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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

dem Kapitalismus den Fortschritt bis zu den äußersten Konsequenzen zu
wehren.

Suchen wir den Unterschied unsrer Auffassung von dein gewöhnliche"
Begriffe des Kulturfortschrittes durch ein Bild zu veranschaulichen. Die meisten
stellen sich den Fortschritt wie eine Kriechpflanze vor, deren älterer und Hinterer
Teil jedesmal abstirbt, nachdem der jüngere und vordere Wurzeln geschlagen
hat. Wir dagegen denken uns die Welt als eine ungeheure Rose, vergleichbar der
mystische" Rose Dnutes, die immer voller und voller erblüht, indem aus ihrem
Schoße stets neue Blätter hervorquelle", ohne daß die alte" abfallen. Freilich
sinkt das Gleichnis auf mehreren Seiten, namentlich vermögen die ruhig neben
einander stehenden und einander ähnliche" Blätter keine Vorstellung zu geben
von der unermeßlichen Mauuichfaltigl'eit der Erscheinungen und von der
Lebendigkeit, mit der durch immer neue Lösmige" und Bindungen, Ver-
schlingungen und Wechselwirkungen jene Erscheinungen erzeugt und wieder zer¬
stört werden. Das Bleiben der Blätter bezieht sich einerseits auf deu geistigen
Gewinn, den jedes Geschlecht deu Nachkommen hinterläßt, anderseits auf die
Einzelgeister, die nach nnserm Glaube" als lebendige Träger jenes in der
Kulturarbeit gewonnenen Gehaltes im Jenseits fortlebe". Nach Dantes Dar¬
stellung, der ich beipflichte, führen sie dort ein doppeltes Leben, eines in ihrem
Wirkungsbereiche -- denn ein Leben ohne Wirken würde kein Leben sei" --
und ein zweites in Gott; wie auch Gott ein zweifaches Leben führt, in seiner
eignen Dreipersönlichkeit und in den Geschöpfen. Aus diesem Kelch des ganze"
Scelenreiches schäumt ihm -- die Unendlichkeit; ihm, dem lebendige", aus deu
lebendigen Seelen (denn Gott ist, wie Christus MM). 22, 32^ sagt, el" Gott
der Lebendigen, nicht der Toten) und demnach nicht jenem undenkbaren Geiste,
den Hegel meint, und nicht aus Toteuschädel", deu Reste" eines ehemaligen
Lebensprozesses. Der Schluß seiner "Phänomenologie des Geistes" lautet
nämlich: "Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende
Geist hat zu seinein Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst
sind und die Organisation ihres Reiches vollbringe". Ihre Aufbewahrung
nach der Seite ihres freien in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins
ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissen¬
schaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte,
bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklich¬
keit, Wahrheit und Gewißheit seines Thrones, ohne den er das leblose Ein¬
same wäre; nur aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seiue Un¬
endlichkeit." Da der "absolute Geist" nach Hegel uur in den Einzelgeistern
lebt, unter diesen Einzelgeistern aber bis ans Hegel nur einer dawar, der die
Weltgeschichte begriffe" hatte, nämlich er selbst, so würden alle frühern Ge¬
schlechter der Menschen nur zu dem Zwecke gearbeitet, gekämpft und gelitten
haben, um ihm durch die hinterlassene" toten Denkmäler das Material für


Geschichtsphilosophische Gedanken

dem Kapitalismus den Fortschritt bis zu den äußersten Konsequenzen zu
wehren.

Suchen wir den Unterschied unsrer Auffassung von dein gewöhnliche»
Begriffe des Kulturfortschrittes durch ein Bild zu veranschaulichen. Die meisten
stellen sich den Fortschritt wie eine Kriechpflanze vor, deren älterer und Hinterer
Teil jedesmal abstirbt, nachdem der jüngere und vordere Wurzeln geschlagen
hat. Wir dagegen denken uns die Welt als eine ungeheure Rose, vergleichbar der
mystische» Rose Dnutes, die immer voller und voller erblüht, indem aus ihrem
Schoße stets neue Blätter hervorquelle», ohne daß die alte» abfallen. Freilich
sinkt das Gleichnis auf mehreren Seiten, namentlich vermögen die ruhig neben
einander stehenden und einander ähnliche» Blätter keine Vorstellung zu geben
von der unermeßlichen Mauuichfaltigl'eit der Erscheinungen und von der
Lebendigkeit, mit der durch immer neue Lösmige» und Bindungen, Ver-
schlingungen und Wechselwirkungen jene Erscheinungen erzeugt und wieder zer¬
stört werden. Das Bleiben der Blätter bezieht sich einerseits auf deu geistigen
Gewinn, den jedes Geschlecht deu Nachkommen hinterläßt, anderseits auf die
Einzelgeister, die nach nnserm Glaube» als lebendige Träger jenes in der
Kulturarbeit gewonnenen Gehaltes im Jenseits fortlebe». Nach Dantes Dar¬
stellung, der ich beipflichte, führen sie dort ein doppeltes Leben, eines in ihrem
Wirkungsbereiche — denn ein Leben ohne Wirken würde kein Leben sei» —
und ein zweites in Gott; wie auch Gott ein zweifaches Leben führt, in seiner
eignen Dreipersönlichkeit und in den Geschöpfen. Aus diesem Kelch des ganze»
Scelenreiches schäumt ihm — die Unendlichkeit; ihm, dem lebendige», aus deu
lebendigen Seelen (denn Gott ist, wie Christus MM). 22, 32^ sagt, el» Gott
der Lebendigen, nicht der Toten) und demnach nicht jenem undenkbaren Geiste,
den Hegel meint, und nicht aus Toteuschädel», deu Reste» eines ehemaligen
Lebensprozesses. Der Schluß seiner „Phänomenologie des Geistes" lautet
nämlich: „Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende
Geist hat zu seinein Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst
sind und die Organisation ihres Reiches vollbringe». Ihre Aufbewahrung
nach der Seite ihres freien in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins
ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissen¬
schaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte,
bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklich¬
keit, Wahrheit und Gewißheit seines Thrones, ohne den er das leblose Ein¬
same wäre; nur aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seiue Un¬
endlichkeit." Da der „absolute Geist" nach Hegel uur in den Einzelgeistern
lebt, unter diesen Einzelgeistern aber bis ans Hegel nur einer dawar, der die
Weltgeschichte begriffe» hatte, nämlich er selbst, so würden alle frühern Ge¬
schlechter der Menschen nur zu dem Zwecke gearbeitet, gekämpft und gelitten
haben, um ihm durch die hinterlassene« toten Denkmäler das Material für


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[0606] Geschichtsphilosophische Gedanken dem Kapitalismus den Fortschritt bis zu den äußersten Konsequenzen zu wehren. Suchen wir den Unterschied unsrer Auffassung von dein gewöhnliche» Begriffe des Kulturfortschrittes durch ein Bild zu veranschaulichen. Die meisten stellen sich den Fortschritt wie eine Kriechpflanze vor, deren älterer und Hinterer Teil jedesmal abstirbt, nachdem der jüngere und vordere Wurzeln geschlagen hat. Wir dagegen denken uns die Welt als eine ungeheure Rose, vergleichbar der mystische» Rose Dnutes, die immer voller und voller erblüht, indem aus ihrem Schoße stets neue Blätter hervorquelle», ohne daß die alte» abfallen. Freilich sinkt das Gleichnis auf mehreren Seiten, namentlich vermögen die ruhig neben einander stehenden und einander ähnliche» Blätter keine Vorstellung zu geben von der unermeßlichen Mauuichfaltigl'eit der Erscheinungen und von der Lebendigkeit, mit der durch immer neue Lösmige» und Bindungen, Ver- schlingungen und Wechselwirkungen jene Erscheinungen erzeugt und wieder zer¬ stört werden. Das Bleiben der Blätter bezieht sich einerseits auf deu geistigen Gewinn, den jedes Geschlecht deu Nachkommen hinterläßt, anderseits auf die Einzelgeister, die nach nnserm Glaube» als lebendige Träger jenes in der Kulturarbeit gewonnenen Gehaltes im Jenseits fortlebe». Nach Dantes Dar¬ stellung, der ich beipflichte, führen sie dort ein doppeltes Leben, eines in ihrem Wirkungsbereiche — denn ein Leben ohne Wirken würde kein Leben sei» — und ein zweites in Gott; wie auch Gott ein zweifaches Leben führt, in seiner eignen Dreipersönlichkeit und in den Geschöpfen. Aus diesem Kelch des ganze» Scelenreiches schäumt ihm — die Unendlichkeit; ihm, dem lebendige», aus deu lebendigen Seelen (denn Gott ist, wie Christus MM). 22, 32^ sagt, el» Gott der Lebendigen, nicht der Toten) und demnach nicht jenem undenkbaren Geiste, den Hegel meint, und nicht aus Toteuschädel», deu Reste» eines ehemaligen Lebensprozesses. Der Schluß seiner „Phänomenologie des Geistes" lautet nämlich: „Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinein Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringe». Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissen¬ schaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklich¬ keit, Wahrheit und Gewißheit seines Thrones, ohne den er das leblose Ein¬ same wäre; nur aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seiue Un¬ endlichkeit." Da der „absolute Geist" nach Hegel uur in den Einzelgeistern lebt, unter diesen Einzelgeistern aber bis ans Hegel nur einer dawar, der die Weltgeschichte begriffe» hatte, nämlich er selbst, so würden alle frühern Ge¬ schlechter der Menschen nur zu dem Zwecke gearbeitet, gekämpft und gelitten haben, um ihm durch die hinterlassene« toten Denkmäler das Material für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/606>, abgerufen am 23.07.2024.