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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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lichkeit der Willenskraft bei übermäßig schweren Anforderungen der Gesellschaft
oder aus unlösbaren Gewissenskonflikten entspringen, sind so häufig, daß mau
die Weltgeschichte mit größer", Recht als einen beständigen Kampf der Vernunft
gegen die Unvernunft menschlicher Einrichtungen bezeichnen könnte; doch würde
auch das sehr einseitig sein. Dabei ist mich nicht zu vergessen, daß das sittlich
Gute ohne seinen Gegensatz weder begriffen noch geübt werden könnte, und
wo bliebe in einem sündlosen Dasein die Komik? Ohne Sünde oder wenigstens
ohne einen Beisatz von Sünde kommt sie kaum jemals vor. Entweder liegt
der Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Idee, über den wir lachen, selber
ans dem sittlichen Gebiete, ist also an sich sündhaft, oder unsre Heiterkeit ist
es, indem wir über ein Gebrechen, einen Unfall lachen, den wir eigentlich zu
beklagen verpflichtet wären, oder wohl gar über ein Gutes, dem seine Ver¬
körperung mißlingt. Der Frömmigkeit z. V. gelingt es nur selten, erhaben
oder liebenswürdig zu erscheinen und von ihrer Echtheit zu überzeugen; meistens
erregt sie die Spottlust, sobald sie sich zeigt, und wenn eine geschlvssne Gesell¬
schaft von Frommen, eine Sekte oder ein religiöser Orden das Lachen aus
ihrer Mitte gänzlich verbannt hat, so ertönt dafür desto kräftiger das Lachen,
das sie bei den Draußenstehenden erregt. Ein gesunder Geist aber kaun nicht
ohne Grauen an die Ode und Mattigkeit denken, der die Welt verfallen müßte,
wenn sie sich das Lachen abgewöhnt Hütte. Das Christentum um enthält
schlechterdings nichts Lächerliches; im ganzen Neuen Testament kommt uicht
eine einzige Stelle vor, die Anlaß zum Gelächter gäbe; der bloße Gedanke
daran erscheint uns sakrilegisch. Schon darum kann das Christentum nicht
die einzige, alle Geister und Lebensverhültnisse allein erfüllende, alle andern
Elemente verdrängende Macht sein; es ist vielmehr nnr das unentbehrliche
Salz der Erde, das die Menschheit vor Fäulnis bewahrt. Und so kommt es
denn, daß diese Menschheit immer wieder in jenen Zwiespalt zurücksinke, den
die Reformation aufgehoben zu haben glaubte, daß sich von dem sündhaften,
bald lächerlichen, bald schrecklichen, bald wenigstens profanen und ungeheiligten
Alltagstreiben die Stunden religiöser Erhebung als feierliche und seltne Ereig¬
nisse absondern.

Die profane Geschichtsphilosophie mißversteht gewöhnlich den Begriff des
Fortschritts. Sie glaubt, es müsse sich jederzeit aus einem Unvollkvinmneren
ein Volllvmmneres erheben, und sobald dieses erschienen sei, habe jenes zu
verschwinden. Dieser Fortschrittsbegriff beherrscht die Gemüter ganz besonders
in Zeiten, wo sich eine neue Idee Bahn brechen will. Die Anhänger jeder
neuen Idee pflegen zuversichtlich zu erwarte", daß es ihnen gelingen werde,
alle alten "Irrtümer" auszurotten. Nach einiger Zeit bemerken sie dann, daß
die alten "Irrtümer" gerade noch so lustig fortwuchern wie zuvor, und daß
am Ende die Welt nur um eine neue Sekte bereichert worden ist. Wohl uns,
daß sich die Sache so verhält! Der Fortschritt in jenem Sinne, wie seine


lichkeit der Willenskraft bei übermäßig schweren Anforderungen der Gesellschaft
oder aus unlösbaren Gewissenskonflikten entspringen, sind so häufig, daß mau
die Weltgeschichte mit größer», Recht als einen beständigen Kampf der Vernunft
gegen die Unvernunft menschlicher Einrichtungen bezeichnen könnte; doch würde
auch das sehr einseitig sein. Dabei ist mich nicht zu vergessen, daß das sittlich
Gute ohne seinen Gegensatz weder begriffen noch geübt werden könnte, und
wo bliebe in einem sündlosen Dasein die Komik? Ohne Sünde oder wenigstens
ohne einen Beisatz von Sünde kommt sie kaum jemals vor. Entweder liegt
der Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Idee, über den wir lachen, selber
ans dem sittlichen Gebiete, ist also an sich sündhaft, oder unsre Heiterkeit ist
es, indem wir über ein Gebrechen, einen Unfall lachen, den wir eigentlich zu
beklagen verpflichtet wären, oder wohl gar über ein Gutes, dem seine Ver¬
körperung mißlingt. Der Frömmigkeit z. V. gelingt es nur selten, erhaben
oder liebenswürdig zu erscheinen und von ihrer Echtheit zu überzeugen; meistens
erregt sie die Spottlust, sobald sie sich zeigt, und wenn eine geschlvssne Gesell¬
schaft von Frommen, eine Sekte oder ein religiöser Orden das Lachen aus
ihrer Mitte gänzlich verbannt hat, so ertönt dafür desto kräftiger das Lachen,
das sie bei den Draußenstehenden erregt. Ein gesunder Geist aber kaun nicht
ohne Grauen an die Ode und Mattigkeit denken, der die Welt verfallen müßte,
wenn sie sich das Lachen abgewöhnt Hütte. Das Christentum um enthält
schlechterdings nichts Lächerliches; im ganzen Neuen Testament kommt uicht
eine einzige Stelle vor, die Anlaß zum Gelächter gäbe; der bloße Gedanke
daran erscheint uns sakrilegisch. Schon darum kann das Christentum nicht
die einzige, alle Geister und Lebensverhültnisse allein erfüllende, alle andern
Elemente verdrängende Macht sein; es ist vielmehr nnr das unentbehrliche
Salz der Erde, das die Menschheit vor Fäulnis bewahrt. Und so kommt es
denn, daß diese Menschheit immer wieder in jenen Zwiespalt zurücksinke, den
die Reformation aufgehoben zu haben glaubte, daß sich von dem sündhaften,
bald lächerlichen, bald schrecklichen, bald wenigstens profanen und ungeheiligten
Alltagstreiben die Stunden religiöser Erhebung als feierliche und seltne Ereig¬
nisse absondern.

Die profane Geschichtsphilosophie mißversteht gewöhnlich den Begriff des
Fortschritts. Sie glaubt, es müsse sich jederzeit aus einem Unvollkvinmneren
ein Volllvmmneres erheben, und sobald dieses erschienen sei, habe jenes zu
verschwinden. Dieser Fortschrittsbegriff beherrscht die Gemüter ganz besonders
in Zeiten, wo sich eine neue Idee Bahn brechen will. Die Anhänger jeder
neuen Idee pflegen zuversichtlich zu erwarte», daß es ihnen gelingen werde,
alle alten „Irrtümer" auszurotten. Nach einiger Zeit bemerken sie dann, daß
die alten „Irrtümer" gerade noch so lustig fortwuchern wie zuvor, und daß
am Ende die Welt nur um eine neue Sekte bereichert worden ist. Wohl uns,
daß sich die Sache so verhält! Der Fortschritt in jenem Sinne, wie seine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/599>, abgerufen am 23.07.2024.