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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanke"

das Fortbestehen des jetzigen bürgerlichen Zustandes wird verbürgt. Eine
Vergleichung der nordamerikanischen Freistaaten mit europäischen Ländern ist
daher unmöglich, denn in Europa ist ein solcher natürlicher Abfluß der Be¬
völkerung trotz aller Auswanderungen nicht vorhanden: hätten die Wälder
Germaniens noch existirt, so wäre freilich die französische Revolution nicht ins
Leben getreten." Die Spannung ist mittlerweile eingetreten, und wir können
es noch erleben, daß die wachsenden Prvletariermasfen der östlichen Städte
eiuen General dingen, das Weiße Hans zu stürmen, die zum Teil spitzbübische
Interessenvertretung der gesetzgebenden Körperschaften aufzuheben und die Dik¬
tatur zu übernehmen.

Am vollständigsten gilt das Hegelsche Gesetz für wissenschaftliche und
politische Parteien, weil sie stets nur eine einseitige Ansicht der Sache ver¬
treten, die nicht auf das Ganze paßt, daher bei dem Versuche, das Ganze nach
dieser Ansicht einzurichten, entweder sie selbst sich auflösen oder das Ganze zu
Grunde geht; letzteres ist der Fall, wenn es einer durch Fanatismus über¬
mächtig gewordenen Partei wie den französischen Jakobinern gelingt, die aus¬
schließliche Herrschaft zu erlangen und jeden Widerstand zu vernichten. Zum
Glück ist dies der Ausnahmefall; für gewöhnlich zerschellt die Partei, wenn
sie sich über ihre beschränkte Berechtigung hinaus erstrecken oder behaupten
will. Hegel stellt die Sache ein wenig anders dar: "Eine Partei bewährt
sich erst dadurch als die siegende, daß sie in zwei Parteien zerfällt; denn
darin zeigt sie das Prinzip, das sie bekämpft, um ihr selbst zu besitzen >8le>,
und hierdurch die Einseitigkeit aufgehoben zu haben, in der sie vorher auf¬
trat." Ein Trost, den so manche Partei unsrer Zeit recht gut brauchen kann,
besonders, wenn sie sich, wie die deutsche Opposition in Österreich, durch den
Zerfall in sechs oder sieben Parteien "siegreich" erweist. Doch ist es eigentlich
falsch, die Deutschen Österreichs als eine Partei zu bezeichnen. Sie bilden
eben eine Nationalität, innerhalb deren natürlicherweise verschiedne politische
Ansichten herrschen, und die große Zersplitterung entsteht dadurch, daß die
einen das nationale Interesse ihrer politischen Doktrin unterordnen, die andern
es umgekehrt macheu, wozu d'ann noch berufsständische Interessen als weitere
zersetzende Elemente kommen. Das Neiupolitische tritt übrigens heute so sehr
in den Hintergrund, daß die politischen Pnrteibezeichnungen im deutschen Reiche
z. V. keinen Menschen mehr über die berufsständischen oder Erwerbsinteressen
täuschen, die sich hinter der durchsichtigen Maske verbergen. Nach der Be¬
endigung des Kulturkampfes und dem Tode Windthorsts wird wohl auch das
letzte vollends schwinden, was die Verwandlung der Parteien in reine Klassen¬
vertretungen bisher noch aufgehalten hat: der konfessionelle Gegensatz in den
Parlamenten. Der Gedanke des Sozialisten Marx, daß der Kapitalismus
schließlich in den Kollektivismus umschlagen müsse, beruht ebenfalls auf dem
Hegelschen Gesetze; aber die Völker werdeu hoffentlich verständig genug sein,


Geschichtsphilosophische Gedanke»

das Fortbestehen des jetzigen bürgerlichen Zustandes wird verbürgt. Eine
Vergleichung der nordamerikanischen Freistaaten mit europäischen Ländern ist
daher unmöglich, denn in Europa ist ein solcher natürlicher Abfluß der Be¬
völkerung trotz aller Auswanderungen nicht vorhanden: hätten die Wälder
Germaniens noch existirt, so wäre freilich die französische Revolution nicht ins
Leben getreten." Die Spannung ist mittlerweile eingetreten, und wir können
es noch erleben, daß die wachsenden Prvletariermasfen der östlichen Städte
eiuen General dingen, das Weiße Hans zu stürmen, die zum Teil spitzbübische
Interessenvertretung der gesetzgebenden Körperschaften aufzuheben und die Dik¬
tatur zu übernehmen.

Am vollständigsten gilt das Hegelsche Gesetz für wissenschaftliche und
politische Parteien, weil sie stets nur eine einseitige Ansicht der Sache ver¬
treten, die nicht auf das Ganze paßt, daher bei dem Versuche, das Ganze nach
dieser Ansicht einzurichten, entweder sie selbst sich auflösen oder das Ganze zu
Grunde geht; letzteres ist der Fall, wenn es einer durch Fanatismus über¬
mächtig gewordenen Partei wie den französischen Jakobinern gelingt, die aus¬
schließliche Herrschaft zu erlangen und jeden Widerstand zu vernichten. Zum
Glück ist dies der Ausnahmefall; für gewöhnlich zerschellt die Partei, wenn
sie sich über ihre beschränkte Berechtigung hinaus erstrecken oder behaupten
will. Hegel stellt die Sache ein wenig anders dar: „Eine Partei bewährt
sich erst dadurch als die siegende, daß sie in zwei Parteien zerfällt; denn
darin zeigt sie das Prinzip, das sie bekämpft, um ihr selbst zu besitzen >8le>,
und hierdurch die Einseitigkeit aufgehoben zu haben, in der sie vorher auf¬
trat." Ein Trost, den so manche Partei unsrer Zeit recht gut brauchen kann,
besonders, wenn sie sich, wie die deutsche Opposition in Österreich, durch den
Zerfall in sechs oder sieben Parteien „siegreich" erweist. Doch ist es eigentlich
falsch, die Deutschen Österreichs als eine Partei zu bezeichnen. Sie bilden
eben eine Nationalität, innerhalb deren natürlicherweise verschiedne politische
Ansichten herrschen, und die große Zersplitterung entsteht dadurch, daß die
einen das nationale Interesse ihrer politischen Doktrin unterordnen, die andern
es umgekehrt macheu, wozu d'ann noch berufsständische Interessen als weitere
zersetzende Elemente kommen. Das Neiupolitische tritt übrigens heute so sehr
in den Hintergrund, daß die politischen Pnrteibezeichnungen im deutschen Reiche
z. V. keinen Menschen mehr über die berufsständischen oder Erwerbsinteressen
täuschen, die sich hinter der durchsichtigen Maske verbergen. Nach der Be¬
endigung des Kulturkampfes und dem Tode Windthorsts wird wohl auch das
letzte vollends schwinden, was die Verwandlung der Parteien in reine Klassen¬
vertretungen bisher noch aufgehalten hat: der konfessionelle Gegensatz in den
Parlamenten. Der Gedanke des Sozialisten Marx, daß der Kapitalismus
schließlich in den Kollektivismus umschlagen müsse, beruht ebenfalls auf dem
Hegelschen Gesetze; aber die Völker werdeu hoffentlich verständig genug sein,


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[0605] Geschichtsphilosophische Gedanke» das Fortbestehen des jetzigen bürgerlichen Zustandes wird verbürgt. Eine Vergleichung der nordamerikanischen Freistaaten mit europäischen Ländern ist daher unmöglich, denn in Europa ist ein solcher natürlicher Abfluß der Be¬ völkerung trotz aller Auswanderungen nicht vorhanden: hätten die Wälder Germaniens noch existirt, so wäre freilich die französische Revolution nicht ins Leben getreten." Die Spannung ist mittlerweile eingetreten, und wir können es noch erleben, daß die wachsenden Prvletariermasfen der östlichen Städte eiuen General dingen, das Weiße Hans zu stürmen, die zum Teil spitzbübische Interessenvertretung der gesetzgebenden Körperschaften aufzuheben und die Dik¬ tatur zu übernehmen. Am vollständigsten gilt das Hegelsche Gesetz für wissenschaftliche und politische Parteien, weil sie stets nur eine einseitige Ansicht der Sache ver¬ treten, die nicht auf das Ganze paßt, daher bei dem Versuche, das Ganze nach dieser Ansicht einzurichten, entweder sie selbst sich auflösen oder das Ganze zu Grunde geht; letzteres ist der Fall, wenn es einer durch Fanatismus über¬ mächtig gewordenen Partei wie den französischen Jakobinern gelingt, die aus¬ schließliche Herrschaft zu erlangen und jeden Widerstand zu vernichten. Zum Glück ist dies der Ausnahmefall; für gewöhnlich zerschellt die Partei, wenn sie sich über ihre beschränkte Berechtigung hinaus erstrecken oder behaupten will. Hegel stellt die Sache ein wenig anders dar: „Eine Partei bewährt sich erst dadurch als die siegende, daß sie in zwei Parteien zerfällt; denn darin zeigt sie das Prinzip, das sie bekämpft, um ihr selbst zu besitzen >8le>, und hierdurch die Einseitigkeit aufgehoben zu haben, in der sie vorher auf¬ trat." Ein Trost, den so manche Partei unsrer Zeit recht gut brauchen kann, besonders, wenn sie sich, wie die deutsche Opposition in Österreich, durch den Zerfall in sechs oder sieben Parteien „siegreich" erweist. Doch ist es eigentlich falsch, die Deutschen Österreichs als eine Partei zu bezeichnen. Sie bilden eben eine Nationalität, innerhalb deren natürlicherweise verschiedne politische Ansichten herrschen, und die große Zersplitterung entsteht dadurch, daß die einen das nationale Interesse ihrer politischen Doktrin unterordnen, die andern es umgekehrt macheu, wozu d'ann noch berufsständische Interessen als weitere zersetzende Elemente kommen. Das Neiupolitische tritt übrigens heute so sehr in den Hintergrund, daß die politischen Pnrteibezeichnungen im deutschen Reiche z. V. keinen Menschen mehr über die berufsständischen oder Erwerbsinteressen täuschen, die sich hinter der durchsichtigen Maske verbergen. Nach der Be¬ endigung des Kulturkampfes und dem Tode Windthorsts wird wohl auch das letzte vollends schwinden, was die Verwandlung der Parteien in reine Klassen¬ vertretungen bisher noch aufgehalten hat: der konfessionelle Gegensatz in den Parlamenten. Der Gedanke des Sozialisten Marx, daß der Kapitalismus schließlich in den Kollektivismus umschlagen müsse, beruht ebenfalls auf dem Hegelschen Gesetze; aber die Völker werdeu hoffentlich verständig genug sein,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/605>, abgerufen am 23.07.2024.