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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

soeben in einen Staatenbund aufgelöst, dessen Glieder erst dann zur vollen
Selbständigkeit heranreifen werden, wenn sich die Gegenden am obern und
mittlern Amazonenstrom aus Forschungsgebieten in angebaute Provinzen ver¬
wandelt haben werden. Und auch in Nordamerika werden bei zunehmender
Bevölkerung Interessengegensätze hervorkeimen, die schließlich zur Sprengung
der großen Union führen. Der Umfang der Staaten ändert sich mit dem
wechselnden Bedürfnis.

Was die Regierungsformen anlangt, so stehen wir Heutigen in deren Be¬
urteilung der Hauptsache mich uoch auf demselben Flecke wie Herodot, der
seine Ansicht darüber den Stammfürsten der Perser in den Mund legt, die sich
nach der Ermordung des falschen Smerdis über die dem Reiche zu gebende
Regierungsform berieten. Jede Form hat ihre Licht- und ihre Schattenseiten.
Soviel hat die Erfahrung gelehrt, daß sich eines nicht für alle schickt, nud
daß je nach der Größe des Staates, nach dem Temperament, der Kulturstufe
und dem Reichtum des Volkes bald die eine, bald die andre Form besser paßt.
Auch Traditionen und Gewohnheiten sind von entscheidenden Einfluß. Eine
aristokratische Republik ist natürlich nicht möglich ohne eine Aristokratie, und
wo diese vorhanden ist, da stellt sich jene, wenn auch vielleicht unter der
Maske der konstitutionellen Monarchie verborgen, gewöhnlich von selber ein.
In einem kleinen Hirten- und Bauerustaate, wie es die schweizerischen Ur-
knntvne und Appenzell-Jnerrhvdcn sind, eine kaiserliche oder königliche Hof¬
haltung und eine lmreaukratische Beamtenhierarchie einrichten zu wollen, wäre
ein lächerlicher Gedanke. Dagegen kann in einem reichen Großstaate mit be¬
deutenden Vermögcnsunterschieden die demokratische Republik höchstens dem
Namen uach bestehen; denn in Frankreich z. V. ist der jeweilig leitende Minister
mit alleu Zwangsmitteln der absoluten Monarchie ausgerüstet und unterscheidet
sich von dem russischen Kaiser nnr dadurch, daß er seine Kollegen, die Kammer¬
mehrheit und Herrn Rothschild bei guter Laune erhalten muß, wenn er am Ruder
bleiben null. Der Präsident der Republik ist für gewöhnlich ein Statist, und
seine einzige wichtige Amtsverrichtnng besteht darin, daß er den Ministcrwechseln
die gesetzliche Weihe giebt. Der französische Staat ist also ein Kaisertum mit
häufigem Negentenwechsel. Von Nordamerika hat Hegel seiner Zeit behauptet,
es sei dort das Bedürfnis eines festen Zusammenhaltens noch gar nicht vor¬
handen, "denn -- sagt er -- ein wirklicher Staat nud eine wirkliche Staats-
regierung entstehen nur, wenn bereits ein Unterschied der Stände daist, wenn
Reichtum und Armut sehr groß werden und ein solches Verhältnis eintritt,
daß eine große Menge nicht mehr ihre Bedürfnisse auf gewohnte Weise be¬
friedigen kann. Aber Amerika geht dieser Spannung noch nicht entgegen, denn
es hat unaufhörlich den Ausweg der Kolonisation in hohem Grade offen, und
es strömen beständig eine Menge Menschen in die Ebnen am Mississippi.
Durch dieses Mittel ist die Hauptquelle der Unzufriedenheit geschwunden, und


Geschichtsphilosophische Gedanken

soeben in einen Staatenbund aufgelöst, dessen Glieder erst dann zur vollen
Selbständigkeit heranreifen werden, wenn sich die Gegenden am obern und
mittlern Amazonenstrom aus Forschungsgebieten in angebaute Provinzen ver¬
wandelt haben werden. Und auch in Nordamerika werden bei zunehmender
Bevölkerung Interessengegensätze hervorkeimen, die schließlich zur Sprengung
der großen Union führen. Der Umfang der Staaten ändert sich mit dem
wechselnden Bedürfnis.

Was die Regierungsformen anlangt, so stehen wir Heutigen in deren Be¬
urteilung der Hauptsache mich uoch auf demselben Flecke wie Herodot, der
seine Ansicht darüber den Stammfürsten der Perser in den Mund legt, die sich
nach der Ermordung des falschen Smerdis über die dem Reiche zu gebende
Regierungsform berieten. Jede Form hat ihre Licht- und ihre Schattenseiten.
Soviel hat die Erfahrung gelehrt, daß sich eines nicht für alle schickt, nud
daß je nach der Größe des Staates, nach dem Temperament, der Kulturstufe
und dem Reichtum des Volkes bald die eine, bald die andre Form besser paßt.
Auch Traditionen und Gewohnheiten sind von entscheidenden Einfluß. Eine
aristokratische Republik ist natürlich nicht möglich ohne eine Aristokratie, und
wo diese vorhanden ist, da stellt sich jene, wenn auch vielleicht unter der
Maske der konstitutionellen Monarchie verborgen, gewöhnlich von selber ein.
In einem kleinen Hirten- und Bauerustaate, wie es die schweizerischen Ur-
knntvne und Appenzell-Jnerrhvdcn sind, eine kaiserliche oder königliche Hof¬
haltung und eine lmreaukratische Beamtenhierarchie einrichten zu wollen, wäre
ein lächerlicher Gedanke. Dagegen kann in einem reichen Großstaate mit be¬
deutenden Vermögcnsunterschieden die demokratische Republik höchstens dem
Namen uach bestehen; denn in Frankreich z. V. ist der jeweilig leitende Minister
mit alleu Zwangsmitteln der absoluten Monarchie ausgerüstet und unterscheidet
sich von dem russischen Kaiser nnr dadurch, daß er seine Kollegen, die Kammer¬
mehrheit und Herrn Rothschild bei guter Laune erhalten muß, wenn er am Ruder
bleiben null. Der Präsident der Republik ist für gewöhnlich ein Statist, und
seine einzige wichtige Amtsverrichtnng besteht darin, daß er den Ministcrwechseln
die gesetzliche Weihe giebt. Der französische Staat ist also ein Kaisertum mit
häufigem Negentenwechsel. Von Nordamerika hat Hegel seiner Zeit behauptet,
es sei dort das Bedürfnis eines festen Zusammenhaltens noch gar nicht vor¬
handen, „denn — sagt er — ein wirklicher Staat nud eine wirkliche Staats-
regierung entstehen nur, wenn bereits ein Unterschied der Stände daist, wenn
Reichtum und Armut sehr groß werden und ein solches Verhältnis eintritt,
daß eine große Menge nicht mehr ihre Bedürfnisse auf gewohnte Weise be¬
friedigen kann. Aber Amerika geht dieser Spannung noch nicht entgegen, denn
es hat unaufhörlich den Ausweg der Kolonisation in hohem Grade offen, und
es strömen beständig eine Menge Menschen in die Ebnen am Mississippi.
Durch dieses Mittel ist die Hauptquelle der Unzufriedenheit geschwunden, und


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[0604] Geschichtsphilosophische Gedanken soeben in einen Staatenbund aufgelöst, dessen Glieder erst dann zur vollen Selbständigkeit heranreifen werden, wenn sich die Gegenden am obern und mittlern Amazonenstrom aus Forschungsgebieten in angebaute Provinzen ver¬ wandelt haben werden. Und auch in Nordamerika werden bei zunehmender Bevölkerung Interessengegensätze hervorkeimen, die schließlich zur Sprengung der großen Union führen. Der Umfang der Staaten ändert sich mit dem wechselnden Bedürfnis. Was die Regierungsformen anlangt, so stehen wir Heutigen in deren Be¬ urteilung der Hauptsache mich uoch auf demselben Flecke wie Herodot, der seine Ansicht darüber den Stammfürsten der Perser in den Mund legt, die sich nach der Ermordung des falschen Smerdis über die dem Reiche zu gebende Regierungsform berieten. Jede Form hat ihre Licht- und ihre Schattenseiten. Soviel hat die Erfahrung gelehrt, daß sich eines nicht für alle schickt, nud daß je nach der Größe des Staates, nach dem Temperament, der Kulturstufe und dem Reichtum des Volkes bald die eine, bald die andre Form besser paßt. Auch Traditionen und Gewohnheiten sind von entscheidenden Einfluß. Eine aristokratische Republik ist natürlich nicht möglich ohne eine Aristokratie, und wo diese vorhanden ist, da stellt sich jene, wenn auch vielleicht unter der Maske der konstitutionellen Monarchie verborgen, gewöhnlich von selber ein. In einem kleinen Hirten- und Bauerustaate, wie es die schweizerischen Ur- knntvne und Appenzell-Jnerrhvdcn sind, eine kaiserliche oder königliche Hof¬ haltung und eine lmreaukratische Beamtenhierarchie einrichten zu wollen, wäre ein lächerlicher Gedanke. Dagegen kann in einem reichen Großstaate mit be¬ deutenden Vermögcnsunterschieden die demokratische Republik höchstens dem Namen uach bestehen; denn in Frankreich z. V. ist der jeweilig leitende Minister mit alleu Zwangsmitteln der absoluten Monarchie ausgerüstet und unterscheidet sich von dem russischen Kaiser nnr dadurch, daß er seine Kollegen, die Kammer¬ mehrheit und Herrn Rothschild bei guter Laune erhalten muß, wenn er am Ruder bleiben null. Der Präsident der Republik ist für gewöhnlich ein Statist, und seine einzige wichtige Amtsverrichtnng besteht darin, daß er den Ministcrwechseln die gesetzliche Weihe giebt. Der französische Staat ist also ein Kaisertum mit häufigem Negentenwechsel. Von Nordamerika hat Hegel seiner Zeit behauptet, es sei dort das Bedürfnis eines festen Zusammenhaltens noch gar nicht vor¬ handen, „denn — sagt er — ein wirklicher Staat nud eine wirkliche Staats- regierung entstehen nur, wenn bereits ein Unterschied der Stände daist, wenn Reichtum und Armut sehr groß werden und ein solches Verhältnis eintritt, daß eine große Menge nicht mehr ihre Bedürfnisse auf gewohnte Weise be¬ friedigen kann. Aber Amerika geht dieser Spannung noch nicht entgegen, denn es hat unaufhörlich den Ausweg der Kolonisation in hohem Grade offen, und es strömen beständig eine Menge Menschen in die Ebnen am Mississippi. Durch dieses Mittel ist die Hauptquelle der Unzufriedenheit geschwunden, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/604>, abgerufen am 23.07.2024.