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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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lyrisch will es uns als ein großer Fortschritt erscheinen, denn so naiv und an¬
schaulich wie diese Märchen wäre" jene Novellen nicht geschrieben. Wir glauben
im Urteil nicht zu übertreiben, wenn wir diese "Phantasien nud Märchen" zu
den wenigen Büchern von bleibendem Wert zählen, die seit langer Zeit er¬
schienen sind; wir stellen sie ohne Bedenken den "Sieben Legenden" von Gott¬
fried Keller an die Seite.

Von der dauernd in Italien (Florenz) lebenden Schwäbin Kurz zu der
in Hamburg lebenden Schwabeufreuudiu Ilse Frapa" ist ein großer Sprung,
und nicht bloß ein räumlicher. Die Kurz ist Idealistin: religiöse, metaphysische,
historische Fragen beschäftigen sie vielfach, ihre Phantasie bewegt sich in der
Region der Sterne, ihre Kunst stellt das allgemein Menschliche dar. Ilse
Frapan ist Realistin: sie steigt lieber hinab, als hinauf, lieber ins Patho¬
logische, als ins Metaphysische, sie sucht lieber das Individuellste als das
Typische auf, nud uicht bei den Sternen mir Himmel, droben, sondern bei den
kleinen Leuten ans der Erde unten siedelt sich ihre Phantasie um. Darum be¬
titelt sie ihre neue Novellensammlnng mit Recht Enge Welt (Berlin, Paetel,
1891), und anch in der Sammlung ihrer Gedichte(ebendn) tritt dieser Kunst¬
charakter zu Tage.

Die Wahrheit zu sagen, können nur ihre Lyrik nicht als besonders merk¬
würdig bezeichnen, so sehr wir im übrigen ihr Talent schätzen. Die Gedichte
haben uns mit wenigen Ausnahmen kühl gelassen; es fehlt ihnen die Kraft,
zu erwärmen. Sie sagt zwar einmal:


Sie loben all mir so Gaben
Und möchten doch anders mich haben;
Sie wollen mich flacher und flauer,
nachgiebiger anch und lauer,
Und gelt' ich nicht gerade für schlecht.
Ich mach' es doch nie jemand recht.
Ihr Lämmer mit Milch in den Adern,
Erspart euch das Raten und Hadern !
Ihr richtet s?) ja nichts mit dem Bessern,
Mit Kühlen, Begüt'gen, Verwässern;
Dies kräftige Lieben und Hassen
Bin ich! und das sollt ihr mir lassen.

Ganz gut, denkt mau sich; auf solchem Stamme müssen doch wohl die
schönsten lyrischen Blüten gedeihen. Es ist aber doch nicht der Fall. Die
Frapan weiß zwar, woraus es in der Lyrik ankommt, den" sie hat einen nicht
gewöhnlichem Kunstverstcmd; ihre Begabung ist aber doch wesentlich episch.
Nur wo sie das Gefühl in eine Situation oder in eine Erzählung kleiden
kann, gelingt ihr ein Gedicht, wie z. B. das folgende:


lyrisch will es uns als ein großer Fortschritt erscheinen, denn so naiv und an¬
schaulich wie diese Märchen wäre» jene Novellen nicht geschrieben. Wir glauben
im Urteil nicht zu übertreiben, wenn wir diese „Phantasien nud Märchen" zu
den wenigen Büchern von bleibendem Wert zählen, die seit langer Zeit er¬
schienen sind; wir stellen sie ohne Bedenken den „Sieben Legenden" von Gott¬
fried Keller an die Seite.

Von der dauernd in Italien (Florenz) lebenden Schwäbin Kurz zu der
in Hamburg lebenden Schwabeufreuudiu Ilse Frapa» ist ein großer Sprung,
und nicht bloß ein räumlicher. Die Kurz ist Idealistin: religiöse, metaphysische,
historische Fragen beschäftigen sie vielfach, ihre Phantasie bewegt sich in der
Region der Sterne, ihre Kunst stellt das allgemein Menschliche dar. Ilse
Frapan ist Realistin: sie steigt lieber hinab, als hinauf, lieber ins Patho¬
logische, als ins Metaphysische, sie sucht lieber das Individuellste als das
Typische auf, nud uicht bei den Sternen mir Himmel, droben, sondern bei den
kleinen Leuten ans der Erde unten siedelt sich ihre Phantasie um. Darum be¬
titelt sie ihre neue Novellensammlnng mit Recht Enge Welt (Berlin, Paetel,
1891), und anch in der Sammlung ihrer Gedichte(ebendn) tritt dieser Kunst¬
charakter zu Tage.

Die Wahrheit zu sagen, können nur ihre Lyrik nicht als besonders merk¬
würdig bezeichnen, so sehr wir im übrigen ihr Talent schätzen. Die Gedichte
haben uns mit wenigen Ausnahmen kühl gelassen; es fehlt ihnen die Kraft,
zu erwärmen. Sie sagt zwar einmal:


Sie loben all mir so Gaben
Und möchten doch anders mich haben;
Sie wollen mich flacher und flauer,
nachgiebiger anch und lauer,
Und gelt' ich nicht gerade für schlecht.
Ich mach' es doch nie jemand recht.
Ihr Lämmer mit Milch in den Adern,
Erspart euch das Raten und Hadern !
Ihr richtet s?) ja nichts mit dem Bessern,
Mit Kühlen, Begüt'gen, Verwässern;
Dies kräftige Lieben und Hassen
Bin ich! und das sollt ihr mir lassen.

Ganz gut, denkt mau sich; auf solchem Stamme müssen doch wohl die
schönsten lyrischen Blüten gedeihen. Es ist aber doch nicht der Fall. Die
Frapan weiß zwar, woraus es in der Lyrik ankommt, den» sie hat einen nicht
gewöhnlichem Kunstverstcmd; ihre Begabung ist aber doch wesentlich episch.
Nur wo sie das Gefühl in eine Situation oder in eine Erzählung kleiden
kann, gelingt ihr ein Gedicht, wie z. B. das folgende:


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[0467] lyrisch will es uns als ein großer Fortschritt erscheinen, denn so naiv und an¬ schaulich wie diese Märchen wäre» jene Novellen nicht geschrieben. Wir glauben im Urteil nicht zu übertreiben, wenn wir diese „Phantasien nud Märchen" zu den wenigen Büchern von bleibendem Wert zählen, die seit langer Zeit er¬ schienen sind; wir stellen sie ohne Bedenken den „Sieben Legenden" von Gott¬ fried Keller an die Seite. Von der dauernd in Italien (Florenz) lebenden Schwäbin Kurz zu der in Hamburg lebenden Schwabeufreuudiu Ilse Frapa» ist ein großer Sprung, und nicht bloß ein räumlicher. Die Kurz ist Idealistin: religiöse, metaphysische, historische Fragen beschäftigen sie vielfach, ihre Phantasie bewegt sich in der Region der Sterne, ihre Kunst stellt das allgemein Menschliche dar. Ilse Frapan ist Realistin: sie steigt lieber hinab, als hinauf, lieber ins Patho¬ logische, als ins Metaphysische, sie sucht lieber das Individuellste als das Typische auf, nud uicht bei den Sternen mir Himmel, droben, sondern bei den kleinen Leuten ans der Erde unten siedelt sich ihre Phantasie um. Darum be¬ titelt sie ihre neue Novellensammlnng mit Recht Enge Welt (Berlin, Paetel, 1891), und anch in der Sammlung ihrer Gedichte(ebendn) tritt dieser Kunst¬ charakter zu Tage. Die Wahrheit zu sagen, können nur ihre Lyrik nicht als besonders merk¬ würdig bezeichnen, so sehr wir im übrigen ihr Talent schätzen. Die Gedichte haben uns mit wenigen Ausnahmen kühl gelassen; es fehlt ihnen die Kraft, zu erwärmen. Sie sagt zwar einmal: Sie loben all mir so Gaben Und möchten doch anders mich haben; Sie wollen mich flacher und flauer, nachgiebiger anch und lauer, Und gelt' ich nicht gerade für schlecht. Ich mach' es doch nie jemand recht. Ihr Lämmer mit Milch in den Adern, Erspart euch das Raten und Hadern ! Ihr richtet s?) ja nichts mit dem Bessern, Mit Kühlen, Begüt'gen, Verwässern; Dies kräftige Lieben und Hassen Bin ich! und das sollt ihr mir lassen. Ganz gut, denkt mau sich; auf solchem Stamme müssen doch wohl die schönsten lyrischen Blüten gedeihen. Es ist aber doch nicht der Fall. Die Frapan weiß zwar, woraus es in der Lyrik ankommt, den» sie hat einen nicht gewöhnlichem Kunstverstcmd; ihre Begabung ist aber doch wesentlich episch. Nur wo sie das Gefühl in eine Situation oder in eine Erzählung kleiden kann, gelingt ihr ein Gedicht, wie z. B. das folgende:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/467>, abgerufen am 23.07.2024.