Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.Geschichtsphilosophischo Gedanken sein eignes Geistesleben zu liefern, ihm aus ihren Schädeln den Thron zu Unsre Ansicht schließt alle Ideale ein, aber jeden Fanatismus aus; sie Leichter dürfen sich die Männer der wissenschaftlichen Forschung mit unsrer Geschichtsphilosophischo Gedanken sein eignes Geistesleben zu liefern, ihm aus ihren Schädeln den Thron zu Unsre Ansicht schließt alle Ideale ein, aber jeden Fanatismus aus; sie Leichter dürfen sich die Männer der wissenschaftlichen Forschung mit unsrer <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0607" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209840"/> <fw type="header" place="top"> Geschichtsphilosophischo Gedanken</fw><lb/> <p xml:id="ID_1698" prev="#ID_1697"> sein eignes Geistesleben zu liefern, ihm aus ihren Schädeln den Thron zu<lb/> bauen, auf dem er eine kurze Spanne Zeit über ein recht kleines Reich ge¬<lb/> herrscht hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_1699"> Unsre Ansicht schließt alle Ideale ein, aber jeden Fanatismus aus; sie<lb/> gestattet keinem Volke, keinem Staate, keiner Religion, keiner Geistesrichtung,<lb/> sich für alleinberechtigt und zur Verdrängung aller übrigen berufen zu halten;<lb/> sie führt jeden zu der bescheidnen Einsicht, daß er und seine Partei nur ein<lb/> Glied des großen Ganzen und den Reichtum und die Schönheit dieses Ganzen<lb/> zu vermehren berufen seien. Darum taugt diese unsre Ansicht nur sür den<lb/> sinnenden Beschauer, nicht für den Mann der That; denn die Thatkraft wird<lb/> gelähmt, sobald der Thätige aufhört, seine Ansicht für die allein berechtigte zu<lb/> halten, von der das Heil der Welt oder wenigstens des Vaterlandes abhänge.<lb/> Aber fast für jeden Mann der That kommt die Zeit, wo er die Grenzen<lb/> seiner Macht inne wird, und dann mag er sich unsrer Ansicht zuwenden, die<lb/> ihn vor pessimistischer Verzweiflung schützen wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_1700" next="#ID_1701"> Leichter dürfen sich die Männer der wissenschaftlichen Forschung mit unsrer<lb/> Auffassung aussöhnen, da sie nun wohl einsehen werden, daß die Aufklärungszeit<lb/> sich im Irrtum befand, wenn sie die Ausrottung des „Aberglaubens" für das<lb/> eigentliche Ziel der wissenschaftlichen Forschung hielt. Befördert doch das<lb/> Dampfroß weit mehr Wallfahrer zur Jungfrau von Lourdes und zur „schwarzen<lb/> Mutter Gottes" von Czenstochau, als Professoren zu Naturforscherversammlungen.<lb/> Jenen ganz kindischen Aberglauben, der aus der Unbekanntschaft mit den Natur-<lb/> vorgängen entspringt, beseitigt die Wissenschaft allerdings, nicht aber jenen<lb/> „Aberglauben," deu seine Anhänger Religion nennen, und der in metaphysischen<lb/> und Herzensbedürfnissen wurzelt. Auch in diesem Punkte zeigt sich uns wieder<lb/> die scharfe Scheidung zwischen dem Bleibenden und dem Wechselnden im Kultur-<lb/> fortschritt. Was der Hauptsache uach unverändert bleibt, das ist das Herz<lb/> mit seinein Bedürfnis. Nachdem diesem durch die ersten Fortschritte der Er¬<lb/> kenntnisse seine Entfaltung möglich geworden ist, schreitet es überhaupt nicht<lb/> mehr fort, sondern offenbart seinen poetischen, religiösen, sittlichen Inhalt nur<lb/> den sich ändernden Verhältnissen gemäß in immer neuer Weise. Manche wollen<lb/> uur der zwar veränderlichen, aber nicht fortschreitenden Herzenskultnr den<lb/> Namen „Kultur" zugestehen, während sie das Fortschreitende die Zivilisation<lb/> nennen. Dieses Fortschreitende ist Ansammlung von Kenntnissen, Übung und<lb/> Macht. Wie der einzelne Mensch, so sammelt das Menschengeschlecht, je länger<lb/> es lebt, desto mehr Erfahrungen; namentlich lernt es seine Wohnstätte, die<lb/> Körperwelt kennen, immer genauer bis in alle Winkel hinein kennen, die Gaben<lb/> der Erde und die Naturkrüfte benutzen und beherrschen. Ju der Gesamtheit<lb/> dieser Erfahrungen und Fertigkeiten und der mit ihrer Hilfe gewonnenen oder<lb/> erzeugten materiellen Güter besteht der Schatz, den jedes Geschlecht dem nächsten<lb/> vermehrt hinterläßt, vermehrt hinterlassen soll, ohne ihm damit zugleich einen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0607]
Geschichtsphilosophischo Gedanken
sein eignes Geistesleben zu liefern, ihm aus ihren Schädeln den Thron zu
bauen, auf dem er eine kurze Spanne Zeit über ein recht kleines Reich ge¬
herrscht hat.
Unsre Ansicht schließt alle Ideale ein, aber jeden Fanatismus aus; sie
gestattet keinem Volke, keinem Staate, keiner Religion, keiner Geistesrichtung,
sich für alleinberechtigt und zur Verdrängung aller übrigen berufen zu halten;
sie führt jeden zu der bescheidnen Einsicht, daß er und seine Partei nur ein
Glied des großen Ganzen und den Reichtum und die Schönheit dieses Ganzen
zu vermehren berufen seien. Darum taugt diese unsre Ansicht nur sür den
sinnenden Beschauer, nicht für den Mann der That; denn die Thatkraft wird
gelähmt, sobald der Thätige aufhört, seine Ansicht für die allein berechtigte zu
halten, von der das Heil der Welt oder wenigstens des Vaterlandes abhänge.
Aber fast für jeden Mann der That kommt die Zeit, wo er die Grenzen
seiner Macht inne wird, und dann mag er sich unsrer Ansicht zuwenden, die
ihn vor pessimistischer Verzweiflung schützen wird.
Leichter dürfen sich die Männer der wissenschaftlichen Forschung mit unsrer
Auffassung aussöhnen, da sie nun wohl einsehen werden, daß die Aufklärungszeit
sich im Irrtum befand, wenn sie die Ausrottung des „Aberglaubens" für das
eigentliche Ziel der wissenschaftlichen Forschung hielt. Befördert doch das
Dampfroß weit mehr Wallfahrer zur Jungfrau von Lourdes und zur „schwarzen
Mutter Gottes" von Czenstochau, als Professoren zu Naturforscherversammlungen.
Jenen ganz kindischen Aberglauben, der aus der Unbekanntschaft mit den Natur-
vorgängen entspringt, beseitigt die Wissenschaft allerdings, nicht aber jenen
„Aberglauben," deu seine Anhänger Religion nennen, und der in metaphysischen
und Herzensbedürfnissen wurzelt. Auch in diesem Punkte zeigt sich uns wieder
die scharfe Scheidung zwischen dem Bleibenden und dem Wechselnden im Kultur-
fortschritt. Was der Hauptsache uach unverändert bleibt, das ist das Herz
mit seinein Bedürfnis. Nachdem diesem durch die ersten Fortschritte der Er¬
kenntnisse seine Entfaltung möglich geworden ist, schreitet es überhaupt nicht
mehr fort, sondern offenbart seinen poetischen, religiösen, sittlichen Inhalt nur
den sich ändernden Verhältnissen gemäß in immer neuer Weise. Manche wollen
uur der zwar veränderlichen, aber nicht fortschreitenden Herzenskultnr den
Namen „Kultur" zugestehen, während sie das Fortschreitende die Zivilisation
nennen. Dieses Fortschreitende ist Ansammlung von Kenntnissen, Übung und
Macht. Wie der einzelne Mensch, so sammelt das Menschengeschlecht, je länger
es lebt, desto mehr Erfahrungen; namentlich lernt es seine Wohnstätte, die
Körperwelt kennen, immer genauer bis in alle Winkel hinein kennen, die Gaben
der Erde und die Naturkrüfte benutzen und beherrschen. Ju der Gesamtheit
dieser Erfahrungen und Fertigkeiten und der mit ihrer Hilfe gewonnenen oder
erzeugten materiellen Güter besteht der Schatz, den jedes Geschlecht dem nächsten
vermehrt hinterläßt, vermehrt hinterlassen soll, ohne ihm damit zugleich einen
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