Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.Gcschichtsphilos^phische Gi.'d^ut^i I>"d Zügellosigkeit der Sitten i" der Mitte des vorigen Jahrhunderts in allen Keinerlei Berechtigung dagegen können wir zwei eigentümlichen, unter Gcschichtsphilos^phische Gi.'d^ut^i I>»d Zügellosigkeit der Sitten i» der Mitte des vorigen Jahrhunderts in allen Keinerlei Berechtigung dagegen können wir zwei eigentümlichen, unter <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0548" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209781"/> <fw type="header" place="top"> Gcschichtsphilos^phische Gi.'d^ut^i</fw><lb/> <p xml:id="ID_1537" prev="#ID_1536"> I>»d Zügellosigkeit der Sitten i» der Mitte des vorigen Jahrhunderts in allen<lb/> Schichten der Gesellschaft bis in den Hof hinein einen solchen Grad erreicht,<lb/> daß nnr dnrch die Einführung der strengsten Etikette der nnßere Anstand<lb/> wenigstens bei den Vornehmen notdürftig aufrecht erhalten werden konnte.<lb/> Also notwendig war hier ein strenger Zwang der Sitte, aber als einen Zu¬<lb/> stand höherer Sittlichkeit und Vergeistigung kann man diese Lage des gefesselten<lb/> Bullen, für den Schiller seine ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts<lb/> nicht geschrieben hat, doch wohl nicht nennen. In den übrigen europäischen<lb/> Ländern rechtfertigt sich die Prüderie namentlich bei der städtischen Bevölke¬<lb/> rung durch die Fürsorge für die Jugend, die bei der früher unerhörten Zu-<lb/> sammendrängung der Menschen ans kleine Räume, und mitten unter Mächten,<lb/> die das Familienleben teils gar nicht zustande kvnunen lassen, teils mit Auf¬<lb/> lösung bedrohen, in hohem Grade gefährdet ist. (Die Frage, ob nicht diese<lb/> Art der Fürsorge das Übel nur verschlimmere, und ob nicht die guten Wir¬<lb/> kungen unsrer heutigen Praxis von den schlimmen mehr als überwogen werden,<lb/> kann hier nicht erörtert werden.)</p><lb/> <p xml:id="ID_1538" next="#ID_1539"> Keinerlei Berechtigung dagegen können wir zwei eigentümlichen, unter<lb/> einander nicht gerade befreundeten Cliquen zugestehe», deren jede für sich den<lb/> Ruhm zartester Sittlichkeit und erhabenster Vergeistigung beansprucht. Die<lb/> eine nennt sich liberal und stellt sich höchst entrüstet, so oft jemand öffentlich<lb/> von den Nachtseiten des großstädtischen Lebens sprechen will, denn erstens<lb/> stehe es damit gar nicht schlimm, und zweitens gestatte die hoch und fein ent¬<lb/> wickelte Sittlichkeit unsrer Zeit die Verhandlung über solche Dinge höchstens<lb/> hinter verschlossenen Thüren. Konservative Blätter wollen wissen, daß gerade<lb/> diese Art von Liberalen an jener Nachtseite sehr stark beteiligt sei, woraus<lb/> sich die Schen vor öffentlicher Besprechung leicht erklären würde. Wie dem<lb/> auch sei, jedenfalls ist es grober Unfug, wenn diese modernen Heiligen vorgeben,<lb/> unsre Jugend vor der Verführung durch den Apostel Paulus schützen zu<lb/> müssen. Vor ein paar Jahren führte ein Blatt dieser Partei, ich weiß nicht<lb/> mehr, war es das „Berliner Tageblatt" oder die „Berliner Zeitung," Be¬<lb/> schwerde über Sendlinge der Stadtmission, die an den Pforten der höheren<lb/> Lehranstalten Flugblätter „unzüchtigen" Inhalts anstellten. Die als Proben<lb/> abgedruckten „unzüchtigen" Sätze waren — Stellen ans paulinischen Briefen,<lb/> was die Redakteure natürlich nicht gewußt haben. Die Zweckmäßigkeit des<lb/> Traktütchenverteilens lassen wir dahingestellt sein, aber man stelle sich vor:<lb/> die unschuldigen Berliner Jünglinge, verführt durch den Apostel Paulus! Und<lb/> ein Feuilletonist der „Neuen Freien Presse" bemerkte neulich, einem anständig<lb/> erzogenen Mädchen unsrer Tage könne man nicht gut zumuten, sich die<lb/> Aussprüche des Apostels Paulus über die Ehe anzuhören. Diese Art „keusche<lb/> Herzen" hat schon Mephistopheles in den bekannten Versen trefflich gezeichnet.<lb/> Gerade die Art und Weise, wie die Bibel und der bei allein Gegensatze der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0548]
Gcschichtsphilos^phische Gi.'d^ut^i
I>»d Zügellosigkeit der Sitten i» der Mitte des vorigen Jahrhunderts in allen
Schichten der Gesellschaft bis in den Hof hinein einen solchen Grad erreicht,
daß nnr dnrch die Einführung der strengsten Etikette der nnßere Anstand
wenigstens bei den Vornehmen notdürftig aufrecht erhalten werden konnte.
Also notwendig war hier ein strenger Zwang der Sitte, aber als einen Zu¬
stand höherer Sittlichkeit und Vergeistigung kann man diese Lage des gefesselten
Bullen, für den Schiller seine ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts
nicht geschrieben hat, doch wohl nicht nennen. In den übrigen europäischen
Ländern rechtfertigt sich die Prüderie namentlich bei der städtischen Bevölke¬
rung durch die Fürsorge für die Jugend, die bei der früher unerhörten Zu-
sammendrängung der Menschen ans kleine Räume, und mitten unter Mächten,
die das Familienleben teils gar nicht zustande kvnunen lassen, teils mit Auf¬
lösung bedrohen, in hohem Grade gefährdet ist. (Die Frage, ob nicht diese
Art der Fürsorge das Übel nur verschlimmere, und ob nicht die guten Wir¬
kungen unsrer heutigen Praxis von den schlimmen mehr als überwogen werden,
kann hier nicht erörtert werden.)
Keinerlei Berechtigung dagegen können wir zwei eigentümlichen, unter
einander nicht gerade befreundeten Cliquen zugestehe», deren jede für sich den
Ruhm zartester Sittlichkeit und erhabenster Vergeistigung beansprucht. Die
eine nennt sich liberal und stellt sich höchst entrüstet, so oft jemand öffentlich
von den Nachtseiten des großstädtischen Lebens sprechen will, denn erstens
stehe es damit gar nicht schlimm, und zweitens gestatte die hoch und fein ent¬
wickelte Sittlichkeit unsrer Zeit die Verhandlung über solche Dinge höchstens
hinter verschlossenen Thüren. Konservative Blätter wollen wissen, daß gerade
diese Art von Liberalen an jener Nachtseite sehr stark beteiligt sei, woraus
sich die Schen vor öffentlicher Besprechung leicht erklären würde. Wie dem
auch sei, jedenfalls ist es grober Unfug, wenn diese modernen Heiligen vorgeben,
unsre Jugend vor der Verführung durch den Apostel Paulus schützen zu
müssen. Vor ein paar Jahren führte ein Blatt dieser Partei, ich weiß nicht
mehr, war es das „Berliner Tageblatt" oder die „Berliner Zeitung," Be¬
schwerde über Sendlinge der Stadtmission, die an den Pforten der höheren
Lehranstalten Flugblätter „unzüchtigen" Inhalts anstellten. Die als Proben
abgedruckten „unzüchtigen" Sätze waren — Stellen ans paulinischen Briefen,
was die Redakteure natürlich nicht gewußt haben. Die Zweckmäßigkeit des
Traktütchenverteilens lassen wir dahingestellt sein, aber man stelle sich vor:
die unschuldigen Berliner Jünglinge, verführt durch den Apostel Paulus! Und
ein Feuilletonist der „Neuen Freien Presse" bemerkte neulich, einem anständig
erzogenen Mädchen unsrer Tage könne man nicht gut zumuten, sich die
Aussprüche des Apostels Paulus über die Ehe anzuhören. Diese Art „keusche
Herzen" hat schon Mephistopheles in den bekannten Versen trefflich gezeichnet.
Gerade die Art und Weise, wie die Bibel und der bei allein Gegensatze der
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