Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Schuldig!

Roheiten, und von wilder Wut gepackt stürzt er mit eben demselben Beil, das
sein Sohn weggeworfen hat, von rückwärts auf den Bösewicht und schlägt
ihn mit einem Streich nieder. "Mord! Mord!" schallt es jetzt von allen
Seiten, die Leute laufen zusammen. Tableau: Thomas vor seinem hinge¬
streckten Opfer, Polizeimäuner an seiner Seite, die Menge im Halbkreis ge¬
ordnet. "schuldig! schuldig!" ruft er in seinem tiefen Ton mit den halb
blöde stierenden Augen an der Grenze des Wahnsinns, und der Vorhang füllt.
Was mit Martha und den Kindern nun weiter geschehen wird, geht uns nichts
an, so will es der Dichter, der keinen Ausweg aus dem Wirrsal seiner Lebens-
anschauung findet und nicht imstande ist, uns nach Art der reinen und rechten
Kunst mit einem Gefühl der Erhebung, der tragischen Befreiung und Erlösung
zu entlassen.

Das ist das neueste Werk der Vossischen Muse. Ohne Zweifel das Werk
eines Dichters und eines Kenners der theatralischen Wirkung; aber auch das
Werk eines unseligen Menschen, der, von dem Basiliskenblick des Elends ge¬
fesselt, sich nicht darüber erheben kann, vielmehr mit der Sophistik des äußer¬
lichen Menschen sich tiefer und immer tiefer darein verbohrt. Er glaubt, uns
die Wahrheit zu geben, und schwache Seelen glauben es mit ihm; aber das
ganze Stück hängt an einem dünnen Faden und füllt zusammen, wenn dieser
reißt. Diesen Faden bildet der gute Assessor, der zu unrechter Zeit ohne
rechten Grund vom Schauplatz verschwindet, wodurch das Verbrechen erst
möglich wird. Diese Sophistik eines raffinirten Bühnenmenschen, wie Richard
Voß es ist, macht geradezu einen abstoßenden Eindruck, weil sie sich mit schönen
Worten zu schmücken versteht und so viel Talent verschwendet. Die Tragik
seines Motivs liegt nicht in dem eingekerkerten Unschuldigen, sondern in dem
Richter, der ihn verurteilt hat, in dem Richter, der hier auch nicht als
Persönlichkeit, sondern als Vertreter der Gesamtheit tragisch ist. Diese Art
Tragik will uns darum gar nicht dramatisch brauchbar erscheinen, es müßten
noch andre Motive hinzutreten, etwa: allzu großes Vertrauen auf die Fähig¬
keit, unter allen Umständen Recht zu sprechen, um solch einen Mann zu einem
tragischen Menschen zu machen. Der von dem ungerechten Richtersprüche be¬
troffene Mensch ist nicht tragisch, sondern unglücklich, in entsetzlichster Weise
unglücklich, aber keineswegs tragisch. Und nichts als Unglück führt uns auch
das Stück mit allen Mitteln der Rührung und Rhetorik vor. Aber auch das
wäre noch das Schlimmste nicht, wenn es nicht so roh wäre! Zu sehen, wie
einem Menschen, und wäre es auch ein Teufel wie Marthns Zuhälter, auf
offener Bühne von hinten der Kopf gespalten wird -- das ist ein Anblick für
Schlächter, aber nicht für Menschen. Dieses Mittel, poetische Gerechtigkeit an
der "Bestie des Lebens" zu üben, kann nur von unsäglich verrohender Wirkung
auf das Publikum sein. Der Dichter weckt die allergemeinsten Instinkte, und
wenn er schließlich den Kopfspalter als einen "Gerechten" in voller theatra-


Schuldig!

Roheiten, und von wilder Wut gepackt stürzt er mit eben demselben Beil, das
sein Sohn weggeworfen hat, von rückwärts auf den Bösewicht und schlägt
ihn mit einem Streich nieder. „Mord! Mord!" schallt es jetzt von allen
Seiten, die Leute laufen zusammen. Tableau: Thomas vor seinem hinge¬
streckten Opfer, Polizeimäuner an seiner Seite, die Menge im Halbkreis ge¬
ordnet. „schuldig! schuldig!" ruft er in seinem tiefen Ton mit den halb
blöde stierenden Augen an der Grenze des Wahnsinns, und der Vorhang füllt.
Was mit Martha und den Kindern nun weiter geschehen wird, geht uns nichts
an, so will es der Dichter, der keinen Ausweg aus dem Wirrsal seiner Lebens-
anschauung findet und nicht imstande ist, uns nach Art der reinen und rechten
Kunst mit einem Gefühl der Erhebung, der tragischen Befreiung und Erlösung
zu entlassen.

Das ist das neueste Werk der Vossischen Muse. Ohne Zweifel das Werk
eines Dichters und eines Kenners der theatralischen Wirkung; aber auch das
Werk eines unseligen Menschen, der, von dem Basiliskenblick des Elends ge¬
fesselt, sich nicht darüber erheben kann, vielmehr mit der Sophistik des äußer¬
lichen Menschen sich tiefer und immer tiefer darein verbohrt. Er glaubt, uns
die Wahrheit zu geben, und schwache Seelen glauben es mit ihm; aber das
ganze Stück hängt an einem dünnen Faden und füllt zusammen, wenn dieser
reißt. Diesen Faden bildet der gute Assessor, der zu unrechter Zeit ohne
rechten Grund vom Schauplatz verschwindet, wodurch das Verbrechen erst
möglich wird. Diese Sophistik eines raffinirten Bühnenmenschen, wie Richard
Voß es ist, macht geradezu einen abstoßenden Eindruck, weil sie sich mit schönen
Worten zu schmücken versteht und so viel Talent verschwendet. Die Tragik
seines Motivs liegt nicht in dem eingekerkerten Unschuldigen, sondern in dem
Richter, der ihn verurteilt hat, in dem Richter, der hier auch nicht als
Persönlichkeit, sondern als Vertreter der Gesamtheit tragisch ist. Diese Art
Tragik will uns darum gar nicht dramatisch brauchbar erscheinen, es müßten
noch andre Motive hinzutreten, etwa: allzu großes Vertrauen auf die Fähig¬
keit, unter allen Umständen Recht zu sprechen, um solch einen Mann zu einem
tragischen Menschen zu machen. Der von dem ungerechten Richtersprüche be¬
troffene Mensch ist nicht tragisch, sondern unglücklich, in entsetzlichster Weise
unglücklich, aber keineswegs tragisch. Und nichts als Unglück führt uns auch
das Stück mit allen Mitteln der Rührung und Rhetorik vor. Aber auch das
wäre noch das Schlimmste nicht, wenn es nicht so roh wäre! Zu sehen, wie
einem Menschen, und wäre es auch ein Teufel wie Marthns Zuhälter, auf
offener Bühne von hinten der Kopf gespalten wird — das ist ein Anblick für
Schlächter, aber nicht für Menschen. Dieses Mittel, poetische Gerechtigkeit an
der „Bestie des Lebens" zu üben, kann nur von unsäglich verrohender Wirkung
auf das Publikum sein. Der Dichter weckt die allergemeinsten Instinkte, und
wenn er schließlich den Kopfspalter als einen „Gerechten" in voller theatra-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0517" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209750"/>
          <fw type="header" place="top"> Schuldig!</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1438" prev="#ID_1437"> Roheiten, und von wilder Wut gepackt stürzt er mit eben demselben Beil, das<lb/>
sein Sohn weggeworfen hat, von rückwärts auf den Bösewicht und schlägt<lb/>
ihn mit einem Streich nieder. &#x201E;Mord! Mord!" schallt es jetzt von allen<lb/>
Seiten, die Leute laufen zusammen. Tableau: Thomas vor seinem hinge¬<lb/>
streckten Opfer, Polizeimäuner an seiner Seite, die Menge im Halbkreis ge¬<lb/>
ordnet. &#x201E;schuldig! schuldig!" ruft er in seinem tiefen Ton mit den halb<lb/>
blöde stierenden Augen an der Grenze des Wahnsinns, und der Vorhang füllt.<lb/>
Was mit Martha und den Kindern nun weiter geschehen wird, geht uns nichts<lb/>
an, so will es der Dichter, der keinen Ausweg aus dem Wirrsal seiner Lebens-<lb/>
anschauung findet und nicht imstande ist, uns nach Art der reinen und rechten<lb/>
Kunst mit einem Gefühl der Erhebung, der tragischen Befreiung und Erlösung<lb/>
zu entlassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1439" next="#ID_1440"> Das ist das neueste Werk der Vossischen Muse. Ohne Zweifel das Werk<lb/>
eines Dichters und eines Kenners der theatralischen Wirkung; aber auch das<lb/>
Werk eines unseligen Menschen, der, von dem Basiliskenblick des Elends ge¬<lb/>
fesselt, sich nicht darüber erheben kann, vielmehr mit der Sophistik des äußer¬<lb/>
lichen Menschen sich tiefer und immer tiefer darein verbohrt. Er glaubt, uns<lb/>
die Wahrheit zu geben, und schwache Seelen glauben es mit ihm; aber das<lb/>
ganze Stück hängt an einem dünnen Faden und füllt zusammen, wenn dieser<lb/>
reißt. Diesen Faden bildet der gute Assessor, der zu unrechter Zeit ohne<lb/>
rechten Grund vom Schauplatz verschwindet, wodurch das Verbrechen erst<lb/>
möglich wird. Diese Sophistik eines raffinirten Bühnenmenschen, wie Richard<lb/>
Voß es ist, macht geradezu einen abstoßenden Eindruck, weil sie sich mit schönen<lb/>
Worten zu schmücken versteht und so viel Talent verschwendet. Die Tragik<lb/>
seines Motivs liegt nicht in dem eingekerkerten Unschuldigen, sondern in dem<lb/>
Richter, der ihn verurteilt hat, in dem Richter, der hier auch nicht als<lb/>
Persönlichkeit, sondern als Vertreter der Gesamtheit tragisch ist. Diese Art<lb/>
Tragik will uns darum gar nicht dramatisch brauchbar erscheinen, es müßten<lb/>
noch andre Motive hinzutreten, etwa: allzu großes Vertrauen auf die Fähig¬<lb/>
keit, unter allen Umständen Recht zu sprechen, um solch einen Mann zu einem<lb/>
tragischen Menschen zu machen. Der von dem ungerechten Richtersprüche be¬<lb/>
troffene Mensch ist nicht tragisch, sondern unglücklich, in entsetzlichster Weise<lb/>
unglücklich, aber keineswegs tragisch. Und nichts als Unglück führt uns auch<lb/>
das Stück mit allen Mitteln der Rührung und Rhetorik vor. Aber auch das<lb/>
wäre noch das Schlimmste nicht, wenn es nicht so roh wäre! Zu sehen, wie<lb/>
einem Menschen, und wäre es auch ein Teufel wie Marthns Zuhälter, auf<lb/>
offener Bühne von hinten der Kopf gespalten wird &#x2014; das ist ein Anblick für<lb/>
Schlächter, aber nicht für Menschen. Dieses Mittel, poetische Gerechtigkeit an<lb/>
der &#x201E;Bestie des Lebens" zu üben, kann nur von unsäglich verrohender Wirkung<lb/>
auf das Publikum sein. Der Dichter weckt die allergemeinsten Instinkte, und<lb/>
wenn er schließlich den Kopfspalter als einen &#x201E;Gerechten" in voller theatra-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0517] Schuldig! Roheiten, und von wilder Wut gepackt stürzt er mit eben demselben Beil, das sein Sohn weggeworfen hat, von rückwärts auf den Bösewicht und schlägt ihn mit einem Streich nieder. „Mord! Mord!" schallt es jetzt von allen Seiten, die Leute laufen zusammen. Tableau: Thomas vor seinem hinge¬ streckten Opfer, Polizeimäuner an seiner Seite, die Menge im Halbkreis ge¬ ordnet. „schuldig! schuldig!" ruft er in seinem tiefen Ton mit den halb blöde stierenden Augen an der Grenze des Wahnsinns, und der Vorhang füllt. Was mit Martha und den Kindern nun weiter geschehen wird, geht uns nichts an, so will es der Dichter, der keinen Ausweg aus dem Wirrsal seiner Lebens- anschauung findet und nicht imstande ist, uns nach Art der reinen und rechten Kunst mit einem Gefühl der Erhebung, der tragischen Befreiung und Erlösung zu entlassen. Das ist das neueste Werk der Vossischen Muse. Ohne Zweifel das Werk eines Dichters und eines Kenners der theatralischen Wirkung; aber auch das Werk eines unseligen Menschen, der, von dem Basiliskenblick des Elends ge¬ fesselt, sich nicht darüber erheben kann, vielmehr mit der Sophistik des äußer¬ lichen Menschen sich tiefer und immer tiefer darein verbohrt. Er glaubt, uns die Wahrheit zu geben, und schwache Seelen glauben es mit ihm; aber das ganze Stück hängt an einem dünnen Faden und füllt zusammen, wenn dieser reißt. Diesen Faden bildet der gute Assessor, der zu unrechter Zeit ohne rechten Grund vom Schauplatz verschwindet, wodurch das Verbrechen erst möglich wird. Diese Sophistik eines raffinirten Bühnenmenschen, wie Richard Voß es ist, macht geradezu einen abstoßenden Eindruck, weil sie sich mit schönen Worten zu schmücken versteht und so viel Talent verschwendet. Die Tragik seines Motivs liegt nicht in dem eingekerkerten Unschuldigen, sondern in dem Richter, der ihn verurteilt hat, in dem Richter, der hier auch nicht als Persönlichkeit, sondern als Vertreter der Gesamtheit tragisch ist. Diese Art Tragik will uns darum gar nicht dramatisch brauchbar erscheinen, es müßten noch andre Motive hinzutreten, etwa: allzu großes Vertrauen auf die Fähig¬ keit, unter allen Umständen Recht zu sprechen, um solch einen Mann zu einem tragischen Menschen zu machen. Der von dem ungerechten Richtersprüche be¬ troffene Mensch ist nicht tragisch, sondern unglücklich, in entsetzlichster Weise unglücklich, aber keineswegs tragisch. Und nichts als Unglück führt uns auch das Stück mit allen Mitteln der Rührung und Rhetorik vor. Aber auch das wäre noch das Schlimmste nicht, wenn es nicht so roh wäre! Zu sehen, wie einem Menschen, und wäre es auch ein Teufel wie Marthns Zuhälter, auf offener Bühne von hinten der Kopf gespalten wird — das ist ein Anblick für Schlächter, aber nicht für Menschen. Dieses Mittel, poetische Gerechtigkeit an der „Bestie des Lebens" zu üben, kann nur von unsäglich verrohender Wirkung auf das Publikum sein. Der Dichter weckt die allergemeinsten Instinkte, und wenn er schließlich den Kopfspalter als einen „Gerechten" in voller theatra-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/517
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/517>, abgerufen am 25.08.2024.