Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lord Tennysons neueste Lyrik

O Abendländer, Dämmerlicht,
Es kommt die Nacht einher-
Erschweret mir die Trennung nicht,
Zieh ich hincins aufs Meer.
Zwar trägt die Flut mich endlos fort.
Weit fort aus Raum und Zeit,
Doch an deu Klippen vor dem Port
Steht mein Pilot bereit.

Freilich, wer in diesen Gedichten Schätze reicher Lebenserfahrung, tiefer
Gedanken und philosophischer Betrachtungen erwartet, der wird den Band mit
Enttäuschung weglegen. Tennyson bleibt mich hier der Dichter der goldnen
Mittelstraße, die um den Abgründen des menschlichen Denkens vorbeiführt zur
Versöhnung aller .Kämpfe zwischen Wissenschaft'und Glauben, zwischen Natur
und Geist, zwischen Sinnenleben und metaphysischen Regungen und Bedürf¬
nissen. Diese Neigung, alle Gegensätze des Lebens auszugleichen und, wo dies
unmöglich ist, in stiller Ergebung dem Wechselspiel und den Verirrungen zuzu¬
schauen, findet sich bei Tennyson schon in den frühern Gedichten Ids ?roe;6L8
und I^occkslö/ Hall und tritt an: meisten in seinen auf den Tod eines Freundes
verfaßten Trnuergesüngen In Nömvrmm hervor.

Englische Kritiker haben es Tennyson zum Vorwürfe gemacht, daß er bei
solchen Gelegenheiten wissenschaftliche Ausdrucksweisen, Formeln und Theorien
ü? seine Dichtungen hineinwebe und die Anschauungen eines Dante und eines
Lucrez gleichsam durch einander wirble. Aber Tennyson ist auch hierin uicht
der erste gewesen; er scheint sich, trotz seines romantisch-mittelalterigeu Grund¬
zuges, deu Bestrebungen von Wordsworth anzuschließen, der in der Vorrede
zu der zweiten Auflage seiner Gedichte jede Trennung zwischen Wissenschaft
und Dichtkunst beseitigen wollte, da die Gegenstände für die Gedanken eines
Dichters überall.seien. Wenn die Arbeiten der Gelehrten mittelbar oder un¬
mittelbar irgend welche materielle Umwälzung in der Lebensführung schaffen
und unsre Anschauungen verändern, so solle der Dichter nicht schlafen, sondern
den Schritten der Forscher folgen und die neugewonnenen Ergebnisse mit
lebensvollen Empfindungen durchdringen. "Die entlegensten Entdeckungen des
Chemikers, des Botanikers oder des Mineralogen werden für die dichterische
Kunst ebenso geeignet sein, wie alle andern Rätsel, denen sie sich zuwendet,
sobald die Zeit gekommen ist, wo uns jene Dinge ganz vertraut geworden
sind, wo die Beziehungen und Verhältnisse jeuer Wissenschaften unter einander
und zum Leben uicht uur den Gelehrten, sondern auch uus, den genießenden
und leidenden Wesen, einen deutlichen und faßbaren Stoff liefern werden."
Diese, wie wir in deu Streifzügen durch die fmuzösische Litteratur gesehen
haben, auch in Frankreich durch Sully Prudhomme und Jean Nichepin ver¬
tretene Ansicht, enthält gewiß einen gesunden Kern; bleibt aber der Dichter


Lord Tennysons neueste Lyrik

O Abendländer, Dämmerlicht,
Es kommt die Nacht einher-
Erschweret mir die Trennung nicht,
Zieh ich hincins aufs Meer.
Zwar trägt die Flut mich endlos fort.
Weit fort aus Raum und Zeit,
Doch an deu Klippen vor dem Port
Steht mein Pilot bereit.

Freilich, wer in diesen Gedichten Schätze reicher Lebenserfahrung, tiefer
Gedanken und philosophischer Betrachtungen erwartet, der wird den Band mit
Enttäuschung weglegen. Tennyson bleibt mich hier der Dichter der goldnen
Mittelstraße, die um den Abgründen des menschlichen Denkens vorbeiführt zur
Versöhnung aller .Kämpfe zwischen Wissenschaft'und Glauben, zwischen Natur
und Geist, zwischen Sinnenleben und metaphysischen Regungen und Bedürf¬
nissen. Diese Neigung, alle Gegensätze des Lebens auszugleichen und, wo dies
unmöglich ist, in stiller Ergebung dem Wechselspiel und den Verirrungen zuzu¬
schauen, findet sich bei Tennyson schon in den frühern Gedichten Ids ?roe;6L8
und I^occkslö/ Hall und tritt an: meisten in seinen auf den Tod eines Freundes
verfaßten Trnuergesüngen In Nömvrmm hervor.

Englische Kritiker haben es Tennyson zum Vorwürfe gemacht, daß er bei
solchen Gelegenheiten wissenschaftliche Ausdrucksweisen, Formeln und Theorien
ü? seine Dichtungen hineinwebe und die Anschauungen eines Dante und eines
Lucrez gleichsam durch einander wirble. Aber Tennyson ist auch hierin uicht
der erste gewesen; er scheint sich, trotz seines romantisch-mittelalterigeu Grund¬
zuges, deu Bestrebungen von Wordsworth anzuschließen, der in der Vorrede
zu der zweiten Auflage seiner Gedichte jede Trennung zwischen Wissenschaft
und Dichtkunst beseitigen wollte, da die Gegenstände für die Gedanken eines
Dichters überall.seien. Wenn die Arbeiten der Gelehrten mittelbar oder un¬
mittelbar irgend welche materielle Umwälzung in der Lebensführung schaffen
und unsre Anschauungen verändern, so solle der Dichter nicht schlafen, sondern
den Schritten der Forscher folgen und die neugewonnenen Ergebnisse mit
lebensvollen Empfindungen durchdringen. „Die entlegensten Entdeckungen des
Chemikers, des Botanikers oder des Mineralogen werden für die dichterische
Kunst ebenso geeignet sein, wie alle andern Rätsel, denen sie sich zuwendet,
sobald die Zeit gekommen ist, wo uns jene Dinge ganz vertraut geworden
sind, wo die Beziehungen und Verhältnisse jeuer Wissenschaften unter einander
und zum Leben uicht uur den Gelehrten, sondern auch uus, den genießenden
und leidenden Wesen, einen deutlichen und faßbaren Stoff liefern werden."
Diese, wie wir in deu Streifzügen durch die fmuzösische Litteratur gesehen
haben, auch in Frankreich durch Sully Prudhomme und Jean Nichepin ver¬
tretene Ansicht, enthält gewiß einen gesunden Kern; bleibt aber der Dichter


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0429" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209662"/>
          <fw type="header" place="top"> Lord Tennysons neueste Lyrik</fw><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_41" type="poem">
              <l> O Abendländer, Dämmerlicht,<lb/>
Es kommt die Nacht einher-<lb/>
Erschweret mir die Trennung nicht,<lb/>
Zieh ich hincins aufs Meer.</l>
              <l> Zwar trägt die Flut mich endlos fort.<lb/>
Weit fort aus Raum und Zeit,<lb/>
Doch an deu Klippen vor dem Port<lb/>
Steht mein Pilot bereit.</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1202"> Freilich, wer in diesen Gedichten Schätze reicher Lebenserfahrung, tiefer<lb/>
Gedanken und philosophischer Betrachtungen erwartet, der wird den Band mit<lb/>
Enttäuschung weglegen. Tennyson bleibt mich hier der Dichter der goldnen<lb/>
Mittelstraße, die um den Abgründen des menschlichen Denkens vorbeiführt zur<lb/>
Versöhnung aller .Kämpfe zwischen Wissenschaft'und Glauben, zwischen Natur<lb/>
und Geist, zwischen Sinnenleben und metaphysischen Regungen und Bedürf¬<lb/>
nissen. Diese Neigung, alle Gegensätze des Lebens auszugleichen und, wo dies<lb/>
unmöglich ist, in stiller Ergebung dem Wechselspiel und den Verirrungen zuzu¬<lb/>
schauen, findet sich bei Tennyson schon in den frühern Gedichten Ids ?roe;6L8<lb/>
und I^occkslö/ Hall und tritt an: meisten in seinen auf den Tod eines Freundes<lb/>
verfaßten Trnuergesüngen In Nömvrmm hervor.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1203" next="#ID_1204"> Englische Kritiker haben es Tennyson zum Vorwürfe gemacht, daß er bei<lb/>
solchen Gelegenheiten wissenschaftliche Ausdrucksweisen, Formeln und Theorien<lb/>
ü? seine Dichtungen hineinwebe und die Anschauungen eines Dante und eines<lb/>
Lucrez gleichsam durch einander wirble. Aber Tennyson ist auch hierin uicht<lb/>
der erste gewesen; er scheint sich, trotz seines romantisch-mittelalterigeu Grund¬<lb/>
zuges, deu Bestrebungen von Wordsworth anzuschließen, der in der Vorrede<lb/>
zu der zweiten Auflage seiner Gedichte jede Trennung zwischen Wissenschaft<lb/>
und Dichtkunst beseitigen wollte, da die Gegenstände für die Gedanken eines<lb/>
Dichters überall.seien. Wenn die Arbeiten der Gelehrten mittelbar oder un¬<lb/>
mittelbar irgend welche materielle Umwälzung in der Lebensführung schaffen<lb/>
und unsre Anschauungen verändern, so solle der Dichter nicht schlafen, sondern<lb/>
den Schritten der Forscher folgen und die neugewonnenen Ergebnisse mit<lb/>
lebensvollen Empfindungen durchdringen. &#x201E;Die entlegensten Entdeckungen des<lb/>
Chemikers, des Botanikers oder des Mineralogen werden für die dichterische<lb/>
Kunst ebenso geeignet sein, wie alle andern Rätsel, denen sie sich zuwendet,<lb/>
sobald die Zeit gekommen ist, wo uns jene Dinge ganz vertraut geworden<lb/>
sind, wo die Beziehungen und Verhältnisse jeuer Wissenschaften unter einander<lb/>
und zum Leben uicht uur den Gelehrten, sondern auch uus, den genießenden<lb/>
und leidenden Wesen, einen deutlichen und faßbaren Stoff liefern werden."<lb/>
Diese, wie wir in deu Streifzügen durch die fmuzösische Litteratur gesehen<lb/>
haben, auch in Frankreich durch Sully Prudhomme und Jean Nichepin ver¬<lb/>
tretene Ansicht, enthält gewiß einen gesunden Kern; bleibt aber der Dichter</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0429] Lord Tennysons neueste Lyrik O Abendländer, Dämmerlicht, Es kommt die Nacht einher- Erschweret mir die Trennung nicht, Zieh ich hincins aufs Meer. Zwar trägt die Flut mich endlos fort. Weit fort aus Raum und Zeit, Doch an deu Klippen vor dem Port Steht mein Pilot bereit. Freilich, wer in diesen Gedichten Schätze reicher Lebenserfahrung, tiefer Gedanken und philosophischer Betrachtungen erwartet, der wird den Band mit Enttäuschung weglegen. Tennyson bleibt mich hier der Dichter der goldnen Mittelstraße, die um den Abgründen des menschlichen Denkens vorbeiführt zur Versöhnung aller .Kämpfe zwischen Wissenschaft'und Glauben, zwischen Natur und Geist, zwischen Sinnenleben und metaphysischen Regungen und Bedürf¬ nissen. Diese Neigung, alle Gegensätze des Lebens auszugleichen und, wo dies unmöglich ist, in stiller Ergebung dem Wechselspiel und den Verirrungen zuzu¬ schauen, findet sich bei Tennyson schon in den frühern Gedichten Ids ?roe;6L8 und I^occkslö/ Hall und tritt an: meisten in seinen auf den Tod eines Freundes verfaßten Trnuergesüngen In Nömvrmm hervor. Englische Kritiker haben es Tennyson zum Vorwürfe gemacht, daß er bei solchen Gelegenheiten wissenschaftliche Ausdrucksweisen, Formeln und Theorien ü? seine Dichtungen hineinwebe und die Anschauungen eines Dante und eines Lucrez gleichsam durch einander wirble. Aber Tennyson ist auch hierin uicht der erste gewesen; er scheint sich, trotz seines romantisch-mittelalterigeu Grund¬ zuges, deu Bestrebungen von Wordsworth anzuschließen, der in der Vorrede zu der zweiten Auflage seiner Gedichte jede Trennung zwischen Wissenschaft und Dichtkunst beseitigen wollte, da die Gegenstände für die Gedanken eines Dichters überall.seien. Wenn die Arbeiten der Gelehrten mittelbar oder un¬ mittelbar irgend welche materielle Umwälzung in der Lebensführung schaffen und unsre Anschauungen verändern, so solle der Dichter nicht schlafen, sondern den Schritten der Forscher folgen und die neugewonnenen Ergebnisse mit lebensvollen Empfindungen durchdringen. „Die entlegensten Entdeckungen des Chemikers, des Botanikers oder des Mineralogen werden für die dichterische Kunst ebenso geeignet sein, wie alle andern Rätsel, denen sie sich zuwendet, sobald die Zeit gekommen ist, wo uns jene Dinge ganz vertraut geworden sind, wo die Beziehungen und Verhältnisse jeuer Wissenschaften unter einander und zum Leben uicht uur den Gelehrten, sondern auch uus, den genießenden und leidenden Wesen, einen deutlichen und faßbaren Stoff liefern werden." Diese, wie wir in deu Streifzügen durch die fmuzösische Litteratur gesehen haben, auch in Frankreich durch Sully Prudhomme und Jean Nichepin ver¬ tretene Ansicht, enthält gewiß einen gesunden Kern; bleibt aber der Dichter

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/429
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/429>, abgerufen am 23.07.2024.