Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.Goschichtsphilosophische Gedanken betrieben wird --, Personen endlich, die ihr Leben einer Schrulle opfern: das Aber hat nicht gerade unsre Zeit wirklich einen bedeutenden Schritt, ja Goschichtsphilosophische Gedanken betrieben wird —, Personen endlich, die ihr Leben einer Schrulle opfern: das Aber hat nicht gerade unsre Zeit wirklich einen bedeutenden Schritt, ja <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0547" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209780"/> <fw type="header" place="top"> Goschichtsphilosophische Gedanken</fw><lb/> <p xml:id="ID_1535" prev="#ID_1534"> betrieben wird —, Personen endlich, die ihr Leben einer Schrulle opfern: das<lb/> Neue Testament ans ein Quartblatt zu schreiben und was dergleichen Thor¬<lb/> heiten mehr sind. Im allgemeinen kann man sagen, daß Personen, in denen<lb/> die Sinnlichkeit von Hans aus schwach oder durch Erziehung völlig ertötet<lb/> worden ist, bei hoher geistiger Begabung leicht unheimliche Fanatiker, wenn<lb/> sie aber mittelmäßige Köpfe sind, lederne Pedanten oder verschrobene Menschen<lb/> werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1536" next="#ID_1537"> Aber hat nicht gerade unsre Zeit wirklich einen bedeutenden Schritt, ja<lb/> einen ungeheuern Sprung zur Vergeistigung hin gethan, indem sie alle Naivität<lb/> abgestreift und das Natürliche des Menschendaseins ans der Öffentlichkeit, aus<lb/> den Sitten und aus der Sprache verbannt hat? Der Bürger einer andern<lb/> Welt, der unsre Erde zu Stndienzwecken bereiste und sich ausschließlich in<lb/> guter Gesellschaft bewegte, würde es kaum vermuten, daß unser Leib<lb/> durchaus tierähnlich organisirt ist. Ehe man dieser modernen Form der<lb/> Sittlichkeit, die gewöhnlich Prüderie genannt wird, den Rang der höchsten<lb/> bis jotzt erreichten Bergeistigungsstufe einräumt, müßte man vorher wissen,<lb/> wie weit sie auf Freiwilligkeit und wie weit sie ans Zwang beruht, d. h. also,<lb/> es müßten auf einige Monate alle darauf bezüglichen Strafgesetze, Polizei-<lb/> Vorschriften, Anstaltsvervrdnungen u. dergl. aufgehoben werden. Wahrscheinlich<lb/> würde die Probe nicht übermäßig glänzend ausfallen, wenigstens haben außer<lb/> den Obrigkeiten drei unter einander ganz verschiedene Menschenklassen ein recht<lb/> schlechtes Zutrauen zur Gegenwart in diesem Stücke: die Frommen, die Ver¬<lb/> fasser von „Sittenstücken" und jene Urdeutschen, nach deren Ansicht Nur tief<lb/> unter unsern sittenreinen heidnischen Vorfahren stehen, die durch die Berührung<lb/> mit der römischen Welt oder wohl gar durch die christliche Kirche ans Jahr¬<lb/> tausende hinaus verdorben worden seien. Nach dem Spruche des Horaz, daß<lb/> die Natur immer wiederkehrt, mag man sie auch mit Knütteln austreiben,<lb/> gewinnt die naturalistische, d. h. die Schmntzdichtnng in dein Maße Terrain,<lb/> als die Nntnr ans dem Leben verbannt wird. Die Prüderie ist bekanntlich<lb/> vor noch nicht langer Zeit in England entstanden, und die Engländer hatten<lb/> in der That guten Grund, sie zu erfinden. V. A. Huber sagt in seinen Schil¬<lb/> derungen spanischen Volkslebens bei Beschreibung des Fandcmgo: „Dieser Tanz<lb/> ist freilich weder eine Fastenpredigt noch ein Totengerippe, aber obseön ist<lb/> er nicht, wie die Engländer behaupten, die ein mittleres zwischen der albernsten<lb/> Prüderie und der gröbsten Gemeinheit nicht kennen." Wenn ein Volk so roh<lb/> ist, daß selbst seine Vornehmen eine schöne Gestalt nicht anders als mit den<lb/> Angen eines Türken anzublicken vermögen, dann bleibt freilich nichts übrig, als<lb/> den Augen den Anblick nicht allein des Natürlichen, sondern auch des Schönen,<lb/> das möglicherweise die Sinne reizen könnte, zu entziehen, und eigentlich müßten<lb/> die Engländer alle schöne Gestalten in Säcke stecken, um sie vor unsittlichen<lb/> Attentaten zu schützen. Und in der That hatte bei ihnen auch die Roheit</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0547]
Goschichtsphilosophische Gedanken
betrieben wird —, Personen endlich, die ihr Leben einer Schrulle opfern: das
Neue Testament ans ein Quartblatt zu schreiben und was dergleichen Thor¬
heiten mehr sind. Im allgemeinen kann man sagen, daß Personen, in denen
die Sinnlichkeit von Hans aus schwach oder durch Erziehung völlig ertötet
worden ist, bei hoher geistiger Begabung leicht unheimliche Fanatiker, wenn
sie aber mittelmäßige Köpfe sind, lederne Pedanten oder verschrobene Menschen
werden.
Aber hat nicht gerade unsre Zeit wirklich einen bedeutenden Schritt, ja
einen ungeheuern Sprung zur Vergeistigung hin gethan, indem sie alle Naivität
abgestreift und das Natürliche des Menschendaseins ans der Öffentlichkeit, aus
den Sitten und aus der Sprache verbannt hat? Der Bürger einer andern
Welt, der unsre Erde zu Stndienzwecken bereiste und sich ausschließlich in
guter Gesellschaft bewegte, würde es kaum vermuten, daß unser Leib
durchaus tierähnlich organisirt ist. Ehe man dieser modernen Form der
Sittlichkeit, die gewöhnlich Prüderie genannt wird, den Rang der höchsten
bis jotzt erreichten Bergeistigungsstufe einräumt, müßte man vorher wissen,
wie weit sie auf Freiwilligkeit und wie weit sie ans Zwang beruht, d. h. also,
es müßten auf einige Monate alle darauf bezüglichen Strafgesetze, Polizei-
Vorschriften, Anstaltsvervrdnungen u. dergl. aufgehoben werden. Wahrscheinlich
würde die Probe nicht übermäßig glänzend ausfallen, wenigstens haben außer
den Obrigkeiten drei unter einander ganz verschiedene Menschenklassen ein recht
schlechtes Zutrauen zur Gegenwart in diesem Stücke: die Frommen, die Ver¬
fasser von „Sittenstücken" und jene Urdeutschen, nach deren Ansicht Nur tief
unter unsern sittenreinen heidnischen Vorfahren stehen, die durch die Berührung
mit der römischen Welt oder wohl gar durch die christliche Kirche ans Jahr¬
tausende hinaus verdorben worden seien. Nach dem Spruche des Horaz, daß
die Natur immer wiederkehrt, mag man sie auch mit Knütteln austreiben,
gewinnt die naturalistische, d. h. die Schmntzdichtnng in dein Maße Terrain,
als die Nntnr ans dem Leben verbannt wird. Die Prüderie ist bekanntlich
vor noch nicht langer Zeit in England entstanden, und die Engländer hatten
in der That guten Grund, sie zu erfinden. V. A. Huber sagt in seinen Schil¬
derungen spanischen Volkslebens bei Beschreibung des Fandcmgo: „Dieser Tanz
ist freilich weder eine Fastenpredigt noch ein Totengerippe, aber obseön ist
er nicht, wie die Engländer behaupten, die ein mittleres zwischen der albernsten
Prüderie und der gröbsten Gemeinheit nicht kennen." Wenn ein Volk so roh
ist, daß selbst seine Vornehmen eine schöne Gestalt nicht anders als mit den
Angen eines Türken anzublicken vermögen, dann bleibt freilich nichts übrig, als
den Augen den Anblick nicht allein des Natürlichen, sondern auch des Schönen,
das möglicherweise die Sinne reizen könnte, zu entziehen, und eigentlich müßten
die Engländer alle schöne Gestalten in Säcke stecken, um sie vor unsittlichen
Attentaten zu schützen. Und in der That hatte bei ihnen auch die Roheit
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |