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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtspl?iwsopl?ische Gedult-'en

Weltanschauung ihr doch sehr ähnliche Homer diese Dinge behandeln, ist die
richtige, und viel Unheil würde vermieden, wenn wir wieder zu derselben Auf¬
fassung und Reden'else gelangten, wenn das Geschlechtsleben wieder als eine
natürliche, notwendige und verehrungswürdige Einrichtung Gottes behandelt
würde, anstatt daß man, wenn die Umstände darauf hinführen, mit tummeln
und Verlegnein Lächeln ratlos zwischen der lüsternen Zote und der Geheim-
thuerei oder dem Scheine des Nichtswisfens oder einer erheuchelten hochmütigen
Verachtung hin- und herschwankt.

Die untre Clique ist die der Pessimisten, die mit ihrem Meister Schopen¬
hauer den Willen zum Leben als das Böse, daher den Zengungsakt, die
stärkste Bejahung des Willens zum Leben, als den Urquell aller Sünde be¬
zeichnet, dessen sich der Mensch mit Recht schäme. (Das ist, nebenbei bemerkt,
zugleich eine Mißdeutung des Schamgefühls; die Geschlechtsliebe ist ein Herzens¬
geheimnis, das nicht dnrch die Zeugenschaft eines dritten entweiht werden
darf; der Zartfühlende verbirgt sie, wie er andre Herzensgeheimnisse, z. B.
edle Handlungen, vor profanen Blicken verbirgt. Natürlich ist mit dieser An¬
deutung die Bedeutung des Schamgefühls nicht erschöpft.) Diese Ansicht ist
ein Gemisch von Buddhismus und Parsismus oder Manichäismus in neuem
Aufputz. Sie ist der Hauptsache nach dieselbe, wie die zwar nicht in der
katholischen Kirchenlehre, aber stellenweise in der Praxis des katholischen Mönchs-
wesens herrschende, und sie liegt unbewußt anch hie und da der Prüderie zu
Grunde. Gewisse hochmütige Fromme nehmen es unserm Herrgott aufrichtig
übel, daß er die Menschen nicht lieber auf deu Bäumen wachsen läßt, anstatt
sie auf eine nach ihren Begriffen so unanständige Weise auf die Welt kommen
zu lassen. Diesen Verirrungen gegenüber kaun man die würdige und tiefe
Ansicht vom Geschlechtsleben als mustergiltig empfehlen, die A. von Öttingen
in seiner Moralstatistik entwickelt; aber die ist eben keine Errungenschaft unsers
Jahrhunderts, sondern aus der Bibel geschöpft.

Wenn wir vou deu ekstatischen Heiligen absehen, deren Dasein die meisten
unsrer Zeitgenossen für Betrug oder Selbsttäuschung halten, so würde die
geistigste unter allen Daseinsformen die eines Philosvphieprofesfors sein, der ganz
in Abstraktionen lebt. Aber die Welt hat wahrscheinlich Recht, wen" sie einem
Gedankenbau, der außer vou seinem Schöpfer fast vou niemand ordentlich ver¬
standen wird und der wenig erkennbaren Nutzen stiftet, keinen besonders hohen
Wert beilegt. Jedenfalls würde der Gedanke,° das Endziel der Weltentwicklung
sei die Heranbildung aller Menschen zu Professoren der Philosophie, mehr
in die "Fliegenden Blätter" als in die Geschichtsphilosophie gehören. Die
nützlichsten aller Abstraktionen sind unstreitig die mathematischen. Aber so
hoch wir anch die Mathematiker schätzen sowohl wegen des praktischen Nutzens,
den sie stiften, als wegen der Schwierigkeit ihrer Denkarbeit, ihnen die Palme
menschlicher Vollkommenheit zuzuerkennen, hält uns ihre Einseitigkeit ab;


Geschichtspl?iwsopl?ische Gedult-'en

Weltanschauung ihr doch sehr ähnliche Homer diese Dinge behandeln, ist die
richtige, und viel Unheil würde vermieden, wenn wir wieder zu derselben Auf¬
fassung und Reden'else gelangten, wenn das Geschlechtsleben wieder als eine
natürliche, notwendige und verehrungswürdige Einrichtung Gottes behandelt
würde, anstatt daß man, wenn die Umstände darauf hinführen, mit tummeln
und Verlegnein Lächeln ratlos zwischen der lüsternen Zote und der Geheim-
thuerei oder dem Scheine des Nichtswisfens oder einer erheuchelten hochmütigen
Verachtung hin- und herschwankt.

Die untre Clique ist die der Pessimisten, die mit ihrem Meister Schopen¬
hauer den Willen zum Leben als das Böse, daher den Zengungsakt, die
stärkste Bejahung des Willens zum Leben, als den Urquell aller Sünde be¬
zeichnet, dessen sich der Mensch mit Recht schäme. (Das ist, nebenbei bemerkt,
zugleich eine Mißdeutung des Schamgefühls; die Geschlechtsliebe ist ein Herzens¬
geheimnis, das nicht dnrch die Zeugenschaft eines dritten entweiht werden
darf; der Zartfühlende verbirgt sie, wie er andre Herzensgeheimnisse, z. B.
edle Handlungen, vor profanen Blicken verbirgt. Natürlich ist mit dieser An¬
deutung die Bedeutung des Schamgefühls nicht erschöpft.) Diese Ansicht ist
ein Gemisch von Buddhismus und Parsismus oder Manichäismus in neuem
Aufputz. Sie ist der Hauptsache nach dieselbe, wie die zwar nicht in der
katholischen Kirchenlehre, aber stellenweise in der Praxis des katholischen Mönchs-
wesens herrschende, und sie liegt unbewußt anch hie und da der Prüderie zu
Grunde. Gewisse hochmütige Fromme nehmen es unserm Herrgott aufrichtig
übel, daß er die Menschen nicht lieber auf deu Bäumen wachsen läßt, anstatt
sie auf eine nach ihren Begriffen so unanständige Weise auf die Welt kommen
zu lassen. Diesen Verirrungen gegenüber kaun man die würdige und tiefe
Ansicht vom Geschlechtsleben als mustergiltig empfehlen, die A. von Öttingen
in seiner Moralstatistik entwickelt; aber die ist eben keine Errungenschaft unsers
Jahrhunderts, sondern aus der Bibel geschöpft.

Wenn wir vou deu ekstatischen Heiligen absehen, deren Dasein die meisten
unsrer Zeitgenossen für Betrug oder Selbsttäuschung halten, so würde die
geistigste unter allen Daseinsformen die eines Philosvphieprofesfors sein, der ganz
in Abstraktionen lebt. Aber die Welt hat wahrscheinlich Recht, wen» sie einem
Gedankenbau, der außer vou seinem Schöpfer fast vou niemand ordentlich ver¬
standen wird und der wenig erkennbaren Nutzen stiftet, keinen besonders hohen
Wert beilegt. Jedenfalls würde der Gedanke,° das Endziel der Weltentwicklung
sei die Heranbildung aller Menschen zu Professoren der Philosophie, mehr
in die „Fliegenden Blätter" als in die Geschichtsphilosophie gehören. Die
nützlichsten aller Abstraktionen sind unstreitig die mathematischen. Aber so
hoch wir anch die Mathematiker schätzen sowohl wegen des praktischen Nutzens,
den sie stiften, als wegen der Schwierigkeit ihrer Denkarbeit, ihnen die Palme
menschlicher Vollkommenheit zuzuerkennen, hält uns ihre Einseitigkeit ab;


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[0549] Geschichtspl?iwsopl?ische Gedult-'en Weltanschauung ihr doch sehr ähnliche Homer diese Dinge behandeln, ist die richtige, und viel Unheil würde vermieden, wenn wir wieder zu derselben Auf¬ fassung und Reden'else gelangten, wenn das Geschlechtsleben wieder als eine natürliche, notwendige und verehrungswürdige Einrichtung Gottes behandelt würde, anstatt daß man, wenn die Umstände darauf hinführen, mit tummeln und Verlegnein Lächeln ratlos zwischen der lüsternen Zote und der Geheim- thuerei oder dem Scheine des Nichtswisfens oder einer erheuchelten hochmütigen Verachtung hin- und herschwankt. Die untre Clique ist die der Pessimisten, die mit ihrem Meister Schopen¬ hauer den Willen zum Leben als das Böse, daher den Zengungsakt, die stärkste Bejahung des Willens zum Leben, als den Urquell aller Sünde be¬ zeichnet, dessen sich der Mensch mit Recht schäme. (Das ist, nebenbei bemerkt, zugleich eine Mißdeutung des Schamgefühls; die Geschlechtsliebe ist ein Herzens¬ geheimnis, das nicht dnrch die Zeugenschaft eines dritten entweiht werden darf; der Zartfühlende verbirgt sie, wie er andre Herzensgeheimnisse, z. B. edle Handlungen, vor profanen Blicken verbirgt. Natürlich ist mit dieser An¬ deutung die Bedeutung des Schamgefühls nicht erschöpft.) Diese Ansicht ist ein Gemisch von Buddhismus und Parsismus oder Manichäismus in neuem Aufputz. Sie ist der Hauptsache nach dieselbe, wie die zwar nicht in der katholischen Kirchenlehre, aber stellenweise in der Praxis des katholischen Mönchs- wesens herrschende, und sie liegt unbewußt anch hie und da der Prüderie zu Grunde. Gewisse hochmütige Fromme nehmen es unserm Herrgott aufrichtig übel, daß er die Menschen nicht lieber auf deu Bäumen wachsen läßt, anstatt sie auf eine nach ihren Begriffen so unanständige Weise auf die Welt kommen zu lassen. Diesen Verirrungen gegenüber kaun man die würdige und tiefe Ansicht vom Geschlechtsleben als mustergiltig empfehlen, die A. von Öttingen in seiner Moralstatistik entwickelt; aber die ist eben keine Errungenschaft unsers Jahrhunderts, sondern aus der Bibel geschöpft. Wenn wir vou deu ekstatischen Heiligen absehen, deren Dasein die meisten unsrer Zeitgenossen für Betrug oder Selbsttäuschung halten, so würde die geistigste unter allen Daseinsformen die eines Philosvphieprofesfors sein, der ganz in Abstraktionen lebt. Aber die Welt hat wahrscheinlich Recht, wen» sie einem Gedankenbau, der außer vou seinem Schöpfer fast vou niemand ordentlich ver¬ standen wird und der wenig erkennbaren Nutzen stiftet, keinen besonders hohen Wert beilegt. Jedenfalls würde der Gedanke,° das Endziel der Weltentwicklung sei die Heranbildung aller Menschen zu Professoren der Philosophie, mehr in die „Fliegenden Blätter" als in die Geschichtsphilosophie gehören. Die nützlichsten aller Abstraktionen sind unstreitig die mathematischen. Aber so hoch wir anch die Mathematiker schätzen sowohl wegen des praktischen Nutzens, den sie stiften, als wegen der Schwierigkeit ihrer Denkarbeit, ihnen die Palme menschlicher Vollkommenheit zuzuerkennen, hält uns ihre Einseitigkeit ab;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/549>, abgerufen am 23.07.2024.