Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die ^ran und der Sozialismus

unsittliche Verhältnisse durch keine Legalisirung in sittliche verwandelt werden
können, wollen loir Bebels Auffass ung doch auch durch das Ausehen eines
berühmten rechtgläubigen Theologen stützen. Von den monströsen Eheu, d. h.
solchen, bei denen der Altersunterschied der beiden Gatten übermäßig groß ist,
sagt Öttingen auf Seite 380 seiner Moralstatistik: "Es ist solch ein Schritt
selbstverständlich immer ein Verbrechen gegen die Idee der Ehe, eine selbst-
schänderische Preisgebung der eignen Person. Verbindungen, die aus Furcht
vor dem Ledigbleiben ^noch lauge nicht der schlimmste Beweggrunds so oft
Wider alle Neigung geschlossen werden, sind, wie schon Mnlthus mit Recht
hervorgehoben hat, genau genommen uicht viel anders als wahrhafte Prosti¬
tutionen, mögen sie noch so sehr durch das korrumpirte öffentliche Urteil be¬
schönigt oder gar, wie nicht selten geschieht, mit dem Mantel der Frömmigkeit
umhüllt werden." Am meisten gilt das natürlich in dem Falle, wo sich ein
junger Mann durch die Vermählung mit einer über sechzig Jahre alten
reichen Frau prostituirt, ein Fall, der besonders häufig in Belgien vorkommt;
denn in diesem Musterstaate des höchst entwickelten Jndustrialismus, Kapita¬
lismus, Parlamentarismus, Jesuitismus und Liberalismus ist die sittliche
Fäulnis am weitesten vorgeschritten. Babel hat nämlich auch darin nicht Un¬
recht, daß er die Verderbnis des Geschlechtslebens mit dem Kapitalismus in
Verbindung bringt. Wie dieses System in dieser Hinsicht auf die drei Klassen
einwirkt, das liegt auf der Hand. Es sammeln sich in einer obersten Schicht so
ungeheure Reichtümer, daß einerseits deren Angehörigen die Befriedigung jeder
noch so verwerflichen Laune möglich ist, und daß anderseits der dadurch er¬
zeugte wnhnsiunige Luxus die Besorgnis erzeugt, selbst der größte Reichtum
werde zum "standesgemäßen" Leben nicht hinreichen, daher denn in diesen
Kreisen die Geldheirat das gewöhnliche wird. Die Männer der mittlern
Schicht müssen ebenfalls vor allein ans das Geld sehen, weil das ansteckende
Beispiel des Luxus und Lebensgenusses der Vornehmen auch ihre Kreise be¬
herrscht, und weil sie, mit Ausnahme der Beamten, von dem Gespenst der
Existenzunsicherheit gepeinigt, möglichste materielle Sicherheit zu suchen ge¬
zwungen sind. Die unterste Schicht endlich verfällt jenem Pauperismus, in
dem jede Möglichkeit eiues menschenwürdigen Daseins und eines wohlgeordneten
Familienlebens aufhört.

Endlich stimmt Bebels Eheideal im Grnnde genommen mit dem christ¬
lichen überein. Er verwirft die Polygamie wie die Prostitution und verlangt
die streng und ausnahmslos durchgeführte Einehe, ohne den Männern irgend
ein Vorrecht vor den Frauen einzuräumen. Von dem gegenwärtigen gesetz¬
lichen Zustande unterscheidet sich die Ehcfreiheir, die er erstrebt, nur dadurch,
daß die Schließung wie die Trennung der Ehe lediglich Sache der beiden
Beteiligten und leine dritte Macht, wie Staat oder Kirche, drein zu sprechen
befugt sein soll. Daß dieses Dreinsprecheu des Staates unter den heutigen


Die ^ran und der Sozialismus

unsittliche Verhältnisse durch keine Legalisirung in sittliche verwandelt werden
können, wollen loir Bebels Auffass ung doch auch durch das Ausehen eines
berühmten rechtgläubigen Theologen stützen. Von den monströsen Eheu, d. h.
solchen, bei denen der Altersunterschied der beiden Gatten übermäßig groß ist,
sagt Öttingen auf Seite 380 seiner Moralstatistik: „Es ist solch ein Schritt
selbstverständlich immer ein Verbrechen gegen die Idee der Ehe, eine selbst-
schänderische Preisgebung der eignen Person. Verbindungen, die aus Furcht
vor dem Ledigbleiben ^noch lauge nicht der schlimmste Beweggrunds so oft
Wider alle Neigung geschlossen werden, sind, wie schon Mnlthus mit Recht
hervorgehoben hat, genau genommen uicht viel anders als wahrhafte Prosti¬
tutionen, mögen sie noch so sehr durch das korrumpirte öffentliche Urteil be¬
schönigt oder gar, wie nicht selten geschieht, mit dem Mantel der Frömmigkeit
umhüllt werden." Am meisten gilt das natürlich in dem Falle, wo sich ein
junger Mann durch die Vermählung mit einer über sechzig Jahre alten
reichen Frau prostituirt, ein Fall, der besonders häufig in Belgien vorkommt;
denn in diesem Musterstaate des höchst entwickelten Jndustrialismus, Kapita¬
lismus, Parlamentarismus, Jesuitismus und Liberalismus ist die sittliche
Fäulnis am weitesten vorgeschritten. Babel hat nämlich auch darin nicht Un¬
recht, daß er die Verderbnis des Geschlechtslebens mit dem Kapitalismus in
Verbindung bringt. Wie dieses System in dieser Hinsicht auf die drei Klassen
einwirkt, das liegt auf der Hand. Es sammeln sich in einer obersten Schicht so
ungeheure Reichtümer, daß einerseits deren Angehörigen die Befriedigung jeder
noch so verwerflichen Laune möglich ist, und daß anderseits der dadurch er¬
zeugte wnhnsiunige Luxus die Besorgnis erzeugt, selbst der größte Reichtum
werde zum „standesgemäßen" Leben nicht hinreichen, daher denn in diesen
Kreisen die Geldheirat das gewöhnliche wird. Die Männer der mittlern
Schicht müssen ebenfalls vor allein ans das Geld sehen, weil das ansteckende
Beispiel des Luxus und Lebensgenusses der Vornehmen auch ihre Kreise be¬
herrscht, und weil sie, mit Ausnahme der Beamten, von dem Gespenst der
Existenzunsicherheit gepeinigt, möglichste materielle Sicherheit zu suchen ge¬
zwungen sind. Die unterste Schicht endlich verfällt jenem Pauperismus, in
dem jede Möglichkeit eiues menschenwürdigen Daseins und eines wohlgeordneten
Familienlebens aufhört.

Endlich stimmt Bebels Eheideal im Grnnde genommen mit dem christ¬
lichen überein. Er verwirft die Polygamie wie die Prostitution und verlangt
die streng und ausnahmslos durchgeführte Einehe, ohne den Männern irgend
ein Vorrecht vor den Frauen einzuräumen. Von dem gegenwärtigen gesetz¬
lichen Zustande unterscheidet sich die Ehcfreiheir, die er erstrebt, nur dadurch,
daß die Schließung wie die Trennung der Ehe lediglich Sache der beiden
Beteiligten und leine dritte Macht, wie Staat oder Kirche, drein zu sprechen
befugt sein soll. Daß dieses Dreinsprecheu des Staates unter den heutigen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0399" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209632"/>
          <fw type="header" place="top"> Die ^ran und der Sozialismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1116" prev="#ID_1115"> unsittliche Verhältnisse durch keine Legalisirung in sittliche verwandelt werden<lb/>
können, wollen loir Bebels Auffass ung doch auch durch das Ausehen eines<lb/>
berühmten rechtgläubigen Theologen stützen. Von den monströsen Eheu, d. h.<lb/>
solchen, bei denen der Altersunterschied der beiden Gatten übermäßig groß ist,<lb/>
sagt Öttingen auf Seite 380 seiner Moralstatistik: &#x201E;Es ist solch ein Schritt<lb/>
selbstverständlich immer ein Verbrechen gegen die Idee der Ehe, eine selbst-<lb/>
schänderische Preisgebung der eignen Person. Verbindungen, die aus Furcht<lb/>
vor dem Ledigbleiben ^noch lauge nicht der schlimmste Beweggrunds so oft<lb/>
Wider alle Neigung geschlossen werden, sind, wie schon Mnlthus mit Recht<lb/>
hervorgehoben hat, genau genommen uicht viel anders als wahrhafte Prosti¬<lb/>
tutionen, mögen sie noch so sehr durch das korrumpirte öffentliche Urteil be¬<lb/>
schönigt oder gar, wie nicht selten geschieht, mit dem Mantel der Frömmigkeit<lb/>
umhüllt werden." Am meisten gilt das natürlich in dem Falle, wo sich ein<lb/>
junger Mann durch die Vermählung mit einer über sechzig Jahre alten<lb/>
reichen Frau prostituirt, ein Fall, der besonders häufig in Belgien vorkommt;<lb/>
denn in diesem Musterstaate des höchst entwickelten Jndustrialismus, Kapita¬<lb/>
lismus, Parlamentarismus, Jesuitismus und Liberalismus ist die sittliche<lb/>
Fäulnis am weitesten vorgeschritten. Babel hat nämlich auch darin nicht Un¬<lb/>
recht, daß er die Verderbnis des Geschlechtslebens mit dem Kapitalismus in<lb/>
Verbindung bringt. Wie dieses System in dieser Hinsicht auf die drei Klassen<lb/>
einwirkt, das liegt auf der Hand. Es sammeln sich in einer obersten Schicht so<lb/>
ungeheure Reichtümer, daß einerseits deren Angehörigen die Befriedigung jeder<lb/>
noch so verwerflichen Laune möglich ist, und daß anderseits der dadurch er¬<lb/>
zeugte wnhnsiunige Luxus die Besorgnis erzeugt, selbst der größte Reichtum<lb/>
werde zum &#x201E;standesgemäßen" Leben nicht hinreichen, daher denn in diesen<lb/>
Kreisen die Geldheirat das gewöhnliche wird. Die Männer der mittlern<lb/>
Schicht müssen ebenfalls vor allein ans das Geld sehen, weil das ansteckende<lb/>
Beispiel des Luxus und Lebensgenusses der Vornehmen auch ihre Kreise be¬<lb/>
herrscht, und weil sie, mit Ausnahme der Beamten, von dem Gespenst der<lb/>
Existenzunsicherheit gepeinigt, möglichste materielle Sicherheit zu suchen ge¬<lb/>
zwungen sind. Die unterste Schicht endlich verfällt jenem Pauperismus, in<lb/>
dem jede Möglichkeit eiues menschenwürdigen Daseins und eines wohlgeordneten<lb/>
Familienlebens aufhört.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1117" next="#ID_1118"> Endlich stimmt Bebels Eheideal im Grnnde genommen mit dem christ¬<lb/>
lichen überein. Er verwirft die Polygamie wie die Prostitution und verlangt<lb/>
die streng und ausnahmslos durchgeführte Einehe, ohne den Männern irgend<lb/>
ein Vorrecht vor den Frauen einzuräumen. Von dem gegenwärtigen gesetz¬<lb/>
lichen Zustande unterscheidet sich die Ehcfreiheir, die er erstrebt, nur dadurch,<lb/>
daß die Schließung wie die Trennung der Ehe lediglich Sache der beiden<lb/>
Beteiligten und leine dritte Macht, wie Staat oder Kirche, drein zu sprechen<lb/>
befugt sein soll.  Daß dieses Dreinsprecheu des Staates unter den heutigen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0399] Die ^ran und der Sozialismus unsittliche Verhältnisse durch keine Legalisirung in sittliche verwandelt werden können, wollen loir Bebels Auffass ung doch auch durch das Ausehen eines berühmten rechtgläubigen Theologen stützen. Von den monströsen Eheu, d. h. solchen, bei denen der Altersunterschied der beiden Gatten übermäßig groß ist, sagt Öttingen auf Seite 380 seiner Moralstatistik: „Es ist solch ein Schritt selbstverständlich immer ein Verbrechen gegen die Idee der Ehe, eine selbst- schänderische Preisgebung der eignen Person. Verbindungen, die aus Furcht vor dem Ledigbleiben ^noch lauge nicht der schlimmste Beweggrunds so oft Wider alle Neigung geschlossen werden, sind, wie schon Mnlthus mit Recht hervorgehoben hat, genau genommen uicht viel anders als wahrhafte Prosti¬ tutionen, mögen sie noch so sehr durch das korrumpirte öffentliche Urteil be¬ schönigt oder gar, wie nicht selten geschieht, mit dem Mantel der Frömmigkeit umhüllt werden." Am meisten gilt das natürlich in dem Falle, wo sich ein junger Mann durch die Vermählung mit einer über sechzig Jahre alten reichen Frau prostituirt, ein Fall, der besonders häufig in Belgien vorkommt; denn in diesem Musterstaate des höchst entwickelten Jndustrialismus, Kapita¬ lismus, Parlamentarismus, Jesuitismus und Liberalismus ist die sittliche Fäulnis am weitesten vorgeschritten. Babel hat nämlich auch darin nicht Un¬ recht, daß er die Verderbnis des Geschlechtslebens mit dem Kapitalismus in Verbindung bringt. Wie dieses System in dieser Hinsicht auf die drei Klassen einwirkt, das liegt auf der Hand. Es sammeln sich in einer obersten Schicht so ungeheure Reichtümer, daß einerseits deren Angehörigen die Befriedigung jeder noch so verwerflichen Laune möglich ist, und daß anderseits der dadurch er¬ zeugte wnhnsiunige Luxus die Besorgnis erzeugt, selbst der größte Reichtum werde zum „standesgemäßen" Leben nicht hinreichen, daher denn in diesen Kreisen die Geldheirat das gewöhnliche wird. Die Männer der mittlern Schicht müssen ebenfalls vor allein ans das Geld sehen, weil das ansteckende Beispiel des Luxus und Lebensgenusses der Vornehmen auch ihre Kreise be¬ herrscht, und weil sie, mit Ausnahme der Beamten, von dem Gespenst der Existenzunsicherheit gepeinigt, möglichste materielle Sicherheit zu suchen ge¬ zwungen sind. Die unterste Schicht endlich verfällt jenem Pauperismus, in dem jede Möglichkeit eiues menschenwürdigen Daseins und eines wohlgeordneten Familienlebens aufhört. Endlich stimmt Bebels Eheideal im Grnnde genommen mit dem christ¬ lichen überein. Er verwirft die Polygamie wie die Prostitution und verlangt die streng und ausnahmslos durchgeführte Einehe, ohne den Männern irgend ein Vorrecht vor den Frauen einzuräumen. Von dem gegenwärtigen gesetz¬ lichen Zustande unterscheidet sich die Ehcfreiheir, die er erstrebt, nur dadurch, daß die Schließung wie die Trennung der Ehe lediglich Sache der beiden Beteiligten und leine dritte Macht, wie Staat oder Kirche, drein zu sprechen befugt sein soll. Daß dieses Dreinsprecheu des Staates unter den heutigen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/399
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/399>, abgerufen am 25.08.2024.