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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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mit Gift, Dolch oder Dynamik aus der Welt zu schaffen, und die sich bei
Erfüllung dieser selbstgewählten Pflicht freudig der Gefahr des Kerkers, oder
einer grausame" Hinrichtung, oder der Deportation in ein unwirkliches Land
aussetzen. Zudem steht diese Art und Weise, dem Pflichtgefühl einen gleich¬
mäßigen Inhalt zu geben, im schreiendsten Widersprüche mit der Freiheit, die
gerade von den Begründern unsrer preußischen Pflichtmornl als Wurzel und
zugleich als Endziel der Sittlichkeit gepriesen wird. Sie erwarten von dem
Fortschritte der Sittlichkeit, daß dereinst die pflichtmäßigen freien Willen aller
Einzelnen mit einander und demnach auch mit dem Staatswillen, der ja nichts
andres sei als ihre Gesamtheit, übereinstimmen werden. Dieses Ziel wird
ungefähr zu derselben Zeit erreicht werden, wie das der klassischen Volks¬
wirtschaftslehre: die allgemeine Interessenharmonie.

Gerade die Forderung der freien Sittlichkeit, so wahr sie vom Stand-
Punkt idealer Betrachtung sein und so wohlthätig sie im einzelnen wirken mag,
erweist sich bei der Anwendung aufs Ganze im Leben als völlig undurch¬
führbar. "Wer auf Autorität hin handelt, handelt notwendig gewissenlos,"
sagt Fichte (System der Sittenlehre). Klingt das nicht geradezu komisch
in unsrer Zeit, deren hervorragende Männer fast ausnahmslos über die
Neigung zum Ungehorsam jammern und die Wiederherstellung der elter¬
lichen, der Kirchen- und Stncitsautorität als das einzige Heilmittel aller Übel
Predigen? Ich wollte wetten: das Zulnnftsideal, das so mancher "liberale"
Protestant mit verschämter Liebe im geheimsten Herzenstainmerlein hegt, ist
eine Kaserne rechts und ein Jesuitenkvllegium links von seiner Fabrik. Aber
auch echte Liberale sehen ein, daß das Handeln ans Autorität hiu in keiner
geordneten Gesellschaft jemals wird entbehrt werden können. Selbständige
Geister, die ihre volle Unabhängigkeit wahren und sich von keiner Autorität
ihr Handeln vorschreiben lassen, sind jedem Volke notwendig, das nicht in
knechtischer Gewohnheit erstarren, sondern ein lebendiges Kulturvolk bleiben
will. Aber solche Männer müssen als Privatleute leben nud auf die Mit¬
wirkung in Staat und Kirche verzichten; wer einem größern Ganzen als
lebendiges Glied angehört, der muß, wenn er nicht etwa als unumschränkter
Herr an der Spitze steht, sehr oft auf Autorität hin handeln. Billige sein
Gewissen die Befehle der Autorität, desto besser für ihn; ist das nicht der
Fall, so hilft ihm kein Zittern vorm Frost: er muß sich unterwerfen oder ab¬
baute".

Nicht minder undurchführbar ist die Forderung Fichtes und Hegels, daß
die "unreflektirte" Sittlichkeit ganz allgemein zur bewußten erhoben werden,
daß jede Handlung des Menschen aus bewußter Sittlichkeit hervorgehen soll.
Neunundneunzig Hundertel von allem Guten und Nützlichen, was in der Welt
geschieht, wird teils gewohnheitsmäßig, teils ans natürlicher Gutmütigkeit und
richtigem Instinkt, teils aus selbstsüchtigen Beweggründen vollbracht, und eine


Grenzboten I 1L91 gZ

mit Gift, Dolch oder Dynamik aus der Welt zu schaffen, und die sich bei
Erfüllung dieser selbstgewählten Pflicht freudig der Gefahr des Kerkers, oder
einer grausame» Hinrichtung, oder der Deportation in ein unwirkliches Land
aussetzen. Zudem steht diese Art und Weise, dem Pflichtgefühl einen gleich¬
mäßigen Inhalt zu geben, im schreiendsten Widersprüche mit der Freiheit, die
gerade von den Begründern unsrer preußischen Pflichtmornl als Wurzel und
zugleich als Endziel der Sittlichkeit gepriesen wird. Sie erwarten von dem
Fortschritte der Sittlichkeit, daß dereinst die pflichtmäßigen freien Willen aller
Einzelnen mit einander und demnach auch mit dem Staatswillen, der ja nichts
andres sei als ihre Gesamtheit, übereinstimmen werden. Dieses Ziel wird
ungefähr zu derselben Zeit erreicht werden, wie das der klassischen Volks¬
wirtschaftslehre: die allgemeine Interessenharmonie.

Gerade die Forderung der freien Sittlichkeit, so wahr sie vom Stand-
Punkt idealer Betrachtung sein und so wohlthätig sie im einzelnen wirken mag,
erweist sich bei der Anwendung aufs Ganze im Leben als völlig undurch¬
führbar. „Wer auf Autorität hin handelt, handelt notwendig gewissenlos,"
sagt Fichte (System der Sittenlehre). Klingt das nicht geradezu komisch
in unsrer Zeit, deren hervorragende Männer fast ausnahmslos über die
Neigung zum Ungehorsam jammern und die Wiederherstellung der elter¬
lichen, der Kirchen- und Stncitsautorität als das einzige Heilmittel aller Übel
Predigen? Ich wollte wetten: das Zulnnftsideal, das so mancher „liberale"
Protestant mit verschämter Liebe im geheimsten Herzenstainmerlein hegt, ist
eine Kaserne rechts und ein Jesuitenkvllegium links von seiner Fabrik. Aber
auch echte Liberale sehen ein, daß das Handeln ans Autorität hiu in keiner
geordneten Gesellschaft jemals wird entbehrt werden können. Selbständige
Geister, die ihre volle Unabhängigkeit wahren und sich von keiner Autorität
ihr Handeln vorschreiben lassen, sind jedem Volke notwendig, das nicht in
knechtischer Gewohnheit erstarren, sondern ein lebendiges Kulturvolk bleiben
will. Aber solche Männer müssen als Privatleute leben nud auf die Mit¬
wirkung in Staat und Kirche verzichten; wer einem größern Ganzen als
lebendiges Glied angehört, der muß, wenn er nicht etwa als unumschränkter
Herr an der Spitze steht, sehr oft auf Autorität hin handeln. Billige sein
Gewissen die Befehle der Autorität, desto besser für ihn; ist das nicht der
Fall, so hilft ihm kein Zittern vorm Frost: er muß sich unterwerfen oder ab¬
baute».

Nicht minder undurchführbar ist die Forderung Fichtes und Hegels, daß
die „unreflektirte" Sittlichkeit ganz allgemein zur bewußten erhoben werden,
daß jede Handlung des Menschen aus bewußter Sittlichkeit hervorgehen soll.
Neunundneunzig Hundertel von allem Guten und Nützlichen, was in der Welt
geschieht, wird teils gewohnheitsmäßig, teils ans natürlicher Gutmütigkeit und
richtigem Instinkt, teils aus selbstsüchtigen Beweggründen vollbracht, und eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/505>, abgerufen am 23.07.2024.