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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Schuldig!

ließ, die denn auch am 26. Februar stattgefunden hat. Für Wien wurde damit
dieser Abend zu einem litterarischen Ereignis, denn seitdem es von Berlin
auch in Theaterdingen überflügelt worden ist, kommen die Stücke in Wien
meist erst dann zur Aufführung, wenn sie in Berlin schon ihre Feuertaufe
erhalten haben.

Die Bezeichnung "Volksdrama" -- ein Verlegeuheitstitel -- könnte irre¬
führen und die Vermutung erwecken, daß sich Richard Boß in der Heimat
Anzengrnbers von dessen Vorliebe für das Bauernvolk ans der Bühne habe
zur Nachahmung hinreißen lassen. Dein ist aber nicht so. "Schuldig!" ist
kein Vvlksstück im Sinne Anzengrnbers, sondern ein bürgerliches Schan- und
Rührstück im modischen Geiste des Pessimismus, ohne eine Spur von Volks¬
tümlichkeit.

Die Handlung führt uns in ein Zuchthaus, ans dein Zuchthause hinaus
und wieder ins Zuchthaus zurück; das Zuchthaus giebt dem Vossischen Ge¬
mälde den Grundton. Thomas Lehr ist vor zwanzig Jahren unschuldig wegen
eines Raubmordes zu lebenslänglichem Kerker verurteilt worden. Er war ein
frischer, freudiger Geselle, Buchhalter in einem reichen Geschäftshause, seit drei
Jahren verheiratet und Vater zweier Kinder, eines Sohnes und einer Tochter,
glücklicher Gatte eines schönen nud braven Weibes, etwas jähzornig zwar und
eifersüchtig auf den Sohn seines Prinzipals, der Martha Lehr mit galanten
Bemühungen verfolgte, im übrigen aber ein guter Mensch. Sein böser Geist
war ein Kollege im Amte, Wilhelm Schmidt, der sein reines Vertrauen
schändlich, teuflisch mißbrauchte und ihn in das gräßlichste Unglück brachte.
(Diese Superlative brauchen wir hier mit Notwendigkeit, und das ist schon
bezeichnend für die Grundlage des ganzen dramatischen Baues.) Schmidt
hatte die Kasse seines Herrn bestehlen wollen, der junge Sohn des Hauses
ertappte ihn dabei, und Schmidt schoß ihn nieder. Thomas Lehr kam zu¬
fällig hinzu, weil er noch etwas in dem Bureau zu holen hatte, entsetzt über
das Verbrechen schlug er Lärm, mit satanischer Geistesgegenwart überschaute
der Mörder die Sachlage, stürzte sich auf Thomas Lehr, befleckte ihn mit
Blut, drückte ihm die Pistole in die Hand, stopfte ihm die Wertpapiere in die
Tasche und stürzte uun selbst zum Fenster, um den Mord auszuschreien und
Zeugen herbeizurufen. So wälzte er den Schein des Verbrechens auf
einen Unschuldigen, und diesem half kein Flehen, kein Beschwören, kein Bitten
und Beten, kein Rasen - gar nichts, er wurde des Mordes schuldig erkannt,
aus der Mitte der Seinigen herausgerissen und in das lebendige Grab des
ewigen Kerkers geworfen.

Dies die Vorgeschichte des auf der Bühne sich abspielenden Vorganges.
Für unser Gefühl so unwahrscheinlich als nur möglich, denn verständige Richter
vermögen die Stimme der Unschuld sehr wohl von der Verstellung eines Ver¬
brechers zu unterscheiden, heutzutage zumal, wo man mit solchem Eifer hinter


Grenzboten I 139t 64
Schuldig!

ließ, die denn auch am 26. Februar stattgefunden hat. Für Wien wurde damit
dieser Abend zu einem litterarischen Ereignis, denn seitdem es von Berlin
auch in Theaterdingen überflügelt worden ist, kommen die Stücke in Wien
meist erst dann zur Aufführung, wenn sie in Berlin schon ihre Feuertaufe
erhalten haben.

Die Bezeichnung „Volksdrama" — ein Verlegeuheitstitel — könnte irre¬
führen und die Vermutung erwecken, daß sich Richard Boß in der Heimat
Anzengrnbers von dessen Vorliebe für das Bauernvolk ans der Bühne habe
zur Nachahmung hinreißen lassen. Dein ist aber nicht so. „Schuldig!" ist
kein Vvlksstück im Sinne Anzengrnbers, sondern ein bürgerliches Schan- und
Rührstück im modischen Geiste des Pessimismus, ohne eine Spur von Volks¬
tümlichkeit.

Die Handlung führt uns in ein Zuchthaus, ans dein Zuchthause hinaus
und wieder ins Zuchthaus zurück; das Zuchthaus giebt dem Vossischen Ge¬
mälde den Grundton. Thomas Lehr ist vor zwanzig Jahren unschuldig wegen
eines Raubmordes zu lebenslänglichem Kerker verurteilt worden. Er war ein
frischer, freudiger Geselle, Buchhalter in einem reichen Geschäftshause, seit drei
Jahren verheiratet und Vater zweier Kinder, eines Sohnes und einer Tochter,
glücklicher Gatte eines schönen nud braven Weibes, etwas jähzornig zwar und
eifersüchtig auf den Sohn seines Prinzipals, der Martha Lehr mit galanten
Bemühungen verfolgte, im übrigen aber ein guter Mensch. Sein böser Geist
war ein Kollege im Amte, Wilhelm Schmidt, der sein reines Vertrauen
schändlich, teuflisch mißbrauchte und ihn in das gräßlichste Unglück brachte.
(Diese Superlative brauchen wir hier mit Notwendigkeit, und das ist schon
bezeichnend für die Grundlage des ganzen dramatischen Baues.) Schmidt
hatte die Kasse seines Herrn bestehlen wollen, der junge Sohn des Hauses
ertappte ihn dabei, und Schmidt schoß ihn nieder. Thomas Lehr kam zu¬
fällig hinzu, weil er noch etwas in dem Bureau zu holen hatte, entsetzt über
das Verbrechen schlug er Lärm, mit satanischer Geistesgegenwart überschaute
der Mörder die Sachlage, stürzte sich auf Thomas Lehr, befleckte ihn mit
Blut, drückte ihm die Pistole in die Hand, stopfte ihm die Wertpapiere in die
Tasche und stürzte uun selbst zum Fenster, um den Mord auszuschreien und
Zeugen herbeizurufen. So wälzte er den Schein des Verbrechens auf
einen Unschuldigen, und diesem half kein Flehen, kein Beschwören, kein Bitten
und Beten, kein Rasen - gar nichts, er wurde des Mordes schuldig erkannt,
aus der Mitte der Seinigen herausgerissen und in das lebendige Grab des
ewigen Kerkers geworfen.

Dies die Vorgeschichte des auf der Bühne sich abspielenden Vorganges.
Für unser Gefühl so unwahrscheinlich als nur möglich, denn verständige Richter
vermögen die Stimme der Unschuld sehr wohl von der Verstellung eines Ver¬
brechers zu unterscheiden, heutzutage zumal, wo man mit solchem Eifer hinter


Grenzboten I 139t 64
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[0513] Schuldig! ließ, die denn auch am 26. Februar stattgefunden hat. Für Wien wurde damit dieser Abend zu einem litterarischen Ereignis, denn seitdem es von Berlin auch in Theaterdingen überflügelt worden ist, kommen die Stücke in Wien meist erst dann zur Aufführung, wenn sie in Berlin schon ihre Feuertaufe erhalten haben. Die Bezeichnung „Volksdrama" — ein Verlegeuheitstitel — könnte irre¬ führen und die Vermutung erwecken, daß sich Richard Boß in der Heimat Anzengrnbers von dessen Vorliebe für das Bauernvolk ans der Bühne habe zur Nachahmung hinreißen lassen. Dein ist aber nicht so. „Schuldig!" ist kein Vvlksstück im Sinne Anzengrnbers, sondern ein bürgerliches Schan- und Rührstück im modischen Geiste des Pessimismus, ohne eine Spur von Volks¬ tümlichkeit. Die Handlung führt uns in ein Zuchthaus, ans dein Zuchthause hinaus und wieder ins Zuchthaus zurück; das Zuchthaus giebt dem Vossischen Ge¬ mälde den Grundton. Thomas Lehr ist vor zwanzig Jahren unschuldig wegen eines Raubmordes zu lebenslänglichem Kerker verurteilt worden. Er war ein frischer, freudiger Geselle, Buchhalter in einem reichen Geschäftshause, seit drei Jahren verheiratet und Vater zweier Kinder, eines Sohnes und einer Tochter, glücklicher Gatte eines schönen nud braven Weibes, etwas jähzornig zwar und eifersüchtig auf den Sohn seines Prinzipals, der Martha Lehr mit galanten Bemühungen verfolgte, im übrigen aber ein guter Mensch. Sein böser Geist war ein Kollege im Amte, Wilhelm Schmidt, der sein reines Vertrauen schändlich, teuflisch mißbrauchte und ihn in das gräßlichste Unglück brachte. (Diese Superlative brauchen wir hier mit Notwendigkeit, und das ist schon bezeichnend für die Grundlage des ganzen dramatischen Baues.) Schmidt hatte die Kasse seines Herrn bestehlen wollen, der junge Sohn des Hauses ertappte ihn dabei, und Schmidt schoß ihn nieder. Thomas Lehr kam zu¬ fällig hinzu, weil er noch etwas in dem Bureau zu holen hatte, entsetzt über das Verbrechen schlug er Lärm, mit satanischer Geistesgegenwart überschaute der Mörder die Sachlage, stürzte sich auf Thomas Lehr, befleckte ihn mit Blut, drückte ihm die Pistole in die Hand, stopfte ihm die Wertpapiere in die Tasche und stürzte uun selbst zum Fenster, um den Mord auszuschreien und Zeugen herbeizurufen. So wälzte er den Schein des Verbrechens auf einen Unschuldigen, und diesem half kein Flehen, kein Beschwören, kein Bitten und Beten, kein Rasen - gar nichts, er wurde des Mordes schuldig erkannt, aus der Mitte der Seinigen herausgerissen und in das lebendige Grab des ewigen Kerkers geworfen. Dies die Vorgeschichte des auf der Bühne sich abspielenden Vorganges. Für unser Gefühl so unwahrscheinlich als nur möglich, denn verständige Richter vermögen die Stimme der Unschuld sehr wohl von der Verstellung eines Ver¬ brechers zu unterscheiden, heutzutage zumal, wo man mit solchem Eifer hinter Grenzboten I 139t 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/513>, abgerufen am 25.08.2024.