänsemarsch defiliren. Wir Bestieselten schritten mit hochmütiger Gleich¬<lb/>
gültigkeit hindurch, die Barfüßler aber, und die waren in der Mehrheit, nnr<lb/>
dann, wenn sie ein reines Gewissen, d. h. in diesem Falle gewaschne Füße<lb/>
hatten. Die übrigen traf ein wohlgezielter Hieb, oder er traf sie anch nicht,<lb/>
wenn sie rechtzeitig mit kühnem Sprung über die gefährliche Stelle wegsetzten,<lb/>
und uns übrigen machten die geglückten wie die mißglückter Sprünge gleichen<lb/>
Spaß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_171" next="#ID_172"> In der Tertia verursachte mir anfänglich das Französische große<lb/>
Schwierigkeit. Der Lehrer betrieb es nämlich nach Jacotots Methode und<lb/>
schrieb einen Satz nach dem andern aus dem ^lmnaHllL, ihn gleichzeitig auS-<lb/>
sprecheud, an die Schultafel, ich aber war schon damals so kurzsichtig, daß ich<lb/>
nicht bis dahin sehen konnte. Hund und Igel können beim ersten Zusammen¬<lb/>
prall nicht verwunderter und erzürnter über einander sein, wie wir beiden:<lb/>
er über mein: KÄipso uöppuvvä »e lcongsolob, und ich über seine,! mir unver¬<lb/>
ständlichen Zorn. Es dauerte el» Weilchen, ehe wir darauf kamen, woran es<lb/>
lag. Später bekamen wir ein gedrucktes Büchlein in die Hand, das besonders<lb/>
einem sehr gute Dienste that, der zu Schnlzwecken das Stottern erlernt hatte<lb/>
(nebenbei bemerkt, die häufigste Ursprnngsnrt dieser Krankheit). Beim Abhören<lb/>
des zum Auswendiglernen ausgegebnen Abschnittes pflegte der Lehrer vor der<lb/>
ersten Bank, ans deren einem Ende der Stammler saß, auf- und abzugehen.<lb/>
So lauge jener den Rücken wandte, schaute dieser ius Buch und reichte dank</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0064] Die Nberl'nrdung — Knaben und Mädchen saßen einander gegenüber —, und es wurden immer dieselben gerufen, sodaß die Lesung auf zwei bis drei Paare beschränkt blieb. Ob die plöb^ einmal Rebellion gemacht hat, um den Ring zu sprengen und ihren Anteil an dein von der Aristokratie freventlich Monopolisten heiligen Lande zurückzuerobern, oder ob sie uns diesen idealen Besitz nnbeneidet über¬ lassen und sich mit dem derberen Spaß entschädigt hat, an dein es anch nicht fehlte, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, Ju der „Quarte" saßen oder vielmehr räkelten sich nur Knaben, und was für Knaben! Hier sammelte sich nämlich alles an, was entweder nicht Lust oder nicht die Fähigkeit hatte, in die höhern Regionen des Wissens empor¬ zusteigen. Unter einer Horde streitender Fnbrikjungen kann es nicht roher und wilder zugehen, als wie es nnter uns Quartanern zuging. Qbwvhl ich aber el» schwächliches Kerlchen war, habe ich doch nur mäßig Prügel bekommen, weil ich immer mit einigen Riesen gut befreundet war, die mich gegen die übrige Bande verteidigten. An Spaß fehlte es natürlich keinen Tag, namentlich für einen, der keine Schläge zu fürchten hatte, nieder vom, Lehrer noch von den Mitschülern. Ein Hauptspaß war im Sommer die Fnßparade, die der Ordinarius wöchentlich einmal abhielt. Er setzte sich, mit den, Rohrstock be¬ waffnet, so ans die Kante einer Bank, daß er mit der gegenüberliegenden Fensternische einen Engpaß bildete. Durch diesen Engpaß mußte die Klasse im Gänsemarsch defiliren. Wir Bestieselten schritten mit hochmütiger Gleich¬ gültigkeit hindurch, die Barfüßler aber, und die waren in der Mehrheit, nnr dann, wenn sie ein reines Gewissen, d. h. in diesem Falle gewaschne Füße hatten. Die übrigen traf ein wohlgezielter Hieb, oder er traf sie anch nicht, wenn sie rechtzeitig mit kühnem Sprung über die gefährliche Stelle wegsetzten, und uns übrigen machten die geglückten wie die mißglückter Sprünge gleichen Spaß. In der Tertia verursachte mir anfänglich das Französische große Schwierigkeit. Der Lehrer betrieb es nämlich nach Jacotots Methode und schrieb einen Satz nach dem andern aus dem ^lmnaHllL, ihn gleichzeitig auS- sprecheud, an die Schultafel, ich aber war schon damals so kurzsichtig, daß ich nicht bis dahin sehen konnte. Hund und Igel können beim ersten Zusammen¬ prall nicht verwunderter und erzürnter über einander sein, wie wir beiden: er über mein: KÄipso uöppuvvä »e lcongsolob, und ich über seine,! mir unver¬ ständlichen Zorn. Es dauerte el» Weilchen, ehe wir darauf kamen, woran es lag. Später bekamen wir ein gedrucktes Büchlein in die Hand, das besonders einem sehr gute Dienste that, der zu Schnlzwecken das Stottern erlernt hatte (nebenbei bemerkt, die häufigste Ursprnngsnrt dieser Krankheit). Beim Abhören des zum Auswendiglernen ausgegebnen Abschnittes pflegte der Lehrer vor der ersten Bank, ans deren einem Ende der Stammler saß, auf- und abzugehen. So lauge jener den Rücken wandte, schaute dieser ius Buch und reichte dank

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/64
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/64>, abgerufen am 23.07.2024.