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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gesamten

Schule, die ihre Zöglinge zum Zergliedern der Beweggründe ihres Handelns
anleitet, erzieht unbrauchbare Grübler. Ein grüblerischer Wohlthäter läßt,
die Hemd im Geldsäcke, seine Armen verhungern, weil er nie mit sich darüber
ins Reine kommt, ob er auch aus völlig uneigennützigen Pflichtgefühl handelt,
und ob die Armen nicht vielleicht die Gabe mißbrauchen werden. Ein grüb¬
lerischer Vater wird, wenn sich sein Söhnchen einer Ungezogenheit schuldig
macht, mit emporgehobener Hand stehen bleiben, weil ihm Fichtes Lehrsatz
einfällt, daß es "mir niemals erlaubt ist, auf den Körper eines andern Menschen
wider dessen Willen einzufließen," und so wird in seinem Erzielnmgswerke
niemals eine Ohrfeige zustande komme". Ein grübelnder Knufmauu wird zum
Abschluß jedes einzelnen Geschäftes mindestens eine Woche brauchen. Vom
grübelnden Staatsmanne vollends wollen wir gar nicht reden. Buckle und
Hartpole Lecky haben sich ein besondres Vergnügen daraus gemacht, zu zeigen,
daß die Wohlfahrt des englischen Staates fast immer im umgekehrten Ver¬
hältnis zur Moralität seiner Könige zu- und abgenommen habe, und wenn
darin auch viel Übertreibung liegt, so kann man dem paradoxen Satze doch
nicht alle Wahrheit absprechen. Der verhängnisvolle Despotismus Philipps 11.
von Spanien beruht wesentlich darauf, daß ihn seine skrupulöse Gewissenhaftig-
keit zum Narren machte; und von Ludwig XVI. sagt Taine, er habe stets im
entscheidenden Augenblick das Richtige versäumt, weil das Christentum deu
König in ihm getötet hatte.

Demnach lassen sich die Bedingungen und gewissermaßen die Umrisse
sowohl der Glückseligkeit wie der seelischen Vollkommenheit zwar nur im all¬
gemeinen angeben, aber doch eben angeben, und darum ist es auch möglich,
beide zu fordern, woraus für die öffentlichen Gewalten die Pflicht entspringt,
dies zu thun. Fürst Bismarck soll zu einem seiner zahlreichen Besucher 'ge¬
äußert haben, es sei vergebliche Mühe, die Arbeiter zufriedenstellen zu wollen,
denn niemand sei auf Erden zufrieden, oder "haben Sie schon einmal einen
zufriedenen Millionär gesehen?" Ich halte diesen Ausspruch für unecht, weil
er bei einem welterfahrenen Manne und einem Staatsmanne, geschweige einem
großen Staatsmanne ganz unmöglich ist. Er enthält zwei Irrtümer, die bei
einem Staaatsmauue praktisch verhängnisvoll werden würden. Erstens daß
es keine zufriedenen Menschen gebe. Es giebt ihrer nämlich in Wirklichkeit,
und zwar zum Glück noch viele. Ich will nicht von jenem badischen Gym¬
nasiallehrer sprechen, einem ausgezeichneten Lehrer nach dem Zeugnis seiner
Kollegen, der, als in den sechziger Jahren die bis dahin bettelhafter Gehalte
die erste Aufbesserung erfuhren, sich standhaft weigerte, die Zulage anzunehmen:
"I brauch kam Zulag!" Dabei blieb er, und beharrte, in seinem Berufe
glücklich, mit seiner Schwester als Wirtschafterin, bei seinem äußerlich armseligen
Leben, unbeirrt dnrch den "Kulturfortschritt" seiner Umgebung. Das sind
Ausnahmen. Aber bei Bauern, und zwar gerade bei kleinen, die ihr ganzes


Geschichtsphilosophische Gesamten

Schule, die ihre Zöglinge zum Zergliedern der Beweggründe ihres Handelns
anleitet, erzieht unbrauchbare Grübler. Ein grüblerischer Wohlthäter läßt,
die Hemd im Geldsäcke, seine Armen verhungern, weil er nie mit sich darüber
ins Reine kommt, ob er auch aus völlig uneigennützigen Pflichtgefühl handelt,
und ob die Armen nicht vielleicht die Gabe mißbrauchen werden. Ein grüb¬
lerischer Vater wird, wenn sich sein Söhnchen einer Ungezogenheit schuldig
macht, mit emporgehobener Hand stehen bleiben, weil ihm Fichtes Lehrsatz
einfällt, daß es „mir niemals erlaubt ist, auf den Körper eines andern Menschen
wider dessen Willen einzufließen," und so wird in seinem Erzielnmgswerke
niemals eine Ohrfeige zustande komme». Ein grübelnder Knufmauu wird zum
Abschluß jedes einzelnen Geschäftes mindestens eine Woche brauchen. Vom
grübelnden Staatsmanne vollends wollen wir gar nicht reden. Buckle und
Hartpole Lecky haben sich ein besondres Vergnügen daraus gemacht, zu zeigen,
daß die Wohlfahrt des englischen Staates fast immer im umgekehrten Ver¬
hältnis zur Moralität seiner Könige zu- und abgenommen habe, und wenn
darin auch viel Übertreibung liegt, so kann man dem paradoxen Satze doch
nicht alle Wahrheit absprechen. Der verhängnisvolle Despotismus Philipps 11.
von Spanien beruht wesentlich darauf, daß ihn seine skrupulöse Gewissenhaftig-
keit zum Narren machte; und von Ludwig XVI. sagt Taine, er habe stets im
entscheidenden Augenblick das Richtige versäumt, weil das Christentum deu
König in ihm getötet hatte.

Demnach lassen sich die Bedingungen und gewissermaßen die Umrisse
sowohl der Glückseligkeit wie der seelischen Vollkommenheit zwar nur im all¬
gemeinen angeben, aber doch eben angeben, und darum ist es auch möglich,
beide zu fordern, woraus für die öffentlichen Gewalten die Pflicht entspringt,
dies zu thun. Fürst Bismarck soll zu einem seiner zahlreichen Besucher 'ge¬
äußert haben, es sei vergebliche Mühe, die Arbeiter zufriedenstellen zu wollen,
denn niemand sei auf Erden zufrieden, oder „haben Sie schon einmal einen
zufriedenen Millionär gesehen?" Ich halte diesen Ausspruch für unecht, weil
er bei einem welterfahrenen Manne und einem Staatsmanne, geschweige einem
großen Staatsmanne ganz unmöglich ist. Er enthält zwei Irrtümer, die bei
einem Staaatsmauue praktisch verhängnisvoll werden würden. Erstens daß
es keine zufriedenen Menschen gebe. Es giebt ihrer nämlich in Wirklichkeit,
und zwar zum Glück noch viele. Ich will nicht von jenem badischen Gym¬
nasiallehrer sprechen, einem ausgezeichneten Lehrer nach dem Zeugnis seiner
Kollegen, der, als in den sechziger Jahren die bis dahin bettelhafter Gehalte
die erste Aufbesserung erfuhren, sich standhaft weigerte, die Zulage anzunehmen:
„I brauch kam Zulag!" Dabei blieb er, und beharrte, in seinem Berufe
glücklich, mit seiner Schwester als Wirtschafterin, bei seinem äußerlich armseligen
Leben, unbeirrt dnrch den „Kulturfortschritt" seiner Umgebung. Das sind
Ausnahmen. Aber bei Bauern, und zwar gerade bei kleinen, die ihr ganzes


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[0506] Geschichtsphilosophische Gesamten Schule, die ihre Zöglinge zum Zergliedern der Beweggründe ihres Handelns anleitet, erzieht unbrauchbare Grübler. Ein grüblerischer Wohlthäter läßt, die Hemd im Geldsäcke, seine Armen verhungern, weil er nie mit sich darüber ins Reine kommt, ob er auch aus völlig uneigennützigen Pflichtgefühl handelt, und ob die Armen nicht vielleicht die Gabe mißbrauchen werden. Ein grüb¬ lerischer Vater wird, wenn sich sein Söhnchen einer Ungezogenheit schuldig macht, mit emporgehobener Hand stehen bleiben, weil ihm Fichtes Lehrsatz einfällt, daß es „mir niemals erlaubt ist, auf den Körper eines andern Menschen wider dessen Willen einzufließen," und so wird in seinem Erzielnmgswerke niemals eine Ohrfeige zustande komme». Ein grübelnder Knufmauu wird zum Abschluß jedes einzelnen Geschäftes mindestens eine Woche brauchen. Vom grübelnden Staatsmanne vollends wollen wir gar nicht reden. Buckle und Hartpole Lecky haben sich ein besondres Vergnügen daraus gemacht, zu zeigen, daß die Wohlfahrt des englischen Staates fast immer im umgekehrten Ver¬ hältnis zur Moralität seiner Könige zu- und abgenommen habe, und wenn darin auch viel Übertreibung liegt, so kann man dem paradoxen Satze doch nicht alle Wahrheit absprechen. Der verhängnisvolle Despotismus Philipps 11. von Spanien beruht wesentlich darauf, daß ihn seine skrupulöse Gewissenhaftig- keit zum Narren machte; und von Ludwig XVI. sagt Taine, er habe stets im entscheidenden Augenblick das Richtige versäumt, weil das Christentum deu König in ihm getötet hatte. Demnach lassen sich die Bedingungen und gewissermaßen die Umrisse sowohl der Glückseligkeit wie der seelischen Vollkommenheit zwar nur im all¬ gemeinen angeben, aber doch eben angeben, und darum ist es auch möglich, beide zu fordern, woraus für die öffentlichen Gewalten die Pflicht entspringt, dies zu thun. Fürst Bismarck soll zu einem seiner zahlreichen Besucher 'ge¬ äußert haben, es sei vergebliche Mühe, die Arbeiter zufriedenstellen zu wollen, denn niemand sei auf Erden zufrieden, oder „haben Sie schon einmal einen zufriedenen Millionär gesehen?" Ich halte diesen Ausspruch für unecht, weil er bei einem welterfahrenen Manne und einem Staatsmanne, geschweige einem großen Staatsmanne ganz unmöglich ist. Er enthält zwei Irrtümer, die bei einem Staaatsmauue praktisch verhängnisvoll werden würden. Erstens daß es keine zufriedenen Menschen gebe. Es giebt ihrer nämlich in Wirklichkeit, und zwar zum Glück noch viele. Ich will nicht von jenem badischen Gym¬ nasiallehrer sprechen, einem ausgezeichneten Lehrer nach dem Zeugnis seiner Kollegen, der, als in den sechziger Jahren die bis dahin bettelhafter Gehalte die erste Aufbesserung erfuhren, sich standhaft weigerte, die Zulage anzunehmen: „I brauch kam Zulag!" Dabei blieb er, und beharrte, in seinem Berufe glücklich, mit seiner Schwester als Wirtschafterin, bei seinem äußerlich armseligen Leben, unbeirrt dnrch den „Kulturfortschritt" seiner Umgebung. Das sind Ausnahmen. Aber bei Bauern, und zwar gerade bei kleinen, die ihr ganzes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/506>, abgerufen am 23.07.2024.