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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

unter den schönen Künsten giebt es wenigstens eine, für die er Verständnis
hat: die Musik. Die Vaterlandsliebe ist ihm allerdings nnr dann zugänglich,
wenn er ein kleiner Besitzer ist oder Aussicht hat, einer zu werden; wer kein
Stückchen Land, keine Aussicht und keine noch so kleine Hypothek auf ein
solches hat, der hat auch kein Vaterland. Durch zweierlei unterscheidet sich
das geistige und Gemütsleben des Volkes von dem der Gebildeten: es ist
ärmer an Inhalt, aber darum uicht weniger stark und edel; und es erscheint
anders im Ausdruck. Leute aus dem gemeinen Volke drücken bald mehr bald
weniger aus, als der Gebildete in demselben Falle. Mehr, weil sie nicht ge¬
wöhnt sind, ihren Empfindungen Zwang anzuthun, sondern unbefangen kund¬
geben, was sie bewegt; weniger, weil sie bei ihrer kräftigen Konstitution mehr
aushalten. "Das Volk -- sagt .Karl Stieler bei Beschreibung eines Ober-
ammergauer Passionsspieles -- ist weichmütig im Herzen, aber siuneustark;
es wird gerührt von dieser Schmerzeusqual, aber es hat den Mut, sie zu
sehen."

Nach dem heute herrschenden naturwissenschaftlichen Glauben, der wahr¬
scheinlich gemacht, aber nicht bewiesen werden kann, hätte das Menschengeschlecht
im Anfange seines Daseins tierartig gelebt, wie noch heilte jedes einzelne
Menschenkind in den ersten Monaten nach der Geburt. Eine wissenschaftliche
Kenntnis dieses Zustandes vermögen Nur nicht zu erlangen, denn selbst die
rohesten Wilden sind keine Tiere mehr. In der geschichtlichen Zeit finden wir
die verschiednen Grade der Geistigkeit stets neben, nicht nach einander. Es
giebt zu allen Zeiten Menschen, in denen das Leibliche, andre, in denen das
Geistige überwiegt, und noch andre, in denen es zu einem schönen Gleich¬
gewicht von Leib und Geist kommt. Es giebt auch zu allen Zeiten -- diese
Stufenleiter fällt mit der vorigen uicht zusammen -- Teufel, Bestien, Menschen
und Engel. Bei den Teufeln überwiegt das Geistige ebenfalls, nur in anderen
Sinne als bei den Engeln. Vielleicht gelingt es den beharrlichen Bemühungen
der Guten und Weisen, die Zahl der Teufel und der Bestien zu verringern,
vielleicht auch uicht; was die Hoffnung bedeutend hernbstimmt, ist der Um¬
stand, daß höllische Erscheinungen wie die Hexenprozesse und die französische
Schreckensherrschaft so spät in der Weltgeschichte auftreten. Auch daß sich
die Zahl der Engel wesentlich vermehren werde, ist kaum zu erwarten. Die
absichtliche und künstliche Engelzüchterei ist bisher noch immer verunglückt. Den
Pädagogen erhabensten Stils ergeht es wie jenen Darwinianern, die schlechter¬
dings Tauben zu Hühnern erziehen wollen; haben sie glücklich eine Brut von
recht hühnerähnlichem Charakter aufgebracht, so schlägt bei der nächsten der
Tanbencharnkter desto entschiedner wieder durch, und die Gattung beweist ihre
Beharrlichkeit. Beim Menschen Pflegen solche Versuche uicht bloß mit Rück¬
schlägen, sondern zuweilen auch mit einem Umschlag ins Untermenschliche, ins
Bestialische oder Höllische zu endigen, an dem Mephistopheles seine Freude


Geschichtsphilosophische Gedanken

unter den schönen Künsten giebt es wenigstens eine, für die er Verständnis
hat: die Musik. Die Vaterlandsliebe ist ihm allerdings nnr dann zugänglich,
wenn er ein kleiner Besitzer ist oder Aussicht hat, einer zu werden; wer kein
Stückchen Land, keine Aussicht und keine noch so kleine Hypothek auf ein
solches hat, der hat auch kein Vaterland. Durch zweierlei unterscheidet sich
das geistige und Gemütsleben des Volkes von dem der Gebildeten: es ist
ärmer an Inhalt, aber darum uicht weniger stark und edel; und es erscheint
anders im Ausdruck. Leute aus dem gemeinen Volke drücken bald mehr bald
weniger aus, als der Gebildete in demselben Falle. Mehr, weil sie nicht ge¬
wöhnt sind, ihren Empfindungen Zwang anzuthun, sondern unbefangen kund¬
geben, was sie bewegt; weniger, weil sie bei ihrer kräftigen Konstitution mehr
aushalten. „Das Volk — sagt .Karl Stieler bei Beschreibung eines Ober-
ammergauer Passionsspieles — ist weichmütig im Herzen, aber siuneustark;
es wird gerührt von dieser Schmerzeusqual, aber es hat den Mut, sie zu
sehen."

Nach dem heute herrschenden naturwissenschaftlichen Glauben, der wahr¬
scheinlich gemacht, aber nicht bewiesen werden kann, hätte das Menschengeschlecht
im Anfange seines Daseins tierartig gelebt, wie noch heilte jedes einzelne
Menschenkind in den ersten Monaten nach der Geburt. Eine wissenschaftliche
Kenntnis dieses Zustandes vermögen Nur nicht zu erlangen, denn selbst die
rohesten Wilden sind keine Tiere mehr. In der geschichtlichen Zeit finden wir
die verschiednen Grade der Geistigkeit stets neben, nicht nach einander. Es
giebt zu allen Zeiten Menschen, in denen das Leibliche, andre, in denen das
Geistige überwiegt, und noch andre, in denen es zu einem schönen Gleich¬
gewicht von Leib und Geist kommt. Es giebt auch zu allen Zeiten — diese
Stufenleiter fällt mit der vorigen uicht zusammen — Teufel, Bestien, Menschen
und Engel. Bei den Teufeln überwiegt das Geistige ebenfalls, nur in anderen
Sinne als bei den Engeln. Vielleicht gelingt es den beharrlichen Bemühungen
der Guten und Weisen, die Zahl der Teufel und der Bestien zu verringern,
vielleicht auch uicht; was die Hoffnung bedeutend hernbstimmt, ist der Um¬
stand, daß höllische Erscheinungen wie die Hexenprozesse und die französische
Schreckensherrschaft so spät in der Weltgeschichte auftreten. Auch daß sich
die Zahl der Engel wesentlich vermehren werde, ist kaum zu erwarten. Die
absichtliche und künstliche Engelzüchterei ist bisher noch immer verunglückt. Den
Pädagogen erhabensten Stils ergeht es wie jenen Darwinianern, die schlechter¬
dings Tauben zu Hühnern erziehen wollen; haben sie glücklich eine Brut von
recht hühnerähnlichem Charakter aufgebracht, so schlägt bei der nächsten der
Tanbencharnkter desto entschiedner wieder durch, und die Gattung beweist ihre
Beharrlichkeit. Beim Menschen Pflegen solche Versuche uicht bloß mit Rück¬
schlägen, sondern zuweilen auch mit einem Umschlag ins Untermenschliche, ins
Bestialische oder Höllische zu endigen, an dem Mephistopheles seine Freude


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[0554] Geschichtsphilosophische Gedanken unter den schönen Künsten giebt es wenigstens eine, für die er Verständnis hat: die Musik. Die Vaterlandsliebe ist ihm allerdings nnr dann zugänglich, wenn er ein kleiner Besitzer ist oder Aussicht hat, einer zu werden; wer kein Stückchen Land, keine Aussicht und keine noch so kleine Hypothek auf ein solches hat, der hat auch kein Vaterland. Durch zweierlei unterscheidet sich das geistige und Gemütsleben des Volkes von dem der Gebildeten: es ist ärmer an Inhalt, aber darum uicht weniger stark und edel; und es erscheint anders im Ausdruck. Leute aus dem gemeinen Volke drücken bald mehr bald weniger aus, als der Gebildete in demselben Falle. Mehr, weil sie nicht ge¬ wöhnt sind, ihren Empfindungen Zwang anzuthun, sondern unbefangen kund¬ geben, was sie bewegt; weniger, weil sie bei ihrer kräftigen Konstitution mehr aushalten. „Das Volk — sagt .Karl Stieler bei Beschreibung eines Ober- ammergauer Passionsspieles — ist weichmütig im Herzen, aber siuneustark; es wird gerührt von dieser Schmerzeusqual, aber es hat den Mut, sie zu sehen." Nach dem heute herrschenden naturwissenschaftlichen Glauben, der wahr¬ scheinlich gemacht, aber nicht bewiesen werden kann, hätte das Menschengeschlecht im Anfange seines Daseins tierartig gelebt, wie noch heilte jedes einzelne Menschenkind in den ersten Monaten nach der Geburt. Eine wissenschaftliche Kenntnis dieses Zustandes vermögen Nur nicht zu erlangen, denn selbst die rohesten Wilden sind keine Tiere mehr. In der geschichtlichen Zeit finden wir die verschiednen Grade der Geistigkeit stets neben, nicht nach einander. Es giebt zu allen Zeiten Menschen, in denen das Leibliche, andre, in denen das Geistige überwiegt, und noch andre, in denen es zu einem schönen Gleich¬ gewicht von Leib und Geist kommt. Es giebt auch zu allen Zeiten — diese Stufenleiter fällt mit der vorigen uicht zusammen — Teufel, Bestien, Menschen und Engel. Bei den Teufeln überwiegt das Geistige ebenfalls, nur in anderen Sinne als bei den Engeln. Vielleicht gelingt es den beharrlichen Bemühungen der Guten und Weisen, die Zahl der Teufel und der Bestien zu verringern, vielleicht auch uicht; was die Hoffnung bedeutend hernbstimmt, ist der Um¬ stand, daß höllische Erscheinungen wie die Hexenprozesse und die französische Schreckensherrschaft so spät in der Weltgeschichte auftreten. Auch daß sich die Zahl der Engel wesentlich vermehren werde, ist kaum zu erwarten. Die absichtliche und künstliche Engelzüchterei ist bisher noch immer verunglückt. Den Pädagogen erhabensten Stils ergeht es wie jenen Darwinianern, die schlechter¬ dings Tauben zu Hühnern erziehen wollen; haben sie glücklich eine Brut von recht hühnerähnlichem Charakter aufgebracht, so schlägt bei der nächsten der Tanbencharnkter desto entschiedner wieder durch, und die Gattung beweist ihre Beharrlichkeit. Beim Menschen Pflegen solche Versuche uicht bloß mit Rück¬ schlägen, sondern zuweilen auch mit einem Umschlag ins Untermenschliche, ins Bestialische oder Höllische zu endigen, an dem Mephistopheles seine Freude

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/554>, abgerufen am 04.07.2024.