Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule

der gewöhnlichsten Sprechfehler bietet: das Gären lMachzieheu von unartitu-
lirteu Latlten oh -- äh -- eh -- ah, französisch immummcmt), das Räuspern
(auch Husten), die Kunstpause, das lästige Dehnen von Vokalen, das Wieder¬
holen von Silbe" und Wörter" -- alles uur, um Zeit zu gewinnen, wenn
die Übersetzung nicht gerade auswendig gelernt ist. Wohin fuhrt das?

Luuirr e.ni^ne. Der neusprachliche Unterricht soll Französisch oder Englisch
lehren, aber nicht Deutsch, Das wenige zweifelhafte Gute, was dieser Unterricht
für die Muttersprache thun könnte, verschwindet vor der drohenden Wahr¬
scheinlichkeit einer schweren, später unheilbaren Schädigung der grammatischen
Richtigkeit, der Klarheit, Reinheit, Geläufigkeit und Schönheit des mündliche"
und schriftlichen Ausdrucks, des Sprachgefühls und des Sprachgcwissens.

Die Sprechfehler führen uns auch auf die Aussprache. Ich könnte einen
ganzen Chorus von Pädagogen von Herder an bis ans unsre Zeit anführen,
un> zu zeige", wie sehr gerade dieser Zweig des deutschen Unterrichts im
argen liegt. "Schönes, ausdrucksvolles Lese", freien Gebrauch der Mutter¬
sprache, zusammenhängendes Sprechen in alle" Fächer"" rät der Sprachverein.
Aber er hätte auch vor dem papiernen, für lautes Lesen und für das Hören
gar nicht bestimmten Lesestoff warnen sollen, der unsern Schülern meist in
Anthologien geboten wird. In einer solchen "Blumenlese" treten dein Schüler
überdies eine Menge Schriftsteller entgegen, jeder mit seiner fest und originell
ausgeprägte" sprachlichem Eigentümlichkeit. Kein Mensch hat sich aber noch
nach Anthologie" eine" guten Stil angeeignet oder gar gilt spreche" lerne". Wir
habe" ferner zwar einen großen Überfluß an Grammatiker jener papiernen
Sprache, aber eine Grammatik der gesprochenen Sprache, die von den Wörtern
und Sätzen absieht und nur die lebendig dahinfließende Rede auffaßt, die
Bedeutung des logischen Accents, des musikalischen Tonfalles berücksichtigt,
die die eigentliche Seele der Sprache sind und oft trotz der Worte den ent-
gegengesetzten Sinn hervorbringen -- hat die deutsche Schule noch nicht.

Die Aussprache des Deutschen in der Schule, rät der deutsche Sprach¬
verein, möge sich "im ganzen möglichst" an die Sprache der Bühne anschließen,
"ohne durch das Streben nach Vermeidung aller mundartlichen Anklänge ins
Gezierte zu verfallen." Dieser Wink ist, wie man sieht, äußerst vorsichtig
gefaßt und läßt der Anwendung dnrch den Lehrer einen weiten Spielraum. Es
erklärt sich das aus der Verlegenheit, in die man stets versetzt wird, wenn
von einer mustergiltigen Aussprache des Deutschen die Rede ist. Ein Standard¬
deutsch besteht in Wirklichkeit leider nicht, sondern nnr eine ziemliche Anzahl
mundartlich angehauchter Musterspracheu, ebenso wenig aber auch eine ein¬
heitliche Bühnensprache. Die Bühuenspracheu entfernen sich besonders in den
Höhen, dramatischen Stücken sehr bedeutend von der Sprache des Lebens.
Was auf der Bühne Leben ist, ist im Leben Komödie. Daher wird anch die
Nachahmung mit großer Vorsicht empfohlen. Überdies setzt die Forderung


Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule

der gewöhnlichsten Sprechfehler bietet: das Gären lMachzieheu von unartitu-
lirteu Latlten oh — äh — eh — ah, französisch immummcmt), das Räuspern
(auch Husten), die Kunstpause, das lästige Dehnen von Vokalen, das Wieder¬
holen von Silbe» und Wörter« — alles uur, um Zeit zu gewinnen, wenn
die Übersetzung nicht gerade auswendig gelernt ist. Wohin fuhrt das?

Luuirr e.ni^ne. Der neusprachliche Unterricht soll Französisch oder Englisch
lehren, aber nicht Deutsch, Das wenige zweifelhafte Gute, was dieser Unterricht
für die Muttersprache thun könnte, verschwindet vor der drohenden Wahr¬
scheinlichkeit einer schweren, später unheilbaren Schädigung der grammatischen
Richtigkeit, der Klarheit, Reinheit, Geläufigkeit und Schönheit des mündliche»
und schriftlichen Ausdrucks, des Sprachgefühls und des Sprachgcwissens.

Die Sprechfehler führen uns auch auf die Aussprache. Ich könnte einen
ganzen Chorus von Pädagogen von Herder an bis ans unsre Zeit anführen,
un> zu zeige», wie sehr gerade dieser Zweig des deutschen Unterrichts im
argen liegt. „Schönes, ausdrucksvolles Lese«, freien Gebrauch der Mutter¬
sprache, zusammenhängendes Sprechen in alle» Fächer»" rät der Sprachverein.
Aber er hätte auch vor dem papiernen, für lautes Lesen und für das Hören
gar nicht bestimmten Lesestoff warnen sollen, der unsern Schülern meist in
Anthologien geboten wird. In einer solchen „Blumenlese" treten dein Schüler
überdies eine Menge Schriftsteller entgegen, jeder mit seiner fest und originell
ausgeprägte» sprachlichem Eigentümlichkeit. Kein Mensch hat sich aber noch
nach Anthologie» eine» guten Stil angeeignet oder gar gilt spreche» lerne». Wir
habe» ferner zwar einen großen Überfluß an Grammatiker jener papiernen
Sprache, aber eine Grammatik der gesprochenen Sprache, die von den Wörtern
und Sätzen absieht und nur die lebendig dahinfließende Rede auffaßt, die
Bedeutung des logischen Accents, des musikalischen Tonfalles berücksichtigt,
die die eigentliche Seele der Sprache sind und oft trotz der Worte den ent-
gegengesetzten Sinn hervorbringen — hat die deutsche Schule noch nicht.

Die Aussprache des Deutschen in der Schule, rät der deutsche Sprach¬
verein, möge sich „im ganzen möglichst" an die Sprache der Bühne anschließen,
„ohne durch das Streben nach Vermeidung aller mundartlichen Anklänge ins
Gezierte zu verfallen." Dieser Wink ist, wie man sieht, äußerst vorsichtig
gefaßt und läßt der Anwendung dnrch den Lehrer einen weiten Spielraum. Es
erklärt sich das aus der Verlegenheit, in die man stets versetzt wird, wenn
von einer mustergiltigen Aussprache des Deutschen die Rede ist. Ein Standard¬
deutsch besteht in Wirklichkeit leider nicht, sondern nnr eine ziemliche Anzahl
mundartlich angehauchter Musterspracheu, ebenso wenig aber auch eine ein¬
heitliche Bühnensprache. Die Bühuenspracheu entfernen sich besonders in den
Höhen, dramatischen Stücken sehr bedeutend von der Sprache des Lebens.
Was auf der Bühne Leben ist, ist im Leben Komödie. Daher wird anch die
Nachahmung mit großer Vorsicht empfohlen. Überdies setzt die Forderung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0500" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209733"/>
          <fw type="header" place="top"> Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1396" prev="#ID_1395"> der gewöhnlichsten Sprechfehler bietet: das Gären lMachzieheu von unartitu-<lb/>
lirteu Latlten oh &#x2014; äh &#x2014; eh &#x2014; ah, französisch immummcmt), das Räuspern<lb/>
(auch Husten), die Kunstpause, das lästige Dehnen von Vokalen, das Wieder¬<lb/>
holen von Silbe» und Wörter« &#x2014; alles uur, um Zeit zu gewinnen, wenn<lb/>
die Übersetzung nicht gerade auswendig gelernt ist.  Wohin fuhrt das?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1397"> Luuirr e.ni^ne. Der neusprachliche Unterricht soll Französisch oder Englisch<lb/>
lehren, aber nicht Deutsch, Das wenige zweifelhafte Gute, was dieser Unterricht<lb/>
für die Muttersprache thun könnte, verschwindet vor der drohenden Wahr¬<lb/>
scheinlichkeit einer schweren, später unheilbaren Schädigung der grammatischen<lb/>
Richtigkeit, der Klarheit, Reinheit, Geläufigkeit und Schönheit des mündliche»<lb/>
und schriftlichen Ausdrucks, des Sprachgefühls und des Sprachgcwissens.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1398"> Die Sprechfehler führen uns auch auf die Aussprache. Ich könnte einen<lb/>
ganzen Chorus von Pädagogen von Herder an bis ans unsre Zeit anführen,<lb/>
un&gt; zu zeige», wie sehr gerade dieser Zweig des deutschen Unterrichts im<lb/>
argen liegt. &#x201E;Schönes, ausdrucksvolles Lese«, freien Gebrauch der Mutter¬<lb/>
sprache, zusammenhängendes Sprechen in alle» Fächer»" rät der Sprachverein.<lb/>
Aber er hätte auch vor dem papiernen, für lautes Lesen und für das Hören<lb/>
gar nicht bestimmten Lesestoff warnen sollen, der unsern Schülern meist in<lb/>
Anthologien geboten wird. In einer solchen &#x201E;Blumenlese" treten dein Schüler<lb/>
überdies eine Menge Schriftsteller entgegen, jeder mit seiner fest und originell<lb/>
ausgeprägte» sprachlichem Eigentümlichkeit. Kein Mensch hat sich aber noch<lb/>
nach Anthologie» eine» guten Stil angeeignet oder gar gilt spreche» lerne». Wir<lb/>
habe» ferner zwar einen großen Überfluß an Grammatiker jener papiernen<lb/>
Sprache, aber eine Grammatik der gesprochenen Sprache, die von den Wörtern<lb/>
und Sätzen absieht und nur die lebendig dahinfließende Rede auffaßt, die<lb/>
Bedeutung des logischen Accents, des musikalischen Tonfalles berücksichtigt,<lb/>
die die eigentliche Seele der Sprache sind und oft trotz der Worte den ent-<lb/>
gegengesetzten Sinn hervorbringen &#x2014; hat die deutsche Schule noch nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1399" next="#ID_1400"> Die Aussprache des Deutschen in der Schule, rät der deutsche Sprach¬<lb/>
verein, möge sich &#x201E;im ganzen möglichst" an die Sprache der Bühne anschließen,<lb/>
&#x201E;ohne durch das Streben nach Vermeidung aller mundartlichen Anklänge ins<lb/>
Gezierte zu verfallen." Dieser Wink ist, wie man sieht, äußerst vorsichtig<lb/>
gefaßt und läßt der Anwendung dnrch den Lehrer einen weiten Spielraum. Es<lb/>
erklärt sich das aus der Verlegenheit, in die man stets versetzt wird, wenn<lb/>
von einer mustergiltigen Aussprache des Deutschen die Rede ist. Ein Standard¬<lb/>
deutsch besteht in Wirklichkeit leider nicht, sondern nnr eine ziemliche Anzahl<lb/>
mundartlich angehauchter Musterspracheu, ebenso wenig aber auch eine ein¬<lb/>
heitliche Bühnensprache. Die Bühuenspracheu entfernen sich besonders in den<lb/>
Höhen, dramatischen Stücken sehr bedeutend von der Sprache des Lebens.<lb/>
Was auf der Bühne Leben ist, ist im Leben Komödie. Daher wird anch die<lb/>
Nachahmung mit großer Vorsicht empfohlen.  Überdies setzt die Forderung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0500] Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule der gewöhnlichsten Sprechfehler bietet: das Gären lMachzieheu von unartitu- lirteu Latlten oh — äh — eh — ah, französisch immummcmt), das Räuspern (auch Husten), die Kunstpause, das lästige Dehnen von Vokalen, das Wieder¬ holen von Silbe» und Wörter« — alles uur, um Zeit zu gewinnen, wenn die Übersetzung nicht gerade auswendig gelernt ist. Wohin fuhrt das? Luuirr e.ni^ne. Der neusprachliche Unterricht soll Französisch oder Englisch lehren, aber nicht Deutsch, Das wenige zweifelhafte Gute, was dieser Unterricht für die Muttersprache thun könnte, verschwindet vor der drohenden Wahr¬ scheinlichkeit einer schweren, später unheilbaren Schädigung der grammatischen Richtigkeit, der Klarheit, Reinheit, Geläufigkeit und Schönheit des mündliche» und schriftlichen Ausdrucks, des Sprachgefühls und des Sprachgcwissens. Die Sprechfehler führen uns auch auf die Aussprache. Ich könnte einen ganzen Chorus von Pädagogen von Herder an bis ans unsre Zeit anführen, un> zu zeige», wie sehr gerade dieser Zweig des deutschen Unterrichts im argen liegt. „Schönes, ausdrucksvolles Lese«, freien Gebrauch der Mutter¬ sprache, zusammenhängendes Sprechen in alle» Fächer»" rät der Sprachverein. Aber er hätte auch vor dem papiernen, für lautes Lesen und für das Hören gar nicht bestimmten Lesestoff warnen sollen, der unsern Schülern meist in Anthologien geboten wird. In einer solchen „Blumenlese" treten dein Schüler überdies eine Menge Schriftsteller entgegen, jeder mit seiner fest und originell ausgeprägte» sprachlichem Eigentümlichkeit. Kein Mensch hat sich aber noch nach Anthologie» eine» guten Stil angeeignet oder gar gilt spreche» lerne». Wir habe» ferner zwar einen großen Überfluß an Grammatiker jener papiernen Sprache, aber eine Grammatik der gesprochenen Sprache, die von den Wörtern und Sätzen absieht und nur die lebendig dahinfließende Rede auffaßt, die Bedeutung des logischen Accents, des musikalischen Tonfalles berücksichtigt, die die eigentliche Seele der Sprache sind und oft trotz der Worte den ent- gegengesetzten Sinn hervorbringen — hat die deutsche Schule noch nicht. Die Aussprache des Deutschen in der Schule, rät der deutsche Sprach¬ verein, möge sich „im ganzen möglichst" an die Sprache der Bühne anschließen, „ohne durch das Streben nach Vermeidung aller mundartlichen Anklänge ins Gezierte zu verfallen." Dieser Wink ist, wie man sieht, äußerst vorsichtig gefaßt und läßt der Anwendung dnrch den Lehrer einen weiten Spielraum. Es erklärt sich das aus der Verlegenheit, in die man stets versetzt wird, wenn von einer mustergiltigen Aussprache des Deutschen die Rede ist. Ein Standard¬ deutsch besteht in Wirklichkeit leider nicht, sondern nnr eine ziemliche Anzahl mundartlich angehauchter Musterspracheu, ebenso wenig aber auch eine ein¬ heitliche Bühnensprache. Die Bühuenspracheu entfernen sich besonders in den Höhen, dramatischen Stücken sehr bedeutend von der Sprache des Lebens. Was auf der Bühne Leben ist, ist im Leben Komödie. Daher wird anch die Nachahmung mit großer Vorsicht empfohlen. Überdies setzt die Forderung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/500
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/500>, abgerufen am 23.07.2024.