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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule

konnten, aber der arme Gaukler samt seinen hundert Kunststücken konnte nie¬
mand finden, der sein Geld dafür hinauswerfen wollte; vergebens erbot er
sich, Feuer zu fressen und Stecknadeln zu speien. Niemand wollte ihm bei¬
bringen, bis er endlich bei dem Schneider, dessen Handwerk er verachtet
hatte, betteln mußte.

Die "geistige Gymnastik" und die "formale Bildung" hat mit ihrer Ver¬
achtung jedes nützlichen Zwecks viele solche Zauberer erzogen, die hundert
Sachen konnten, nur nichts Nützliches. Aber wir dürfen uns vou den Zeiten
der Hungersnot nicht überraschen lassen, wir dürfen nicht mehr jeden prak¬
tischen Zweck von unsern Lehrzielen ausschließen, wenn wir nicht endlich bei
Schneidern betteln wollen. Eine Waffe, die unsre Schule besonders schleifen
und deren Handhabung sie vor allem lehren muß, ist die Herrschaft über
die Muttersprache in Wort und Schrift. Der deutsche Sprachverein hat
in richtiger Würdigung der Wichtigkeit der Schule zur Erreichung dieses
Zweckes in seiner Hauptversammlung vom 28. Mai 1890 das ausgesprochen,
was er von der deutscheu Schule erwartet. Er hat es auch nicht unterlassen,
den Jugendbilduern Winke und Ratschläge zu geben, die zur Erfüllung dieser
Aufgabe führen sollen. Diese Wünsche, von or. Dünger in Dresden ver¬
treten und in sechs Punkte zusammengefaßt, wurden einstimmig angenommen.
Da sie fast in allen deutschgeschriebeneu Zeitungen und Zeitschriften ab¬
gedruckt und so zu allgemeiner Kenntnis gekommen sind, haben sie überall,
wo die deutsche Sprache gesprochen, gepflegt und gegen das Vordringen andrer
Sprachen verteidigt wird, insbesondre in den Kreisen der Lehrer, großes Inter¬
esse hervorgerufen, sodaß sie z. B. dem deutschösterreichischen Mittelschultage,
der jetzt zu Ostern in Wien tagen wird, Gelegenheit bieten werden, sich von
seinem Standpunkt aus darüber zu äußern, ob diese Forderungen des deutschen
Sprachvereins bei deu gegenwärtigen Unterrichtseinrichtungen und Lehrzielen
erfüllt, ob und inwieweit die angeregten Mittel ergriffen und die Ratschläge
befolgt werden können. Vou dem schulmüßigen Unterrichte hängt aber das
Gelingen der Bestrebungen des deutschen Sprachvereins zum großen Teil ab.
Der in alten Sprach- und Schreibgewohnheiten altgewvrdene Mann der
Wissenschaft, der Zeitungsschreiber, der Schriftsteller wird sich kaum ohne
Schädigung der Klarheit und Gewandtheit seines Denkens in die neue Rich¬
tung ganz einleben können. Die reine deutsche sprech- und Schreibweise muß
vou Kindesbeinen an gelernt, durch Übung und Gewöhnung in Fleisch und
Blut übergegangen sein, ehe gute und ausgereifte Früchte erzielt werde" können.
Zur Erreichung dieses Zieles ist es aber nicht hinreichend, Programme auf¬
zustellen, hie und da die Wege zu weisen, sondern es ist auch notwendig, vor
dem Schädlichen zu warnen.

Es ist nicht wenig, was der deutsche Sprachverein von der Schule
fordert, doch alle seine Wünsche sind in dem Schlngwvrte zusammengedrängt:


Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule

konnten, aber der arme Gaukler samt seinen hundert Kunststücken konnte nie¬
mand finden, der sein Geld dafür hinauswerfen wollte; vergebens erbot er
sich, Feuer zu fressen und Stecknadeln zu speien. Niemand wollte ihm bei¬
bringen, bis er endlich bei dem Schneider, dessen Handwerk er verachtet
hatte, betteln mußte.

Die „geistige Gymnastik" und die „formale Bildung" hat mit ihrer Ver¬
achtung jedes nützlichen Zwecks viele solche Zauberer erzogen, die hundert
Sachen konnten, nur nichts Nützliches. Aber wir dürfen uns vou den Zeiten
der Hungersnot nicht überraschen lassen, wir dürfen nicht mehr jeden prak¬
tischen Zweck von unsern Lehrzielen ausschließen, wenn wir nicht endlich bei
Schneidern betteln wollen. Eine Waffe, die unsre Schule besonders schleifen
und deren Handhabung sie vor allem lehren muß, ist die Herrschaft über
die Muttersprache in Wort und Schrift. Der deutsche Sprachverein hat
in richtiger Würdigung der Wichtigkeit der Schule zur Erreichung dieses
Zweckes in seiner Hauptversammlung vom 28. Mai 1890 das ausgesprochen,
was er von der deutscheu Schule erwartet. Er hat es auch nicht unterlassen,
den Jugendbilduern Winke und Ratschläge zu geben, die zur Erfüllung dieser
Aufgabe führen sollen. Diese Wünsche, von or. Dünger in Dresden ver¬
treten und in sechs Punkte zusammengefaßt, wurden einstimmig angenommen.
Da sie fast in allen deutschgeschriebeneu Zeitungen und Zeitschriften ab¬
gedruckt und so zu allgemeiner Kenntnis gekommen sind, haben sie überall,
wo die deutsche Sprache gesprochen, gepflegt und gegen das Vordringen andrer
Sprachen verteidigt wird, insbesondre in den Kreisen der Lehrer, großes Inter¬
esse hervorgerufen, sodaß sie z. B. dem deutschösterreichischen Mittelschultage,
der jetzt zu Ostern in Wien tagen wird, Gelegenheit bieten werden, sich von
seinem Standpunkt aus darüber zu äußern, ob diese Forderungen des deutschen
Sprachvereins bei deu gegenwärtigen Unterrichtseinrichtungen und Lehrzielen
erfüllt, ob und inwieweit die angeregten Mittel ergriffen und die Ratschläge
befolgt werden können. Vou dem schulmüßigen Unterrichte hängt aber das
Gelingen der Bestrebungen des deutschen Sprachvereins zum großen Teil ab.
Der in alten Sprach- und Schreibgewohnheiten altgewvrdene Mann der
Wissenschaft, der Zeitungsschreiber, der Schriftsteller wird sich kaum ohne
Schädigung der Klarheit und Gewandtheit seines Denkens in die neue Rich¬
tung ganz einleben können. Die reine deutsche sprech- und Schreibweise muß
vou Kindesbeinen an gelernt, durch Übung und Gewöhnung in Fleisch und
Blut übergegangen sein, ehe gute und ausgereifte Früchte erzielt werde» können.
Zur Erreichung dieses Zieles ist es aber nicht hinreichend, Programme auf¬
zustellen, hie und da die Wege zu weisen, sondern es ist auch notwendig, vor
dem Schädlichen zu warnen.

Es ist nicht wenig, was der deutsche Sprachverein von der Schule
fordert, doch alle seine Wünsche sind in dem Schlngwvrte zusammengedrängt:


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[0493] Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule konnten, aber der arme Gaukler samt seinen hundert Kunststücken konnte nie¬ mand finden, der sein Geld dafür hinauswerfen wollte; vergebens erbot er sich, Feuer zu fressen und Stecknadeln zu speien. Niemand wollte ihm bei¬ bringen, bis er endlich bei dem Schneider, dessen Handwerk er verachtet hatte, betteln mußte. Die „geistige Gymnastik" und die „formale Bildung" hat mit ihrer Ver¬ achtung jedes nützlichen Zwecks viele solche Zauberer erzogen, die hundert Sachen konnten, nur nichts Nützliches. Aber wir dürfen uns vou den Zeiten der Hungersnot nicht überraschen lassen, wir dürfen nicht mehr jeden prak¬ tischen Zweck von unsern Lehrzielen ausschließen, wenn wir nicht endlich bei Schneidern betteln wollen. Eine Waffe, die unsre Schule besonders schleifen und deren Handhabung sie vor allem lehren muß, ist die Herrschaft über die Muttersprache in Wort und Schrift. Der deutsche Sprachverein hat in richtiger Würdigung der Wichtigkeit der Schule zur Erreichung dieses Zweckes in seiner Hauptversammlung vom 28. Mai 1890 das ausgesprochen, was er von der deutscheu Schule erwartet. Er hat es auch nicht unterlassen, den Jugendbilduern Winke und Ratschläge zu geben, die zur Erfüllung dieser Aufgabe führen sollen. Diese Wünsche, von or. Dünger in Dresden ver¬ treten und in sechs Punkte zusammengefaßt, wurden einstimmig angenommen. Da sie fast in allen deutschgeschriebeneu Zeitungen und Zeitschriften ab¬ gedruckt und so zu allgemeiner Kenntnis gekommen sind, haben sie überall, wo die deutsche Sprache gesprochen, gepflegt und gegen das Vordringen andrer Sprachen verteidigt wird, insbesondre in den Kreisen der Lehrer, großes Inter¬ esse hervorgerufen, sodaß sie z. B. dem deutschösterreichischen Mittelschultage, der jetzt zu Ostern in Wien tagen wird, Gelegenheit bieten werden, sich von seinem Standpunkt aus darüber zu äußern, ob diese Forderungen des deutschen Sprachvereins bei deu gegenwärtigen Unterrichtseinrichtungen und Lehrzielen erfüllt, ob und inwieweit die angeregten Mittel ergriffen und die Ratschläge befolgt werden können. Vou dem schulmüßigen Unterrichte hängt aber das Gelingen der Bestrebungen des deutschen Sprachvereins zum großen Teil ab. Der in alten Sprach- und Schreibgewohnheiten altgewvrdene Mann der Wissenschaft, der Zeitungsschreiber, der Schriftsteller wird sich kaum ohne Schädigung der Klarheit und Gewandtheit seines Denkens in die neue Rich¬ tung ganz einleben können. Die reine deutsche sprech- und Schreibweise muß vou Kindesbeinen an gelernt, durch Übung und Gewöhnung in Fleisch und Blut übergegangen sein, ehe gute und ausgereifte Früchte erzielt werde» können. Zur Erreichung dieses Zieles ist es aber nicht hinreichend, Programme auf¬ zustellen, hie und da die Wege zu weisen, sondern es ist auch notwendig, vor dem Schädlichen zu warnen. Es ist nicht wenig, was der deutsche Sprachverein von der Schule fordert, doch alle seine Wünsche sind in dem Schlngwvrte zusammengedrängt:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/493>, abgerufen am 23.07.2024.