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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosc>phische Gedanken

hat. Die Heiligengeschichten wissen davon zu erzählen, und Shakespeare hat
in "Maß für Maß" um Lord Angelo ein warnendes Beispiel aufgestellt.
Doch sind wir anderseits much ziemlich sicher vor der Gefahr, daß sich die
Menschheit einmal ganz und gar der Bestialität oder teuflischer Niedertracht
ergeben könne. So oft solche Zustände in Revolutionen vorübergehend ein¬
getreten sind, hat die Masse das wüste Wesen immer bald satt bekommen und
von selbst wieder angefangen, menschlich zu leben, auch einen Herrn, der die
Bändigung des uubotmäßigen Teiles übernahm, gern als Erlöser begrüßt.
So bleibt denn der Durchschnittsmensch allezeit ein Mensch, "so wunderlich als
wie um ersten Tag"; aber die engelhafteren nnter seinen Brüdern weisen ihn
auf ein andres Leben hin, in dem der Geist nicht mehr vom Leibe abhängig
sein wird.

Nur in zwei Beziehungen muß eine fortschreitende Vergeistigung anerkannt
werden. Erstens wird der Mensch in und von der Gesellschaft zur Herrschaft
des Geistes über die sinnlichen Begierden erzogen. Aber diese Erziehung muß
bei jedem einzelnen Menschen wieder von vorn anfangen, und es ist fraglich,
ob die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung durch fortgesetzte Vererbung eine stetige
Steigerung erfährt. Mitten unter den zivilisirten Nationen werden immer
wieder Mensche" von einer nicht zu bändigenden Wildheit geboren, während Neger¬
kinder, die von früh aus bei uus erzogen werden, sich ganz gesittet benehmen.
Wenn bei sehr alten Völkern, wie bei den Chinesen, ein besonders hohes Maß
von Selbstbeherrschung beobachtet wird, so darf doch nicht übersehen werden,
daß ebeu jeder einzelne von feinen ersten Tagen um im Zwange der Volkssitte
und am Gängelbande der Klugheitsvorschrifteu aufwächst, und es ist noch die
Frage, wie sich ein wild aufgewachsener Chinese benehmen würde. Auch erinnern
uns gerade die Chinesen daran, daß die Selbstbeherrschung nicht etwa schon
den guten Charakter ausmacht. Sie dient dem bösen wie dem guten; große
Bösewichter sind Meister darin.

Der andre Fortschritt ist unzweifelhaft ein Fortschritt des ganzen Menschen¬
geschlechts; er besteht in der stetigen Mehrung des geistigen Schatzes der
Menschheit. Doch ist dabei zu bemerken, erstens, daß dieser Schatz nnr ver¬
hältnismäßig wenigen zugänglich ist. Das Aneignen fertiger Ergebnisse der
Wissenschaft in der Schule ist noch nicht selbst Wissenschaft; für das praktische
Leben ist es von großer Wichtigkeit, daß einer die wahre Gestalt der Erd¬
oberfläche kenne, aber für die Würde, Schönheit, Tiefe und Seligkeit der einzelnen
Seele will es nicht viel bedeuten. Homer bleibt mit seiner kindischen Geographie
doch immer größer als alle unsre Postbeamten, die eine so schwierige Prüfung
in diesem Gegenstände zu bestehen haben. Und zweitens wird anch der Mann
der Wissenschaft durch die Wissenschaft allein höchstens ein lebendiges Kon¬
versationslexikon, aber uoch kein großer Geist. Die Vergeistigung der Gesichts¬
züge, von der so ost gesprochen wird, ist meistens weniger die Wirkung eines


Geschichtsphilosc>phische Gedanken

hat. Die Heiligengeschichten wissen davon zu erzählen, und Shakespeare hat
in „Maß für Maß" um Lord Angelo ein warnendes Beispiel aufgestellt.
Doch sind wir anderseits much ziemlich sicher vor der Gefahr, daß sich die
Menschheit einmal ganz und gar der Bestialität oder teuflischer Niedertracht
ergeben könne. So oft solche Zustände in Revolutionen vorübergehend ein¬
getreten sind, hat die Masse das wüste Wesen immer bald satt bekommen und
von selbst wieder angefangen, menschlich zu leben, auch einen Herrn, der die
Bändigung des uubotmäßigen Teiles übernahm, gern als Erlöser begrüßt.
So bleibt denn der Durchschnittsmensch allezeit ein Mensch, „so wunderlich als
wie um ersten Tag"; aber die engelhafteren nnter seinen Brüdern weisen ihn
auf ein andres Leben hin, in dem der Geist nicht mehr vom Leibe abhängig
sein wird.

Nur in zwei Beziehungen muß eine fortschreitende Vergeistigung anerkannt
werden. Erstens wird der Mensch in und von der Gesellschaft zur Herrschaft
des Geistes über die sinnlichen Begierden erzogen. Aber diese Erziehung muß
bei jedem einzelnen Menschen wieder von vorn anfangen, und es ist fraglich,
ob die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung durch fortgesetzte Vererbung eine stetige
Steigerung erfährt. Mitten unter den zivilisirten Nationen werden immer
wieder Mensche» von einer nicht zu bändigenden Wildheit geboren, während Neger¬
kinder, die von früh aus bei uus erzogen werden, sich ganz gesittet benehmen.
Wenn bei sehr alten Völkern, wie bei den Chinesen, ein besonders hohes Maß
von Selbstbeherrschung beobachtet wird, so darf doch nicht übersehen werden,
daß ebeu jeder einzelne von feinen ersten Tagen um im Zwange der Volkssitte
und am Gängelbande der Klugheitsvorschrifteu aufwächst, und es ist noch die
Frage, wie sich ein wild aufgewachsener Chinese benehmen würde. Auch erinnern
uns gerade die Chinesen daran, daß die Selbstbeherrschung nicht etwa schon
den guten Charakter ausmacht. Sie dient dem bösen wie dem guten; große
Bösewichter sind Meister darin.

Der andre Fortschritt ist unzweifelhaft ein Fortschritt des ganzen Menschen¬
geschlechts; er besteht in der stetigen Mehrung des geistigen Schatzes der
Menschheit. Doch ist dabei zu bemerken, erstens, daß dieser Schatz nnr ver¬
hältnismäßig wenigen zugänglich ist. Das Aneignen fertiger Ergebnisse der
Wissenschaft in der Schule ist noch nicht selbst Wissenschaft; für das praktische
Leben ist es von großer Wichtigkeit, daß einer die wahre Gestalt der Erd¬
oberfläche kenne, aber für die Würde, Schönheit, Tiefe und Seligkeit der einzelnen
Seele will es nicht viel bedeuten. Homer bleibt mit seiner kindischen Geographie
doch immer größer als alle unsre Postbeamten, die eine so schwierige Prüfung
in diesem Gegenstände zu bestehen haben. Und zweitens wird anch der Mann
der Wissenschaft durch die Wissenschaft allein höchstens ein lebendiges Kon¬
versationslexikon, aber uoch kein großer Geist. Die Vergeistigung der Gesichts¬
züge, von der so ost gesprochen wird, ist meistens weniger die Wirkung eines


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/555>, abgerufen am 04.07.2024.