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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

fortzuschreiten. Die Idee des Kopernikus setzt mehr Genie voraus, als alle
späteren Entdeckungen und Berechnungen der Astronomen, und keinem Chemiker
späterer Zeit bleibt mehr eine so wichtige und schwierige Entdeckung zu machen
übrig, wie die Lavoisiers war. Alle spätern arbeiten mit dem Stoff, den Hilfs¬
mitteln und Werkzeugen, die die frühern herbeigeschafft haben, sie haben es also
leichter; schwieriger haben sie es nnr, insofern sie größere Erkenntuisinassen in
ihr Gedächtnis aufnehmen müssen. Diese Schwierigkeit aber macht sich auch
schon dermaßen bemerklich, daß man häufig die Klage Hort, unsre Jugend
lerne sich dumm. Die Erfahrung lehrt also, daß die Fassungskraft unsers
Geschlechts nicht gewachsen ist. Die Geisteskraft eines Cäsar, der ein halbes
Dutzend Briefe gleichzeitig zu diktiren pflegte, eines Wolfram von Eschenbach, der
sein umfangreiches Gedicht diktirt hat, dürfte heutzutage kaum irgendwo gefunden
werden. Das Gedächtnis fcheint mit der wachsenden Menge gedruckter Krücken
sogar abzunehmen. Auch finden wir nicht, daß die geistigen Fähigkeiten
stetig gestärkt würden, wenn sie mehrere Geschlechter hindurch in derselben
Familie gepflegt werden, wie die Darwinische Ansicht von der steigenden
Vervollkommnung des Gehirns voraussetzt. Ein paar Geschlechter hin¬
durch scheint es oft der Fall zu sein. Dann fällt die Familie plötzlich ab.
Die Kinder werden dumm, und Kinder von Bauern, Handwerkern oder
andern kleinen Leuten bringen neues geistiges Leben in die stagnirende Ge¬
sellschaft. Dazu kommt die merkwürdige Entdeckung unsrer Zeit, daß Neger¬
kinder vollkommen imstande sind, die Schulpensa unsrer deutschen Volksschüler
zu bewältigen. Die Neger aber stehen auf einer tieferen Kulturstufe, als die
alten Ägypter und Babylonier gestanden haben. Etwas den Leistungen
Alexanders.des Großen ähnliches zu vollbringen, ist heute deswegen niemand
mehr imstande, weil kein Feld mehr dafür vorhanden ist; nicht einmal Afrika
ist uns so unbekannt, wie Asien jenseits des Tigris im Jahre 33!! den Griechen
war. Hätte also auch ein Mann Heiltiger Zeit das Genie Alexanders, so ver¬
möchte er es doch nicht zu beweisen. Wenn vor zehn Jahren ein 23jähriger
deutscher Offizier mit 35000 Mann nach Afrika gezogen wäre, in der Zeit
bis 1890 das Nilgebiet, das Seengebiet, das heutige englische und deutsche
Ostafrika erobert, organisirt, mit deutschem Geiste durchdrungen und eine Stadt
gegründet hätte, die 2000 Jahre hindurch der Hnupthandelshafen des indischen
Ozeans bliebe, so hätten Nur eine Leistung, °die sich dem Wunderwerke des
Mazedoniers an die Seite stellen ließe.

Also mit der Vervollkommnung in dein Sinne, daß die Menschen späterer
Zeiten begabtere Wesen wären als ihre Vorfahren, ist es nichts. Etwas mehr
Wahrheitsgehalt hat die Ansicht von der Vervollkommnung der Gesellschaft;
ja Schäffle meint, gerade auf soziologischen Gebiete, und nnr auf diesem, sei
der Darwinismus Wahrheit. Die Soziologen lehren uns betrachten, wie sich
der Gesellschaftskörper, dem tierischen und menschlichen ähnlich, aus Zellen


Geschichtsphilosophische Gedanken

fortzuschreiten. Die Idee des Kopernikus setzt mehr Genie voraus, als alle
späteren Entdeckungen und Berechnungen der Astronomen, und keinem Chemiker
späterer Zeit bleibt mehr eine so wichtige und schwierige Entdeckung zu machen
übrig, wie die Lavoisiers war. Alle spätern arbeiten mit dem Stoff, den Hilfs¬
mitteln und Werkzeugen, die die frühern herbeigeschafft haben, sie haben es also
leichter; schwieriger haben sie es nnr, insofern sie größere Erkenntuisinassen in
ihr Gedächtnis aufnehmen müssen. Diese Schwierigkeit aber macht sich auch
schon dermaßen bemerklich, daß man häufig die Klage Hort, unsre Jugend
lerne sich dumm. Die Erfahrung lehrt also, daß die Fassungskraft unsers
Geschlechts nicht gewachsen ist. Die Geisteskraft eines Cäsar, der ein halbes
Dutzend Briefe gleichzeitig zu diktiren pflegte, eines Wolfram von Eschenbach, der
sein umfangreiches Gedicht diktirt hat, dürfte heutzutage kaum irgendwo gefunden
werden. Das Gedächtnis fcheint mit der wachsenden Menge gedruckter Krücken
sogar abzunehmen. Auch finden wir nicht, daß die geistigen Fähigkeiten
stetig gestärkt würden, wenn sie mehrere Geschlechter hindurch in derselben
Familie gepflegt werden, wie die Darwinische Ansicht von der steigenden
Vervollkommnung des Gehirns voraussetzt. Ein paar Geschlechter hin¬
durch scheint es oft der Fall zu sein. Dann fällt die Familie plötzlich ab.
Die Kinder werden dumm, und Kinder von Bauern, Handwerkern oder
andern kleinen Leuten bringen neues geistiges Leben in die stagnirende Ge¬
sellschaft. Dazu kommt die merkwürdige Entdeckung unsrer Zeit, daß Neger¬
kinder vollkommen imstande sind, die Schulpensa unsrer deutschen Volksschüler
zu bewältigen. Die Neger aber stehen auf einer tieferen Kulturstufe, als die
alten Ägypter und Babylonier gestanden haben. Etwas den Leistungen
Alexanders.des Großen ähnliches zu vollbringen, ist heute deswegen niemand
mehr imstande, weil kein Feld mehr dafür vorhanden ist; nicht einmal Afrika
ist uns so unbekannt, wie Asien jenseits des Tigris im Jahre 33!! den Griechen
war. Hätte also auch ein Mann Heiltiger Zeit das Genie Alexanders, so ver¬
möchte er es doch nicht zu beweisen. Wenn vor zehn Jahren ein 23jähriger
deutscher Offizier mit 35000 Mann nach Afrika gezogen wäre, in der Zeit
bis 1890 das Nilgebiet, das Seengebiet, das heutige englische und deutsche
Ostafrika erobert, organisirt, mit deutschem Geiste durchdrungen und eine Stadt
gegründet hätte, die 2000 Jahre hindurch der Hnupthandelshafen des indischen
Ozeans bliebe, so hätten Nur eine Leistung, °die sich dem Wunderwerke des
Mazedoniers an die Seite stellen ließe.

Also mit der Vervollkommnung in dein Sinne, daß die Menschen späterer
Zeiten begabtere Wesen wären als ihre Vorfahren, ist es nichts. Etwas mehr
Wahrheitsgehalt hat die Ansicht von der Vervollkommnung der Gesellschaft;
ja Schäffle meint, gerade auf soziologischen Gebiete, und nnr auf diesem, sei
der Darwinismus Wahrheit. Die Soziologen lehren uns betrachten, wie sich
der Gesellschaftskörper, dem tierischen und menschlichen ähnlich, aus Zellen


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[0511] Geschichtsphilosophische Gedanken fortzuschreiten. Die Idee des Kopernikus setzt mehr Genie voraus, als alle späteren Entdeckungen und Berechnungen der Astronomen, und keinem Chemiker späterer Zeit bleibt mehr eine so wichtige und schwierige Entdeckung zu machen übrig, wie die Lavoisiers war. Alle spätern arbeiten mit dem Stoff, den Hilfs¬ mitteln und Werkzeugen, die die frühern herbeigeschafft haben, sie haben es also leichter; schwieriger haben sie es nnr, insofern sie größere Erkenntuisinassen in ihr Gedächtnis aufnehmen müssen. Diese Schwierigkeit aber macht sich auch schon dermaßen bemerklich, daß man häufig die Klage Hort, unsre Jugend lerne sich dumm. Die Erfahrung lehrt also, daß die Fassungskraft unsers Geschlechts nicht gewachsen ist. Die Geisteskraft eines Cäsar, der ein halbes Dutzend Briefe gleichzeitig zu diktiren pflegte, eines Wolfram von Eschenbach, der sein umfangreiches Gedicht diktirt hat, dürfte heutzutage kaum irgendwo gefunden werden. Das Gedächtnis fcheint mit der wachsenden Menge gedruckter Krücken sogar abzunehmen. Auch finden wir nicht, daß die geistigen Fähigkeiten stetig gestärkt würden, wenn sie mehrere Geschlechter hindurch in derselben Familie gepflegt werden, wie die Darwinische Ansicht von der steigenden Vervollkommnung des Gehirns voraussetzt. Ein paar Geschlechter hin¬ durch scheint es oft der Fall zu sein. Dann fällt die Familie plötzlich ab. Die Kinder werden dumm, und Kinder von Bauern, Handwerkern oder andern kleinen Leuten bringen neues geistiges Leben in die stagnirende Ge¬ sellschaft. Dazu kommt die merkwürdige Entdeckung unsrer Zeit, daß Neger¬ kinder vollkommen imstande sind, die Schulpensa unsrer deutschen Volksschüler zu bewältigen. Die Neger aber stehen auf einer tieferen Kulturstufe, als die alten Ägypter und Babylonier gestanden haben. Etwas den Leistungen Alexanders.des Großen ähnliches zu vollbringen, ist heute deswegen niemand mehr imstande, weil kein Feld mehr dafür vorhanden ist; nicht einmal Afrika ist uns so unbekannt, wie Asien jenseits des Tigris im Jahre 33!! den Griechen war. Hätte also auch ein Mann Heiltiger Zeit das Genie Alexanders, so ver¬ möchte er es doch nicht zu beweisen. Wenn vor zehn Jahren ein 23jähriger deutscher Offizier mit 35000 Mann nach Afrika gezogen wäre, in der Zeit bis 1890 das Nilgebiet, das Seengebiet, das heutige englische und deutsche Ostafrika erobert, organisirt, mit deutschem Geiste durchdrungen und eine Stadt gegründet hätte, die 2000 Jahre hindurch der Hnupthandelshafen des indischen Ozeans bliebe, so hätten Nur eine Leistung, °die sich dem Wunderwerke des Mazedoniers an die Seite stellen ließe. Also mit der Vervollkommnung in dein Sinne, daß die Menschen späterer Zeiten begabtere Wesen wären als ihre Vorfahren, ist es nichts. Etwas mehr Wahrheitsgehalt hat die Ansicht von der Vervollkommnung der Gesellschaft; ja Schäffle meint, gerade auf soziologischen Gebiete, und nnr auf diesem, sei der Darwinismus Wahrheit. Die Soziologen lehren uns betrachten, wie sich der Gesellschaftskörper, dem tierischen und menschlichen ähnlich, aus Zellen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/511>, abgerufen am 25.08.2024.