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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Nokokostudien

Erkern es, artiges Geschlechte!
Du siehst, wenn deiner Wangen Pracht
Aus mehr als hundert Grübchen lacht,
Getreue Freunde statt der Knechte,

dürfte doch in den Herzen der wenigsten nachhaltig gehaftet haben. Man
konnte sich bei der oberflächlichen Männerwelt, deren Urteil nur durch änßere
Eindrücke bestochen wurde, auf eine Würdigung der inneren Vorzüge wenig
Rechnung machen. Deshalb verließ man sich lieber auf die ausgleichende
Gerechtigkeit von Schminke, Puder und Musche. Die Gewalt dieser Erwägungen
war so heftig, daß der gegen die neue Mode gleich bei ihrem ersten Auftreten
unternommene Kampf von vornherein aussichtslos war. Ihn führte zuerst
ein Geistlicher, Juvernay. Vergeblich suchte er in seinein Vi8<zonrs "ontrs los
1oil>ins8 ÜLvilMuLK ÄL co doux8 die neue Sitte als ekelerregend zu brand¬
marken. Er predigte tauben Ohren, als er ausführte "daß diese so bepflasterte"
Damen die Herzen aller, die sie erblickten, vielmehr von sich abstießen als
reizten und Geschmack einflößten, da ein solches Pflaster als darunter ver¬
borgen Geschwür, Pocke, Warze oder andre Hnutschädeu (anslans ron^e, nuswle,
<alni vn imtrs lÄroin) voraussetzen lasse."") Die angefeindete Mode brach sich
Bahn und zwang auch allmählich die zur Nachfolge, die sich über eine Ver¬
nachlässigung durch die gütige Mutter Natur nicht beklagen konnten. Sie
dachten wie Ovid, der den Tadlern seiner Gedichte entgegnete, ein anmutiges
Gesicht könne dnrch ein kleines Mal nur gewinnen. Ihnen diente das schwarze
Pflüsterchen uach dem Gesetz des Kontrastes zur wirkungsvolleren Hervorhebung
ihres Teints. Beiden Verwendungen der Musche hat in den Tagen ihres
höchsten Glanzes der Sänger des "Renommisten" den knappsten dichterischen
Ausdruck geliehen:


Kein Blätterchen fuhr auf, die Musche mußt' es decken,
Und wo auch gar keins war, lag doch ein schwarzer Flecken.

Nachdem der Sieg des neuen Schönheitsmittels in Paris entschieden war,
drang es natürlich bald über die Grenzen seines Geburtslandes. Überall
wurde es freudig willkommen geheißen; schnell wuchs die Schar seiner Ver¬
ehrerinnen. Auch jenseits des Kanals fand es freundliche Aufnahme. Nur
bewahrte sich das stolze Albion das Recht einheimischer Bezeichnung: Moll.
In Deutschland wurde, wie üblich, mit der Sache auch der Name heimisch;
erst in der Schreibweise mcmelw (inosoa., die Fliege), dann suchte man dem
Dinge eine deutsches Mäntelchen umzuhängen und schrieb getrost Musche. Auch
die Koseform Müschchen wird von zärtlichen Anhängerinnen gebildet.

Von der Seine fand die Musche ihren Weg nach den Ufern der Pleiße
in das nicht erst von Goethe so genannte Klein-Paris. Hier war der Boden



") Angeführt bei Weiß, Kostümkunde S. 998.
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Erkern es, artiges Geschlechte!
Du siehst, wenn deiner Wangen Pracht
Aus mehr als hundert Grübchen lacht,
Getreue Freunde statt der Knechte,

dürfte doch in den Herzen der wenigsten nachhaltig gehaftet haben. Man
konnte sich bei der oberflächlichen Männerwelt, deren Urteil nur durch änßere
Eindrücke bestochen wurde, auf eine Würdigung der inneren Vorzüge wenig
Rechnung machen. Deshalb verließ man sich lieber auf die ausgleichende
Gerechtigkeit von Schminke, Puder und Musche. Die Gewalt dieser Erwägungen
war so heftig, daß der gegen die neue Mode gleich bei ihrem ersten Auftreten
unternommene Kampf von vornherein aussichtslos war. Ihn führte zuerst
ein Geistlicher, Juvernay. Vergeblich suchte er in seinein Vi8<zonrs «ontrs los
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marken. Er predigte tauben Ohren, als er ausführte „daß diese so bepflasterte»
Damen die Herzen aller, die sie erblickten, vielmehr von sich abstießen als
reizten und Geschmack einflößten, da ein solches Pflaster als darunter ver¬
borgen Geschwür, Pocke, Warze oder andre Hnutschädeu (anslans ron^e, nuswle,
<alni vn imtrs lÄroin) voraussetzen lasse."") Die angefeindete Mode brach sich
Bahn und zwang auch allmählich die zur Nachfolge, die sich über eine Ver¬
nachlässigung durch die gütige Mutter Natur nicht beklagen konnten. Sie
dachten wie Ovid, der den Tadlern seiner Gedichte entgegnete, ein anmutiges
Gesicht könne dnrch ein kleines Mal nur gewinnen. Ihnen diente das schwarze
Pflüsterchen uach dem Gesetz des Kontrastes zur wirkungsvolleren Hervorhebung
ihres Teints. Beiden Verwendungen der Musche hat in den Tagen ihres
höchsten Glanzes der Sänger des „Renommisten" den knappsten dichterischen
Ausdruck geliehen:


Kein Blätterchen fuhr auf, die Musche mußt' es decken,
Und wo auch gar keins war, lag doch ein schwarzer Flecken.

Nachdem der Sieg des neuen Schönheitsmittels in Paris entschieden war,
drang es natürlich bald über die Grenzen seines Geburtslandes. Überall
wurde es freudig willkommen geheißen; schnell wuchs die Schar seiner Ver¬
ehrerinnen. Auch jenseits des Kanals fand es freundliche Aufnahme. Nur
bewahrte sich das stolze Albion das Recht einheimischer Bezeichnung: Moll.
In Deutschland wurde, wie üblich, mit der Sache auch der Name heimisch;
erst in der Schreibweise mcmelw (inosoa., die Fliege), dann suchte man dem
Dinge eine deutsches Mäntelchen umzuhängen und schrieb getrost Musche. Auch
die Koseform Müschchen wird von zärtlichen Anhängerinnen gebildet.

Von der Seine fand die Musche ihren Weg nach den Ufern der Pleiße
in das nicht erst von Goethe so genannte Klein-Paris. Hier war der Boden



") Angeführt bei Weiß, Kostümkunde S. 998.
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[0520] Nokokostudien Erkern es, artiges Geschlechte! Du siehst, wenn deiner Wangen Pracht Aus mehr als hundert Grübchen lacht, Getreue Freunde statt der Knechte, dürfte doch in den Herzen der wenigsten nachhaltig gehaftet haben. Man konnte sich bei der oberflächlichen Männerwelt, deren Urteil nur durch änßere Eindrücke bestochen wurde, auf eine Würdigung der inneren Vorzüge wenig Rechnung machen. Deshalb verließ man sich lieber auf die ausgleichende Gerechtigkeit von Schminke, Puder und Musche. Die Gewalt dieser Erwägungen war so heftig, daß der gegen die neue Mode gleich bei ihrem ersten Auftreten unternommene Kampf von vornherein aussichtslos war. Ihn führte zuerst ein Geistlicher, Juvernay. Vergeblich suchte er in seinein Vi8<zonrs «ontrs los 1oil>ins8 ÜLvilMuLK ÄL co doux8 die neue Sitte als ekelerregend zu brand¬ marken. Er predigte tauben Ohren, als er ausführte „daß diese so bepflasterte» Damen die Herzen aller, die sie erblickten, vielmehr von sich abstießen als reizten und Geschmack einflößten, da ein solches Pflaster als darunter ver¬ borgen Geschwür, Pocke, Warze oder andre Hnutschädeu (anslans ron^e, nuswle, <alni vn imtrs lÄroin) voraussetzen lasse."") Die angefeindete Mode brach sich Bahn und zwang auch allmählich die zur Nachfolge, die sich über eine Ver¬ nachlässigung durch die gütige Mutter Natur nicht beklagen konnten. Sie dachten wie Ovid, der den Tadlern seiner Gedichte entgegnete, ein anmutiges Gesicht könne dnrch ein kleines Mal nur gewinnen. Ihnen diente das schwarze Pflüsterchen uach dem Gesetz des Kontrastes zur wirkungsvolleren Hervorhebung ihres Teints. Beiden Verwendungen der Musche hat in den Tagen ihres höchsten Glanzes der Sänger des „Renommisten" den knappsten dichterischen Ausdruck geliehen: Kein Blätterchen fuhr auf, die Musche mußt' es decken, Und wo auch gar keins war, lag doch ein schwarzer Flecken. Nachdem der Sieg des neuen Schönheitsmittels in Paris entschieden war, drang es natürlich bald über die Grenzen seines Geburtslandes. Überall wurde es freudig willkommen geheißen; schnell wuchs die Schar seiner Ver¬ ehrerinnen. Auch jenseits des Kanals fand es freundliche Aufnahme. Nur bewahrte sich das stolze Albion das Recht einheimischer Bezeichnung: Moll. In Deutschland wurde, wie üblich, mit der Sache auch der Name heimisch; erst in der Schreibweise mcmelw (inosoa., die Fliege), dann suchte man dem Dinge eine deutsches Mäntelchen umzuhängen und schrieb getrost Musche. Auch die Koseform Müschchen wird von zärtlichen Anhängerinnen gebildet. Von der Seine fand die Musche ihren Weg nach den Ufern der Pleiße in das nicht erst von Goethe so genannte Klein-Paris. Hier war der Boden ") Angeführt bei Weiß, Kostümkunde S. 998.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/520>, abgerufen am 23.07.2024.