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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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wie beim Rauchenlerne", vorher die widerstrebende Natur überwinde", sonder"
weil ihn die urgermanische und durch moderne akademische Satzungen aufs
neu geheiligte "Sitte" dazu zwingt; das Kneipenleben verdient also in zwei¬
facher Hinsicht, weil es von der Sitte geboten ist und weil es der Natur
widerstrebt, das Lob höchster Sittlichkeit. Natürlich ist dann wieder das Er¬
wachen des Geschlechtstriebes im Jünglinge, nud zwar ist es notwendig, das;
dieser Trieb stärker sei als die Vernunft, weil sonst, wie sich jeder selbst klar
machen kauu, das Menschengeschlecht schon nach den Erfahrungen der ersten
hundert Jahre seines Erdenwallens ausgestorben sein würde. (Die Vernunft
soll wohl die Befriedigung der Triebe regeln, aber sie ausrotten oder gänzlich
unterdrücken darf sie beim Durchschnittsmenschen nicht können.) Und mit
einem wie hohen idealen Gehalt der Trieb beim Jüngling durchtränkt zu sein
Pflegt, das beweise" die zahlreichen Selbstmorde ans Liebe. Was beim Manne
und beim Greise zu schwinden Pflegt, das ist die Romantik; wie weit das
sinnliche Element der Liebe schwindet, das mag sich jeder nach seinen eignen
Herzens- und Lebenserfahrungen beantworten. Unzweifelhaft, weil nicht zu
verbergen, ist die Thatsache, daß in allen übrigen Beziehungen das Wohl¬
gefallen an sinnlichen Genüssen, ihr absichtliches Aufsuchen, sorgfältiges Vor¬
bereite" und methodisches Auskoste" mit den Jahre" zunimmt. Der gebildete
Mann unsrer Tage ist Feinschmecker, verlegt sich ans das Studium des
Komforts, beobachtet seinen Körper und widmet seinen angenehmen und unan¬
genehme" Empfindungen einen Grad von Anfmerksamkeit, der mit dem stolze"
Anspruch auf el"e über die rohe Sinnlichkeit erhabene Vergeistigung aufs
heiterste kontrastirt. Und aus seiner verfeinerten Genußsucht meiß er sich
sogar noch einen Nuhmeskmnz zu flechten, indem er sich und andre überredet,
nur aus Pflichtgefühl, "in sich leistungsfähig zu erhalte", sei er so ängstlich
um seine Leibeswohlfahrt besorgt. Viele Männer sind in dem Maße Sklaven
der Sinnlichkeit, daß sie nicht vier Stunden des Tages zusammenhängend
verbringen können, ohne durch Trinke" oder Rauchen ihre Geschmacksnerven
zu kitzeln. Greisen rechnen wir es sogar als ein hohes Verdienst an, wenn
sie noch geistiges Leben äußern und nicht bloß "vegetiren." Einen Rückschluß
auf die Entwicklung des Menschengeschlechts wollen wir aus diesem wenig
erhebenden Verlaufe des Einzellebens nicht ziehen; der Begriff des Alterns
im Sinne eines allmählichen körperlichen Verfalles ist auf jenes überhaupt
nicht anzuwenden; aber für die Vergeistigungshypothese erweckt der Lebenslauf
des einzelnen Menschen kein günstiges Vorurteil. Dagege" wird i" dem
fromme" Greise die Überzeugung stark, daß dieser ganze Reichtum geistigen
Lebens, de" er bei zerfallenden Leibe nur noch in der Erinnerung besitzt,
nicht verloren sein könne, sondern zum Wiederaufblühen und Weiterwachsen in
einem Jenseits bestimmt sein müsse, wo sein Gedeihen nicht mehr von den Be¬
dingungen des sinnlichen Lebens abhängig sein wird.


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wie beim Rauchenlerne», vorher die widerstrebende Natur überwinde», sonder»
weil ihn die urgermanische und durch moderne akademische Satzungen aufs
neu geheiligte „Sitte" dazu zwingt; das Kneipenleben verdient also in zwei¬
facher Hinsicht, weil es von der Sitte geboten ist und weil es der Natur
widerstrebt, das Lob höchster Sittlichkeit. Natürlich ist dann wieder das Er¬
wachen des Geschlechtstriebes im Jünglinge, nud zwar ist es notwendig, das;
dieser Trieb stärker sei als die Vernunft, weil sonst, wie sich jeder selbst klar
machen kauu, das Menschengeschlecht schon nach den Erfahrungen der ersten
hundert Jahre seines Erdenwallens ausgestorben sein würde. (Die Vernunft
soll wohl die Befriedigung der Triebe regeln, aber sie ausrotten oder gänzlich
unterdrücken darf sie beim Durchschnittsmenschen nicht können.) Und mit
einem wie hohen idealen Gehalt der Trieb beim Jüngling durchtränkt zu sein
Pflegt, das beweise» die zahlreichen Selbstmorde ans Liebe. Was beim Manne
und beim Greise zu schwinden Pflegt, das ist die Romantik; wie weit das
sinnliche Element der Liebe schwindet, das mag sich jeder nach seinen eignen
Herzens- und Lebenserfahrungen beantworten. Unzweifelhaft, weil nicht zu
verbergen, ist die Thatsache, daß in allen übrigen Beziehungen das Wohl¬
gefallen an sinnlichen Genüssen, ihr absichtliches Aufsuchen, sorgfältiges Vor¬
bereite» und methodisches Auskoste» mit den Jahre» zunimmt. Der gebildete
Mann unsrer Tage ist Feinschmecker, verlegt sich ans das Studium des
Komforts, beobachtet seinen Körper und widmet seinen angenehmen und unan¬
genehme» Empfindungen einen Grad von Anfmerksamkeit, der mit dem stolze»
Anspruch auf el»e über die rohe Sinnlichkeit erhabene Vergeistigung aufs
heiterste kontrastirt. Und aus seiner verfeinerten Genußsucht meiß er sich
sogar noch einen Nuhmeskmnz zu flechten, indem er sich und andre überredet,
nur aus Pflichtgefühl, »in sich leistungsfähig zu erhalte», sei er so ängstlich
um seine Leibeswohlfahrt besorgt. Viele Männer sind in dem Maße Sklaven
der Sinnlichkeit, daß sie nicht vier Stunden des Tages zusammenhängend
verbringen können, ohne durch Trinke» oder Rauchen ihre Geschmacksnerven
zu kitzeln. Greisen rechnen wir es sogar als ein hohes Verdienst an, wenn
sie noch geistiges Leben äußern und nicht bloß „vegetiren." Einen Rückschluß
auf die Entwicklung des Menschengeschlechts wollen wir aus diesem wenig
erhebenden Verlaufe des Einzellebens nicht ziehen; der Begriff des Alterns
im Sinne eines allmählichen körperlichen Verfalles ist auf jenes überhaupt
nicht anzuwenden; aber für die Vergeistigungshypothese erweckt der Lebenslauf
des einzelnen Menschen kein günstiges Vorurteil. Dagege» wird i» dem
fromme» Greise die Überzeugung stark, daß dieser ganze Reichtum geistigen
Lebens, de» er bei zerfallenden Leibe nur noch in der Erinnerung besitzt,
nicht verloren sein könne, sondern zum Wiederaufblühen und Weiterwachsen in
einem Jenseits bestimmt sein müsse, wo sein Gedeihen nicht mehr von den Be¬
dingungen des sinnlichen Lebens abhängig sein wird.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/551>, abgerufen am 23.07.2024.