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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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der wirtschaftliche Zustand der heutigen Kulturstaaten überaus unvernünftig
sei, da in ihnen die Leiden der Armut nicht, wie in frühern Zeiten, ans dem
allgemeinen Mangel, sondern gerade aus dem allgemeinen Überfluß entspringen;
da der Reichtum des Ganzen und die jederzeit offenstehende Möglichkeit,
diesen Reichtum ins Grenzenlose zu vermehren, schuld ist oder schuld sein soll
an der Not der Einzelnen. Es ist in den Grenzboten bereits auf die traurige
Lächerlichkeit der Thatsache hingewiesen worden, daß die Weber im Eulen- und
im Erzgebirge angeblich deswegen kein Brot kaufen können, weil Deutschland
beständig in Gefahr schwebt, vom Auslande aus mit Brot und Fleisch über¬
schwemmt zu werden, das nuszuspcrreu die Zollschranke" nicht hoch genug
aufgeführt werden können, daß der böhmische Weber angeblich deswegen kein
Hemd ans dem Leibe hat, weil die Leinwandtrausporte, mit denen Böhmen
von Deutschland aus bedroht wird, den böhmischen Fabrikanten am Verkauf
seiner eignen Erzeugnisse hindern, daß der Schriftsteller deswegen keine Bücher
kaufen kann, weil der Verleger zu viel unverkäufliche Bücher auf Lager
hat u. f. w. Es giebt in der That kein Wort, das stark genug wäre, die
Verrücktheit dieses Zustandes zu bezeichnen.

Nicht daß dieser Gedanke völlig nen oder nirgends anders als in Vebels
Kopfe entsprungen wäre. Bebel hat ihn von Marx, und Marx hat ihn
gleichzeitig mit Rodbertus schon vor etwa dreißig Jahren gefunden. Wir
kennen außerdem denkende Männer, denen jener innere Widerspruch unsrer
Volkswirtschaft zu einer Zeit, wo sie die Lehren der genannten Sozialisten noch
nicht kannten, durch eignes Nachdenken klar geworden ist, und wir zweifeln
nicht daran, daß überall in der Welt Menschen leben, die Augen im Kopfe
haben (mehr ist gar nicht nötig) und daher zu demselben Ergebnis gelangen.
Endlich hat Hertzka jenen Widersinn zum Ausgangspunkte seiner Untersuchungen
und zum Angelpunkte seines sozialistische" Romans "Freiland" gemacht. Aber
der Gedanke oder genauer gesagt, diese Erkenntnis der Wirklichkeit scheint für
die Vertreter der öffentlichen, Meinung etwas- Schreckliches zu haben. Wir
beobachten seit Jahren, wie die Zeitungen und Zeitschriften der verschiedensten
Parteien, wenn sie schon durch ihren Gedankengang mit der Nase darauf ge¬
stoßen werden, scheu davor zurückpralle,: und sich ängstlich drum herumdrücken,
wie sie alle litterarischen Erscheinungen, in denen die Wahrheit vorkommt, be¬
harrlich totschweigen und alle Einsendungen, die darauf anspielen, zurückweisen;
unmerklich sind die deutschfreisinnigen Organe groß darin, ihren Lesern Scheu¬
klappen vorzubinden, damit sie weder jenen Grundfehler unsers wirtschaftlichen
Lebens bemerken, noch deu damit innig zusammenhängenden Grundfehler des
zur Zeit noch herrschenden Kapitalbegriffs. Es ist nun klar, daß alle nud
jede Sozialpolitik, die diese beiden Grundfehler übersieht, halt- nud wertlose
Flickarbeit bleiben muß, während sich aus der richtigen Erkenntnis der Fehler
die Möglichkeit der Besserung mit Notwendigkeit ergiebt. Daß die heutigen


Grenzboten 1 1.891 50

der wirtschaftliche Zustand der heutigen Kulturstaaten überaus unvernünftig
sei, da in ihnen die Leiden der Armut nicht, wie in frühern Zeiten, ans dem
allgemeinen Mangel, sondern gerade aus dem allgemeinen Überfluß entspringen;
da der Reichtum des Ganzen und die jederzeit offenstehende Möglichkeit,
diesen Reichtum ins Grenzenlose zu vermehren, schuld ist oder schuld sein soll
an der Not der Einzelnen. Es ist in den Grenzboten bereits auf die traurige
Lächerlichkeit der Thatsache hingewiesen worden, daß die Weber im Eulen- und
im Erzgebirge angeblich deswegen kein Brot kaufen können, weil Deutschland
beständig in Gefahr schwebt, vom Auslande aus mit Brot und Fleisch über¬
schwemmt zu werden, das nuszuspcrreu die Zollschranke» nicht hoch genug
aufgeführt werden können, daß der böhmische Weber angeblich deswegen kein
Hemd ans dem Leibe hat, weil die Leinwandtrausporte, mit denen Böhmen
von Deutschland aus bedroht wird, den böhmischen Fabrikanten am Verkauf
seiner eignen Erzeugnisse hindern, daß der Schriftsteller deswegen keine Bücher
kaufen kann, weil der Verleger zu viel unverkäufliche Bücher auf Lager
hat u. f. w. Es giebt in der That kein Wort, das stark genug wäre, die
Verrücktheit dieses Zustandes zu bezeichnen.

Nicht daß dieser Gedanke völlig nen oder nirgends anders als in Vebels
Kopfe entsprungen wäre. Bebel hat ihn von Marx, und Marx hat ihn
gleichzeitig mit Rodbertus schon vor etwa dreißig Jahren gefunden. Wir
kennen außerdem denkende Männer, denen jener innere Widerspruch unsrer
Volkswirtschaft zu einer Zeit, wo sie die Lehren der genannten Sozialisten noch
nicht kannten, durch eignes Nachdenken klar geworden ist, und wir zweifeln
nicht daran, daß überall in der Welt Menschen leben, die Augen im Kopfe
haben (mehr ist gar nicht nötig) und daher zu demselben Ergebnis gelangen.
Endlich hat Hertzka jenen Widersinn zum Ausgangspunkte seiner Untersuchungen
und zum Angelpunkte seines sozialistische» Romans „Freiland" gemacht. Aber
der Gedanke oder genauer gesagt, diese Erkenntnis der Wirklichkeit scheint für
die Vertreter der öffentlichen, Meinung etwas- Schreckliches zu haben. Wir
beobachten seit Jahren, wie die Zeitungen und Zeitschriften der verschiedensten
Parteien, wenn sie schon durch ihren Gedankengang mit der Nase darauf ge¬
stoßen werden, scheu davor zurückpralle,: und sich ängstlich drum herumdrücken,
wie sie alle litterarischen Erscheinungen, in denen die Wahrheit vorkommt, be¬
harrlich totschweigen und alle Einsendungen, die darauf anspielen, zurückweisen;
unmerklich sind die deutschfreisinnigen Organe groß darin, ihren Lesern Scheu¬
klappen vorzubinden, damit sie weder jenen Grundfehler unsers wirtschaftlichen
Lebens bemerken, noch deu damit innig zusammenhängenden Grundfehler des
zur Zeit noch herrschenden Kapitalbegriffs. Es ist nun klar, daß alle nud
jede Sozialpolitik, die diese beiden Grundfehler übersieht, halt- nud wertlose
Flickarbeit bleiben muß, während sich aus der richtigen Erkenntnis der Fehler
die Möglichkeit der Besserung mit Notwendigkeit ergiebt. Daß die heutigen


Grenzboten 1 1.891 50
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/401>, abgerufen am 23.07.2024.