Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ze!es"n des Umschwungs

Dentschfreisinns auch einen seiner giftigsten Stiche zur Antwort bereit hatte,
die Thatsache bleibt bestehen, daß es der Regierung "unheimlich" geworden
war vor den zudringlichen Genossen, die als die Partei der Unfruchtbaren
vom Reichskanzler durch die nicht nur sprechenden, sondern schreienden Zahlen
charakterisier worden sind, die er über die Politik der Partei, über ihr Ver¬
halten den wichtigsten Gesetzesvorlagen gegenüber aufführen konnte.

Herr von Caprivi hatte bald nach Übernahme seines Amtes erklärt, er
wolle das Gute "ebenen, wo es ihm geboten werde. Die Regierung ist be¬
müht gewesen, das gehässige Wort von den Reichsfeinden in der Praxis unsers
politischen Lebens auszumerzen; sie war entschlossen, die Dinge sür sich sprechen
zu lassen und sachlich die großen Interessen des Staates und Reiches zu ver¬
treten -- also keine Deutschen erster und keine zweiter oder dritter Klasse, sondern
eine Ära der Versöhnlichkeit und der Unparteilichkeit. Ja, wenn die Menschen
anders wären, als sie sind, wenn sich die eingefahrenen Wege der Parteipolitik,
der Bann der Parteigrnndsütze leichter überwinden ließe, wenn die neue Ära
sich selbst die Elemente hätte konstruiren können, mit denen sie zu arbeiten
berufen war: einen nichtdoktrinären Freisinn, einen vorurteilsloser National¬
liberalismus , ein gefälliges Zentrum und eine stets opferwillige Rechte, --
gewiß, dann hätte es nicht gefehlt. Aber Menschen und Vorurteile blieben
dieselben, der Parteibaun gleich stark, die Presse gleich rücksichtslos, und die
Masse des Volkes, die in ihrer ungeheuern Mehrzahl mit Vertrauen der
frühern Leitung des Reiches zur Seite gestanden hatte, wollte den Sprung
nicht mitmachen. Und uun kamen die Enttäuschungen bei der Regierung so¬
wohl wie bei den Parteien, denen im Grnnde mit dem völlig gleichen Maße
für alle nicht gedient war. Jede Partei schließt mindestens eine der poli¬
tischen Gruppen von dem allgemeinen Bruderkuß aus. Es ist, wie in dem
alten rationalistischen Kirchenliede, daß trotz des besten Bestrebens doch nicht
zur allgemeinen Menschenliebe gelangen kann:


Wir glauben all an einen Gott,
Christ, Heide, Jud und Hottentott.
Die Menschenfresser ganz allein.
Die sollen ausgenommen sein;
Denn das nicht wahre Liebe ist,
Wo einer noch den andern frißt!

Daß schließlich auch die Regierung genötigt war, einen Standpunkt einzu¬
nehmen, der Ausnahmen anerkennt, hat daher wie eine befreiende That ge¬
wirkt. Gerade in der Hochburg des Deutschfreisinns, in Berlin, ist diese
Empfindung besonders stark, und nach dem einmal gefaßten Entschluß ist
unsre Reichsregierung in der glücklichen Lage, nachdem sie rein Hans gemacht
hat, noch einmal von vorn anfangen zu könne".


Ze!es»n des Umschwungs

Dentschfreisinns auch einen seiner giftigsten Stiche zur Antwort bereit hatte,
die Thatsache bleibt bestehen, daß es der Regierung „unheimlich" geworden
war vor den zudringlichen Genossen, die als die Partei der Unfruchtbaren
vom Reichskanzler durch die nicht nur sprechenden, sondern schreienden Zahlen
charakterisier worden sind, die er über die Politik der Partei, über ihr Ver¬
halten den wichtigsten Gesetzesvorlagen gegenüber aufführen konnte.

Herr von Caprivi hatte bald nach Übernahme seines Amtes erklärt, er
wolle das Gute «ebenen, wo es ihm geboten werde. Die Regierung ist be¬
müht gewesen, das gehässige Wort von den Reichsfeinden in der Praxis unsers
politischen Lebens auszumerzen; sie war entschlossen, die Dinge sür sich sprechen
zu lassen und sachlich die großen Interessen des Staates und Reiches zu ver¬
treten — also keine Deutschen erster und keine zweiter oder dritter Klasse, sondern
eine Ära der Versöhnlichkeit und der Unparteilichkeit. Ja, wenn die Menschen
anders wären, als sie sind, wenn sich die eingefahrenen Wege der Parteipolitik,
der Bann der Parteigrnndsütze leichter überwinden ließe, wenn die neue Ära
sich selbst die Elemente hätte konstruiren können, mit denen sie zu arbeiten
berufen war: einen nichtdoktrinären Freisinn, einen vorurteilsloser National¬
liberalismus , ein gefälliges Zentrum und eine stets opferwillige Rechte, —
gewiß, dann hätte es nicht gefehlt. Aber Menschen und Vorurteile blieben
dieselben, der Parteibaun gleich stark, die Presse gleich rücksichtslos, und die
Masse des Volkes, die in ihrer ungeheuern Mehrzahl mit Vertrauen der
frühern Leitung des Reiches zur Seite gestanden hatte, wollte den Sprung
nicht mitmachen. Und uun kamen die Enttäuschungen bei der Regierung so¬
wohl wie bei den Parteien, denen im Grnnde mit dem völlig gleichen Maße
für alle nicht gedient war. Jede Partei schließt mindestens eine der poli¬
tischen Gruppen von dem allgemeinen Bruderkuß aus. Es ist, wie in dem
alten rationalistischen Kirchenliede, daß trotz des besten Bestrebens doch nicht
zur allgemeinen Menschenliebe gelangen kann:


Wir glauben all an einen Gott,
Christ, Heide, Jud und Hottentott.
Die Menschenfresser ganz allein.
Die sollen ausgenommen sein;
Denn das nicht wahre Liebe ist,
Wo einer noch den andern frißt!

Daß schließlich auch die Regierung genötigt war, einen Standpunkt einzu¬
nehmen, der Ausnahmen anerkennt, hat daher wie eine befreiende That ge¬
wirkt. Gerade in der Hochburg des Deutschfreisinns, in Berlin, ist diese
Empfindung besonders stark, und nach dem einmal gefaßten Entschluß ist
unsre Reichsregierung in der glücklichen Lage, nachdem sie rein Hans gemacht
hat, noch einmal von vorn anfangen zu könne».


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0490" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209723"/>
          <fw type="header" place="top"> Ze!es»n des Umschwungs</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1368" prev="#ID_1367"> Dentschfreisinns auch einen seiner giftigsten Stiche zur Antwort bereit hatte,<lb/>
die Thatsache bleibt bestehen, daß es der Regierung &#x201E;unheimlich" geworden<lb/>
war vor den zudringlichen Genossen, die als die Partei der Unfruchtbaren<lb/>
vom Reichskanzler durch die nicht nur sprechenden, sondern schreienden Zahlen<lb/>
charakterisier worden sind, die er über die Politik der Partei, über ihr Ver¬<lb/>
halten den wichtigsten Gesetzesvorlagen gegenüber aufführen konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1369"> Herr von Caprivi hatte bald nach Übernahme seines Amtes erklärt, er<lb/>
wolle das Gute «ebenen, wo es ihm geboten werde. Die Regierung ist be¬<lb/>
müht gewesen, das gehässige Wort von den Reichsfeinden in der Praxis unsers<lb/>
politischen Lebens auszumerzen; sie war entschlossen, die Dinge sür sich sprechen<lb/>
zu lassen und sachlich die großen Interessen des Staates und Reiches zu ver¬<lb/>
treten &#x2014; also keine Deutschen erster und keine zweiter oder dritter Klasse, sondern<lb/>
eine Ära der Versöhnlichkeit und der Unparteilichkeit. Ja, wenn die Menschen<lb/>
anders wären, als sie sind, wenn sich die eingefahrenen Wege der Parteipolitik,<lb/>
der Bann der Parteigrnndsütze leichter überwinden ließe, wenn die neue Ära<lb/>
sich selbst die Elemente hätte konstruiren können, mit denen sie zu arbeiten<lb/>
berufen war: einen nichtdoktrinären Freisinn, einen vorurteilsloser National¬<lb/>
liberalismus , ein gefälliges Zentrum und eine stets opferwillige Rechte, &#x2014;<lb/>
gewiß, dann hätte es nicht gefehlt. Aber Menschen und Vorurteile blieben<lb/>
dieselben, der Parteibaun gleich stark, die Presse gleich rücksichtslos, und die<lb/>
Masse des Volkes, die in ihrer ungeheuern Mehrzahl mit Vertrauen der<lb/>
frühern Leitung des Reiches zur Seite gestanden hatte, wollte den Sprung<lb/>
nicht mitmachen. Und uun kamen die Enttäuschungen bei der Regierung so¬<lb/>
wohl wie bei den Parteien, denen im Grnnde mit dem völlig gleichen Maße<lb/>
für alle nicht gedient war. Jede Partei schließt mindestens eine der poli¬<lb/>
tischen Gruppen von dem allgemeinen Bruderkuß aus. Es ist, wie in dem<lb/>
alten rationalistischen Kirchenliede, daß trotz des besten Bestrebens doch nicht<lb/>
zur allgemeinen Menschenliebe gelangen kann:</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_54" type="poem">
              <l> Wir glauben all an einen Gott,<lb/>
Christ, Heide, Jud und Hottentott.<lb/>
Die Menschenfresser ganz allein.<lb/>
Die sollen ausgenommen sein;<lb/>
Denn das nicht wahre Liebe ist,<lb/>
Wo einer noch den andern frißt!</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1370"> Daß schließlich auch die Regierung genötigt war, einen Standpunkt einzu¬<lb/>
nehmen, der Ausnahmen anerkennt, hat daher wie eine befreiende That ge¬<lb/>
wirkt. Gerade in der Hochburg des Deutschfreisinns, in Berlin, ist diese<lb/>
Empfindung besonders stark, und nach dem einmal gefaßten Entschluß ist<lb/>
unsre Reichsregierung in der glücklichen Lage, nachdem sie rein Hans gemacht<lb/>
hat, noch einmal von vorn anfangen zu könne».</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0490] Ze!es»n des Umschwungs Dentschfreisinns auch einen seiner giftigsten Stiche zur Antwort bereit hatte, die Thatsache bleibt bestehen, daß es der Regierung „unheimlich" geworden war vor den zudringlichen Genossen, die als die Partei der Unfruchtbaren vom Reichskanzler durch die nicht nur sprechenden, sondern schreienden Zahlen charakterisier worden sind, die er über die Politik der Partei, über ihr Ver¬ halten den wichtigsten Gesetzesvorlagen gegenüber aufführen konnte. Herr von Caprivi hatte bald nach Übernahme seines Amtes erklärt, er wolle das Gute «ebenen, wo es ihm geboten werde. Die Regierung ist be¬ müht gewesen, das gehässige Wort von den Reichsfeinden in der Praxis unsers politischen Lebens auszumerzen; sie war entschlossen, die Dinge sür sich sprechen zu lassen und sachlich die großen Interessen des Staates und Reiches zu ver¬ treten — also keine Deutschen erster und keine zweiter oder dritter Klasse, sondern eine Ära der Versöhnlichkeit und der Unparteilichkeit. Ja, wenn die Menschen anders wären, als sie sind, wenn sich die eingefahrenen Wege der Parteipolitik, der Bann der Parteigrnndsütze leichter überwinden ließe, wenn die neue Ära sich selbst die Elemente hätte konstruiren können, mit denen sie zu arbeiten berufen war: einen nichtdoktrinären Freisinn, einen vorurteilsloser National¬ liberalismus , ein gefälliges Zentrum und eine stets opferwillige Rechte, — gewiß, dann hätte es nicht gefehlt. Aber Menschen und Vorurteile blieben dieselben, der Parteibaun gleich stark, die Presse gleich rücksichtslos, und die Masse des Volkes, die in ihrer ungeheuern Mehrzahl mit Vertrauen der frühern Leitung des Reiches zur Seite gestanden hatte, wollte den Sprung nicht mitmachen. Und uun kamen die Enttäuschungen bei der Regierung so¬ wohl wie bei den Parteien, denen im Grnnde mit dem völlig gleichen Maße für alle nicht gedient war. Jede Partei schließt mindestens eine der poli¬ tischen Gruppen von dem allgemeinen Bruderkuß aus. Es ist, wie in dem alten rationalistischen Kirchenliede, daß trotz des besten Bestrebens doch nicht zur allgemeinen Menschenliebe gelangen kann: Wir glauben all an einen Gott, Christ, Heide, Jud und Hottentott. Die Menschenfresser ganz allein. Die sollen ausgenommen sein; Denn das nicht wahre Liebe ist, Wo einer noch den andern frißt! Daß schließlich auch die Regierung genötigt war, einen Standpunkt einzu¬ nehmen, der Ausnahmen anerkennt, hat daher wie eine befreiende That ge¬ wirkt. Gerade in der Hochburg des Deutschfreisinns, in Berlin, ist diese Empfindung besonders stark, und nach dem einmal gefaßten Entschluß ist unsre Reichsregierung in der glücklichen Lage, nachdem sie rein Hans gemacht hat, noch einmal von vorn anfangen zu könne».

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/490
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/490>, abgerufen am 01.10.2024.