Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.Geschichisphilosophischc (Lüd^nten doch manche gegen unsre Zeit den gewiß ungerechten Vorwurf, das; sie mehr Oder meint man mit der Forderung der Vergeistigung, daß der Mensch, Geschichisphilosophischc (Lüd^nten doch manche gegen unsre Zeit den gewiß ungerechten Vorwurf, das; sie mehr Oder meint man mit der Forderung der Vergeistigung, daß der Mensch, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0546" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209779"/> <fw type="header" place="top"> Geschichisphilosophischc (Lüd^nten</fw><lb/> <p xml:id="ID_1533" prev="#ID_1532"> doch manche gegen unsre Zeit den gewiß ungerechten Vorwurf, das; sie mehr<lb/> als alle frühern i» Materialismus versunken sei.</p><lb/> <p xml:id="ID_1534" next="#ID_1535"> Oder meint man mit der Forderung der Vergeistigung, daß der Mensch,<lb/> ohne der Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse ganz zu entsagen, sich doch<lb/> vorherrschend von geistigen Interessen soll bewegen lassen? DaS ist eine<lb/> zweifellos wertvollere Art von Geistigkeit als die vorige, aber daß sie eine<lb/> Errungenschaft späterer Zeiten wäre, kann man doch anch von ihr nicht sagen.<lb/> Ich möchte wohl wissen, wie viel heutige Menschen sich in dieser Beziehung<lb/> den großen Propheten der Juden an die Seite stellen können, die in völliger<lb/> Gleichgiltigkeit gegen ihr eignes leibliches Wohl ganz und gar von der Liebe<lb/> zu ihrem Volte und vom Eifer für den Dienst des wahren Gottes verzehrt<lb/> wurden; und ihr größter — es ist merkwürdig, zu beobachte», wie die Er¬<lb/> habenheit, Kraft und Schönheit ihres Wortes von Jahrhundert zu Jahrhundert<lb/> sinkt — ihr größter, Jesaja, wirkte um 750 vor unsrer Zeitrechnung. Übrigens<lb/> sind die geistigen Interessen, dnrch die bei vielen Menschen das Sinnliche in<lb/> auffälliger Weise zurückgedrängt wird, sehr ungleichwertig, und die allgemeine<lb/> Meinung geht keineswegs dahin, solche unsinnliche Menschen unter allen Umständen<lb/> höher zu stellen als andre, die sich einer kräftigen Sinnlichkeit erfreuen oder,<lb/> wenn man lieber will, daran leiden. Jene französischen Schreckensmänner, die<lb/> monatelang Speise, Trank und Schlaf vergaßen, um Tag und Nacht Opfer<lb/> auszuspiouireu, Proskriptionslisten anzufertigen n»d Todesurteile zu unter¬<lb/> schreiben, waren doch einfach Teufel und Scheusale. (Freilich nahm der Mord-<lb/> fanatismns nur bei wenigen einen gewissermaßen asketischen Charakter an,<lb/> die meisten wälzten sich in den gröbsten nud lasterhaftesten Genüssen.) Andre<lb/> sind ungemein achtbar, können aber kaum als Muster der allgemeinen Nach¬<lb/> ahmung empfohlen werden. So der bekannte Komponist und verdiente .Klavier¬<lb/> lehrer Czerny, der sein ganzes Leben lang nichts that, als von früh bis in<lb/> die Nacht Klavierstunden geben und komponiren, der nicht heiratete, kein Wirts¬<lb/> haus, keine Gesellschaft besuchte und übrigens ein Mensch von edler Gesinnung<lb/> und vollkommener Herzens- und Sittenreinheit war. Also eine nützliche, ge¬<lb/> schlechtslose Arbeitsbiene, die aber der höhern Menschenwürde nicht entbehrt,<lb/> dabei ohne Frage moralischer als Goethe; und trotzdem, wer möchte ihn wohl<lb/> über Goethe stellen, wer möchte lieber Goethe als jenen in der Welt vermissen?<lb/> Die Zahl solcher Arbeitsbienen, die aber meistens noch weniger geistigen Ge¬<lb/> halt und ansprechende Eigenschaften auszuweisen haben als Czerny, ist nicht<lb/> gering. Hinter ihnen folgen noch mancherlei Menschenklassen, in denen irgend<lb/> ein einseitiges geistiges Interesse überwiegt, die wir aber sämtlich nicht sehr<lb/> hoch und zum Teil recht niedrig zu schätzen Pflegen: politische Kannegießer,<lb/> Wahlenmacher und Wühler von Profession, Projektenmacher, unglückliche Er¬<lb/> finder — eine Klasse, die noch nicht ausgestorben ist, obwohl das Erfinden<lb/> schon seit längerer Zeit planmäßig als eine sehr gewinnbringende Beschäftigung</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0546]
Geschichisphilosophischc (Lüd^nten
doch manche gegen unsre Zeit den gewiß ungerechten Vorwurf, das; sie mehr
als alle frühern i» Materialismus versunken sei.
Oder meint man mit der Forderung der Vergeistigung, daß der Mensch,
ohne der Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse ganz zu entsagen, sich doch
vorherrschend von geistigen Interessen soll bewegen lassen? DaS ist eine
zweifellos wertvollere Art von Geistigkeit als die vorige, aber daß sie eine
Errungenschaft späterer Zeiten wäre, kann man doch anch von ihr nicht sagen.
Ich möchte wohl wissen, wie viel heutige Menschen sich in dieser Beziehung
den großen Propheten der Juden an die Seite stellen können, die in völliger
Gleichgiltigkeit gegen ihr eignes leibliches Wohl ganz und gar von der Liebe
zu ihrem Volte und vom Eifer für den Dienst des wahren Gottes verzehrt
wurden; und ihr größter — es ist merkwürdig, zu beobachte», wie die Er¬
habenheit, Kraft und Schönheit ihres Wortes von Jahrhundert zu Jahrhundert
sinkt — ihr größter, Jesaja, wirkte um 750 vor unsrer Zeitrechnung. Übrigens
sind die geistigen Interessen, dnrch die bei vielen Menschen das Sinnliche in
auffälliger Weise zurückgedrängt wird, sehr ungleichwertig, und die allgemeine
Meinung geht keineswegs dahin, solche unsinnliche Menschen unter allen Umständen
höher zu stellen als andre, die sich einer kräftigen Sinnlichkeit erfreuen oder,
wenn man lieber will, daran leiden. Jene französischen Schreckensmänner, die
monatelang Speise, Trank und Schlaf vergaßen, um Tag und Nacht Opfer
auszuspiouireu, Proskriptionslisten anzufertigen n»d Todesurteile zu unter¬
schreiben, waren doch einfach Teufel und Scheusale. (Freilich nahm der Mord-
fanatismns nur bei wenigen einen gewissermaßen asketischen Charakter an,
die meisten wälzten sich in den gröbsten nud lasterhaftesten Genüssen.) Andre
sind ungemein achtbar, können aber kaum als Muster der allgemeinen Nach¬
ahmung empfohlen werden. So der bekannte Komponist und verdiente .Klavier¬
lehrer Czerny, der sein ganzes Leben lang nichts that, als von früh bis in
die Nacht Klavierstunden geben und komponiren, der nicht heiratete, kein Wirts¬
haus, keine Gesellschaft besuchte und übrigens ein Mensch von edler Gesinnung
und vollkommener Herzens- und Sittenreinheit war. Also eine nützliche, ge¬
schlechtslose Arbeitsbiene, die aber der höhern Menschenwürde nicht entbehrt,
dabei ohne Frage moralischer als Goethe; und trotzdem, wer möchte ihn wohl
über Goethe stellen, wer möchte lieber Goethe als jenen in der Welt vermissen?
Die Zahl solcher Arbeitsbienen, die aber meistens noch weniger geistigen Ge¬
halt und ansprechende Eigenschaften auszuweisen haben als Czerny, ist nicht
gering. Hinter ihnen folgen noch mancherlei Menschenklassen, in denen irgend
ein einseitiges geistiges Interesse überwiegt, die wir aber sämtlich nicht sehr
hoch und zum Teil recht niedrig zu schätzen Pflegen: politische Kannegießer,
Wahlenmacher und Wühler von Profession, Projektenmacher, unglückliche Er¬
finder — eine Klasse, die noch nicht ausgestorben ist, obwohl das Erfinden
schon seit längerer Zeit planmäßig als eine sehr gewinnbringende Beschäftigung
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