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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Rokokostudien

oder die Musche (inouellv). In Bild und Wort ist das Andenken um die
lange Herrschaft dieses Schönheitsmittels festgehalten worden; ziemlich durch
anderthalb Jahrhunderte -- ungefähr 1640 bis 1780 -- laßt sich seine Bahn
in ihrem Aufsteigen, ihrem Höhepunkt und ihrem Niedergang verfolgen.

Die Zähigkeit, mit der man trotz der mannichfachsten Anfechtungen an
diesem für unser jetziges Empfinden so widerwärtigen Brauche festhielt, spricht
dafür, daß sich hier nicht ein flüchtiger Einfall der launischen Modegöttin die
Herrschaft eroberte, sondern daß ein tieferer Zug der Zeit mit einer Art von
Naturnotwendigkeit mehrere Geschlechterfolgen auf das Schminkpflästerchen
hinwies. Die Sucht der Verkleidung, der Übertüuchung und Verwischung
aller scharfkantigen individuellen Züge mußte im Zeitalter des höfischem Abso¬
lutismus, das die Wertschätzung des eignen Selbst, das Kraftgefühl freier
Persönlichkeit nicht aufkommen ließ, reiche Nahrung finden. In diesem Grunde
wurzelt eine Reihe von Erscheinungen der Mode, gegen die alle Mahnungen
besorgter selbständiger Geister wie die Stimme des Predigers in der Wüste
wirkungslos verhallten.

Als besonders bezeichnend für diese Zeit darf gerade durch ihre lauge
Dauer im steten Wechsel die kleine Musche gelten. Für Deutschland ist sie,
wenn man einen starken Ausdruck gebrauchen will, das Malzeichen an der
Stiru eines nach langen Leiden gedemütigten, fremder Sitte und Unsitte Unter¬
than gewordenen Geschlechtes. Sie hielt ihren Einzug in den Zeiten tiefsten
Niederganges deutscher Gesittung uach den Greueln des dreißigjährigen Krieges,
sie feierte ihre höchsten Triumphe in der Tviletteickuust des Rokoko, sie ver¬
schwand, nachdem seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die sittliche und
staatliche Kraft des deutschen Volkstums zu neuem Leben erwacht war, als sich
das Gefühl edler, freier Menschheit -- in dem umfassenden Sinne, den das
achtzehnte Jahrhundert diesem Worte beilegte -- in den Seelen regte. Von
diesem Gesichtspunkte aus darf wohl ein Rückblick auf die Geschichte dieses
kleinen Zierath weiblicher Eitelkeit des Versuches uicht günz uuwert erscheinen.

Das Licht der Welt erblickte die Musche an den Ufern der Seine, und schon
dadurch erwarb sie sich einen Anspruch auf die Herrschaft über die Frauenwelt
des Abendlandes. Im vierten Jahrzehnt des siebzehnten Jahrhunderts verfiel
eine erfinderische Schöne, die mit der Vorsehung um ihres Teiuts willen haderte,
auf den Gedanken, die Mängel ihrer Gesichtsbildung mit schwarzen zierlichen
Pflästerchen zu bekleben. Da zahlreiche Mitschwestern in gleicher Weise bei
Austeilung der äußern Reize sich verkürzt glaubten oder durch tückische Krank¬
heit um ihre ursprüngliche Schönheit gebracht waren, so fand dieser Vorgang
eifrige Nachfolge. Man mag dabei bedenken, daß die Blattern in manches lieb¬
liche Antlitz damals noch häufiger ihre traurigen Spuren eingruben als jetzt.
Der Trost, den ein Dichter des achtzehnten Jahrhunderts in einem "Lob der
Blattern" den so Gezeichnete" zuruft:


Rokokostudien

oder die Musche (inouellv). In Bild und Wort ist das Andenken um die
lange Herrschaft dieses Schönheitsmittels festgehalten worden; ziemlich durch
anderthalb Jahrhunderte — ungefähr 1640 bis 1780 — laßt sich seine Bahn
in ihrem Aufsteigen, ihrem Höhepunkt und ihrem Niedergang verfolgen.

Die Zähigkeit, mit der man trotz der mannichfachsten Anfechtungen an
diesem für unser jetziges Empfinden so widerwärtigen Brauche festhielt, spricht
dafür, daß sich hier nicht ein flüchtiger Einfall der launischen Modegöttin die
Herrschaft eroberte, sondern daß ein tieferer Zug der Zeit mit einer Art von
Naturnotwendigkeit mehrere Geschlechterfolgen auf das Schminkpflästerchen
hinwies. Die Sucht der Verkleidung, der Übertüuchung und Verwischung
aller scharfkantigen individuellen Züge mußte im Zeitalter des höfischem Abso¬
lutismus, das die Wertschätzung des eignen Selbst, das Kraftgefühl freier
Persönlichkeit nicht aufkommen ließ, reiche Nahrung finden. In diesem Grunde
wurzelt eine Reihe von Erscheinungen der Mode, gegen die alle Mahnungen
besorgter selbständiger Geister wie die Stimme des Predigers in der Wüste
wirkungslos verhallten.

Als besonders bezeichnend für diese Zeit darf gerade durch ihre lauge
Dauer im steten Wechsel die kleine Musche gelten. Für Deutschland ist sie,
wenn man einen starken Ausdruck gebrauchen will, das Malzeichen an der
Stiru eines nach langen Leiden gedemütigten, fremder Sitte und Unsitte Unter¬
than gewordenen Geschlechtes. Sie hielt ihren Einzug in den Zeiten tiefsten
Niederganges deutscher Gesittung uach den Greueln des dreißigjährigen Krieges,
sie feierte ihre höchsten Triumphe in der Tviletteickuust des Rokoko, sie ver¬
schwand, nachdem seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die sittliche und
staatliche Kraft des deutschen Volkstums zu neuem Leben erwacht war, als sich
das Gefühl edler, freier Menschheit — in dem umfassenden Sinne, den das
achtzehnte Jahrhundert diesem Worte beilegte — in den Seelen regte. Von
diesem Gesichtspunkte aus darf wohl ein Rückblick auf die Geschichte dieses
kleinen Zierath weiblicher Eitelkeit des Versuches uicht günz uuwert erscheinen.

Das Licht der Welt erblickte die Musche an den Ufern der Seine, und schon
dadurch erwarb sie sich einen Anspruch auf die Herrschaft über die Frauenwelt
des Abendlandes. Im vierten Jahrzehnt des siebzehnten Jahrhunderts verfiel
eine erfinderische Schöne, die mit der Vorsehung um ihres Teiuts willen haderte,
auf den Gedanken, die Mängel ihrer Gesichtsbildung mit schwarzen zierlichen
Pflästerchen zu bekleben. Da zahlreiche Mitschwestern in gleicher Weise bei
Austeilung der äußern Reize sich verkürzt glaubten oder durch tückische Krank¬
heit um ihre ursprüngliche Schönheit gebracht waren, so fand dieser Vorgang
eifrige Nachfolge. Man mag dabei bedenken, daß die Blattern in manches lieb¬
liche Antlitz damals noch häufiger ihre traurigen Spuren eingruben als jetzt.
Der Trost, den ein Dichter des achtzehnten Jahrhunderts in einem „Lob der
Blattern" den so Gezeichnete» zuruft:


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[0519] Rokokostudien oder die Musche (inouellv). In Bild und Wort ist das Andenken um die lange Herrschaft dieses Schönheitsmittels festgehalten worden; ziemlich durch anderthalb Jahrhunderte — ungefähr 1640 bis 1780 — laßt sich seine Bahn in ihrem Aufsteigen, ihrem Höhepunkt und ihrem Niedergang verfolgen. Die Zähigkeit, mit der man trotz der mannichfachsten Anfechtungen an diesem für unser jetziges Empfinden so widerwärtigen Brauche festhielt, spricht dafür, daß sich hier nicht ein flüchtiger Einfall der launischen Modegöttin die Herrschaft eroberte, sondern daß ein tieferer Zug der Zeit mit einer Art von Naturnotwendigkeit mehrere Geschlechterfolgen auf das Schminkpflästerchen hinwies. Die Sucht der Verkleidung, der Übertüuchung und Verwischung aller scharfkantigen individuellen Züge mußte im Zeitalter des höfischem Abso¬ lutismus, das die Wertschätzung des eignen Selbst, das Kraftgefühl freier Persönlichkeit nicht aufkommen ließ, reiche Nahrung finden. In diesem Grunde wurzelt eine Reihe von Erscheinungen der Mode, gegen die alle Mahnungen besorgter selbständiger Geister wie die Stimme des Predigers in der Wüste wirkungslos verhallten. Als besonders bezeichnend für diese Zeit darf gerade durch ihre lauge Dauer im steten Wechsel die kleine Musche gelten. Für Deutschland ist sie, wenn man einen starken Ausdruck gebrauchen will, das Malzeichen an der Stiru eines nach langen Leiden gedemütigten, fremder Sitte und Unsitte Unter¬ than gewordenen Geschlechtes. Sie hielt ihren Einzug in den Zeiten tiefsten Niederganges deutscher Gesittung uach den Greueln des dreißigjährigen Krieges, sie feierte ihre höchsten Triumphe in der Tviletteickuust des Rokoko, sie ver¬ schwand, nachdem seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die sittliche und staatliche Kraft des deutschen Volkstums zu neuem Leben erwacht war, als sich das Gefühl edler, freier Menschheit — in dem umfassenden Sinne, den das achtzehnte Jahrhundert diesem Worte beilegte — in den Seelen regte. Von diesem Gesichtspunkte aus darf wohl ein Rückblick auf die Geschichte dieses kleinen Zierath weiblicher Eitelkeit des Versuches uicht günz uuwert erscheinen. Das Licht der Welt erblickte die Musche an den Ufern der Seine, und schon dadurch erwarb sie sich einen Anspruch auf die Herrschaft über die Frauenwelt des Abendlandes. Im vierten Jahrzehnt des siebzehnten Jahrhunderts verfiel eine erfinderische Schöne, die mit der Vorsehung um ihres Teiuts willen haderte, auf den Gedanken, die Mängel ihrer Gesichtsbildung mit schwarzen zierlichen Pflästerchen zu bekleben. Da zahlreiche Mitschwestern in gleicher Weise bei Austeilung der äußern Reize sich verkürzt glaubten oder durch tückische Krank¬ heit um ihre ursprüngliche Schönheit gebracht waren, so fand dieser Vorgang eifrige Nachfolge. Man mag dabei bedenken, daß die Blattern in manches lieb¬ liche Antlitz damals noch häufiger ihre traurigen Spuren eingruben als jetzt. Der Trost, den ein Dichter des achtzehnten Jahrhunderts in einem „Lob der Blattern" den so Gezeichnete» zuruft:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/519>, abgerufen am 25.08.2024.