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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die Stenographie in der Schule

selbst willen. Was Schwärmer von dem hohen wissenschaftlichen Gehalt der
Stenographie, von ihrer Bedeutung für das Eindringen in den Geist der
Muttersprache und dergleichen zu erzählen Pflegen, schrumpft bei genauem Hin¬
blicken ans ein sehr bescheidnes Maß zusammen und ist ftir die ganze Frage
ohne Wichtigkeit, da die höhern Schulen in andern Lehrfächern weit bessere
Mittel zur Erreichung solcher Zwecke bieten. Wie man die gewöhnliche Schrift
lehren und lernen muß nicht als Selbstzweck, sondern weil ohne sie die An¬
eignung von Bildung unmöglich oder doch ungemein schwierig ist, so kann auch
die Stenographie in den Schulen uur als Mittel zum Zwecke der nachfolgenden
Entlastung gelehrt werden.

Entscheidet man sich dafür, auch in den höhern Schulen Preußens der
Stenographie einen Platz einzuräumen oder auch nur ihre Erlernung durch
die Schulen zu befürworten, so entsteht die wichtige Frage, welches System
der Stenographie gewählt werden soll, denn die Schule müßte dann doch
darauf sehen, daß nicht durch Anwendung verschiedner Systeme die Schiller
etwa in Streitfragen verwickelt, die gegenseitige Lesbarkeit gehindert und so
ein Teil des Nutzens wieder vereitelt würde.

Die Zahl der Elemente, mit denen die Stenographie arbeitet, ist ziemlich
gering. Diese "Quantitäten," wie man sie wohl nennen mag, werden aber
durch das Hineinlegen charakteristischer Werte oder Merkmale, die man als
"Qualitäten" bezeichnen darf, bedeutend vermehrt und potenzirt. Je nachdem
nun alle Qualitäten oder bloß einige mit dieser oder jener Quantität vereinigt
werden und je nachdem man die Bezeichnnngsniittel, die durch diese Kombi¬
nationen hervorgebracht siud, für diesen oder jenen Wert der gewöhnlichen
Schrift einsetzt, ergiebt sich eine fast unbegrenzte Möglichkeit Verschicdenartiger
Systeme. Im deutschen Sprachgebiete sowohl wie in den übrigen Kultur¬
ländern ist diese Möglichkeit schon längst zur Wirklichkeit geworden.

Wenn man jedem Dnrchschnittsvertreter eines bestimmten Systems glauben
wollte, dann wäre nnr und ausschließlich das System, dem er anhängt, ein
Ausbund von Vollkommenheit, alle übrigen aber verächtlicher Plunder, der
kaum wert ist, von der" Sonne beschienen zu werden. Schwerlich findet man
auf irgend einem andern Gebiete solche erbitterte gegenseitige Verlästerung und
Schmähsncht, wie sie die verschiednen stenographischen Systeme um einander
ausübe". Dieser kindliche, um nicht zu sagen kindische Fanatismus gebärdet
sich bei diesem doch verhältnismäßig untergeordneten Gegenstande mindestens
so, als ob es sich um der Seelen Seligkeit handelte.

Die Wahrheit ist, daß völlig unbrauchbare Systeme sehr selten sind, die
übrigen sich uur dnrch den etwas größern oder geringern Grad von Brauch¬
barkeit unterscheiden, daß aber alle brauchbaren, auch die brauchbarsten nicht
ausgeschlossen, um Fehlern und Schwächen leiden, die meistens in derselben
Quelle ihren Ursprung habe", ans der auch ihre eigentümlichen Vorzüge her-


Die Stenographie in der Schule

selbst willen. Was Schwärmer von dem hohen wissenschaftlichen Gehalt der
Stenographie, von ihrer Bedeutung für das Eindringen in den Geist der
Muttersprache und dergleichen zu erzählen Pflegen, schrumpft bei genauem Hin¬
blicken ans ein sehr bescheidnes Maß zusammen und ist ftir die ganze Frage
ohne Wichtigkeit, da die höhern Schulen in andern Lehrfächern weit bessere
Mittel zur Erreichung solcher Zwecke bieten. Wie man die gewöhnliche Schrift
lehren und lernen muß nicht als Selbstzweck, sondern weil ohne sie die An¬
eignung von Bildung unmöglich oder doch ungemein schwierig ist, so kann auch
die Stenographie in den Schulen uur als Mittel zum Zwecke der nachfolgenden
Entlastung gelehrt werden.

Entscheidet man sich dafür, auch in den höhern Schulen Preußens der
Stenographie einen Platz einzuräumen oder auch nur ihre Erlernung durch
die Schulen zu befürworten, so entsteht die wichtige Frage, welches System
der Stenographie gewählt werden soll, denn die Schule müßte dann doch
darauf sehen, daß nicht durch Anwendung verschiedner Systeme die Schiller
etwa in Streitfragen verwickelt, die gegenseitige Lesbarkeit gehindert und so
ein Teil des Nutzens wieder vereitelt würde.

Die Zahl der Elemente, mit denen die Stenographie arbeitet, ist ziemlich
gering. Diese „Quantitäten," wie man sie wohl nennen mag, werden aber
durch das Hineinlegen charakteristischer Werte oder Merkmale, die man als
„Qualitäten" bezeichnen darf, bedeutend vermehrt und potenzirt. Je nachdem
nun alle Qualitäten oder bloß einige mit dieser oder jener Quantität vereinigt
werden und je nachdem man die Bezeichnnngsniittel, die durch diese Kombi¬
nationen hervorgebracht siud, für diesen oder jenen Wert der gewöhnlichen
Schrift einsetzt, ergiebt sich eine fast unbegrenzte Möglichkeit Verschicdenartiger
Systeme. Im deutschen Sprachgebiete sowohl wie in den übrigen Kultur¬
ländern ist diese Möglichkeit schon längst zur Wirklichkeit geworden.

Wenn man jedem Dnrchschnittsvertreter eines bestimmten Systems glauben
wollte, dann wäre nnr und ausschließlich das System, dem er anhängt, ein
Ausbund von Vollkommenheit, alle übrigen aber verächtlicher Plunder, der
kaum wert ist, von der" Sonne beschienen zu werden. Schwerlich findet man
auf irgend einem andern Gebiete solche erbitterte gegenseitige Verlästerung und
Schmähsncht, wie sie die verschiednen stenographischen Systeme um einander
ausübe». Dieser kindliche, um nicht zu sagen kindische Fanatismus gebärdet
sich bei diesem doch verhältnismäßig untergeordneten Gegenstande mindestens
so, als ob es sich um der Seelen Seligkeit handelte.

Die Wahrheit ist, daß völlig unbrauchbare Systeme sehr selten sind, die
übrigen sich uur dnrch den etwas größern oder geringern Grad von Brauch¬
barkeit unterscheiden, daß aber alle brauchbaren, auch die brauchbarsten nicht
ausgeschlossen, um Fehlern und Schwächen leiden, die meistens in derselben
Quelle ihren Ursprung habe», ans der auch ihre eigentümlichen Vorzüge her-


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[0368] Die Stenographie in der Schule selbst willen. Was Schwärmer von dem hohen wissenschaftlichen Gehalt der Stenographie, von ihrer Bedeutung für das Eindringen in den Geist der Muttersprache und dergleichen zu erzählen Pflegen, schrumpft bei genauem Hin¬ blicken ans ein sehr bescheidnes Maß zusammen und ist ftir die ganze Frage ohne Wichtigkeit, da die höhern Schulen in andern Lehrfächern weit bessere Mittel zur Erreichung solcher Zwecke bieten. Wie man die gewöhnliche Schrift lehren und lernen muß nicht als Selbstzweck, sondern weil ohne sie die An¬ eignung von Bildung unmöglich oder doch ungemein schwierig ist, so kann auch die Stenographie in den Schulen uur als Mittel zum Zwecke der nachfolgenden Entlastung gelehrt werden. Entscheidet man sich dafür, auch in den höhern Schulen Preußens der Stenographie einen Platz einzuräumen oder auch nur ihre Erlernung durch die Schulen zu befürworten, so entsteht die wichtige Frage, welches System der Stenographie gewählt werden soll, denn die Schule müßte dann doch darauf sehen, daß nicht durch Anwendung verschiedner Systeme die Schiller etwa in Streitfragen verwickelt, die gegenseitige Lesbarkeit gehindert und so ein Teil des Nutzens wieder vereitelt würde. Die Zahl der Elemente, mit denen die Stenographie arbeitet, ist ziemlich gering. Diese „Quantitäten," wie man sie wohl nennen mag, werden aber durch das Hineinlegen charakteristischer Werte oder Merkmale, die man als „Qualitäten" bezeichnen darf, bedeutend vermehrt und potenzirt. Je nachdem nun alle Qualitäten oder bloß einige mit dieser oder jener Quantität vereinigt werden und je nachdem man die Bezeichnnngsniittel, die durch diese Kombi¬ nationen hervorgebracht siud, für diesen oder jenen Wert der gewöhnlichen Schrift einsetzt, ergiebt sich eine fast unbegrenzte Möglichkeit Verschicdenartiger Systeme. Im deutschen Sprachgebiete sowohl wie in den übrigen Kultur¬ ländern ist diese Möglichkeit schon längst zur Wirklichkeit geworden. Wenn man jedem Dnrchschnittsvertreter eines bestimmten Systems glauben wollte, dann wäre nnr und ausschließlich das System, dem er anhängt, ein Ausbund von Vollkommenheit, alle übrigen aber verächtlicher Plunder, der kaum wert ist, von der" Sonne beschienen zu werden. Schwerlich findet man auf irgend einem andern Gebiete solche erbitterte gegenseitige Verlästerung und Schmähsncht, wie sie die verschiednen stenographischen Systeme um einander ausübe». Dieser kindliche, um nicht zu sagen kindische Fanatismus gebärdet sich bei diesem doch verhältnismäßig untergeordneten Gegenstande mindestens so, als ob es sich um der Seelen Seligkeit handelte. Die Wahrheit ist, daß völlig unbrauchbare Systeme sehr selten sind, die übrigen sich uur dnrch den etwas größern oder geringern Grad von Brauch¬ barkeit unterscheiden, daß aber alle brauchbaren, auch die brauchbarsten nicht ausgeschlossen, um Fehlern und Schwächen leiden, die meistens in derselben Quelle ihren Ursprung habe», ans der auch ihre eigentümlichen Vorzüge her-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/368>, abgerufen am 23.07.2024.