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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die Stenographie in der Schule

der Stenographie vertraut zu machen. Er würde dabei im eigensten Vorteil
handeln, denn mich von Personen reifern Alters erlernt, trügt die Stenographie
noch so reichliche Zinsen für das aufgewandte Zeitkapital, daß niemand über
einen Verlust zu klagen haben wird.

Ein andrer Einwand ist der, die Schüler seien schon genügend mit Arbeiten
überhäuft und könnten nicht noch etwas Neues dazuuehmen. Das ist gewiß
richtig. Aber eben der Arbcitsüberhänfnug wegen lernen die Schüler Steno¬
graphie, sie wollen sich durch eine Mehrarbeit von kurzer Zeit eine für Schule
und Leben andauernde Arbeitsentlastuug erringen. Das ist ein schlechter
Rechner, der aus falsch angebrachter Sparsamkeit sich scheut, eine einmalige
Ausgabe vou hundert Mark zu machen, obwohl er weiß, daß die aufzuwendende
Summe in kurzem aus dem Ertrage des beschafften Dinges wieder gedeckt sein
wird und künftig Jahr für Jahr ein Gewinn damit zu hoffen ist, der die An¬
lage um das doppelte, dreifache und noch mehr übertrifft.

Des weitern wird wohl behauptet, die Stenographie schade den Augen,
verderbe die gewöhnliche Schrift und Orthographie, und es lasse sich keine
charakteristische Hand darin ausbilden. Diese Einwürfe beruhen teils ans un¬
genügender Sachkenntnis, teils treffen sie nur einzelne Systeme, nicht aber die
Stenographie schlechthin. Ein hervorragender Augenarzt, wie Professor Cohn
in Breslau, hat aus eigner langjähriger Erfahrung im Gegenteil die An¬
wendung der Stenographie zur Schonung der Augen und zur Verhütung der
Kurzsichtigkeit empfohlen. Daß sich in der Stenographie genau so charakteristisch
uuterschiedne Hände ausbilden wie in der gewöhnlichen Schrift, wird jeder be¬
stätigen, der stenographirte Schriftstücke verschiedner Personen zu lesen gehabt
hat. Mau lernt dnrch den Gebrauch die Hände scharf unterscheiden, ja es
genügen dann z. B. drei bis vier stenographirte Wortbilder, um den Schreiber
daraus zu erkennen. Eine Verschlechterung der gewöhnlichen Handschrift bei
gleichzeitigem Gebrauche der Stenographie ist kaum denkbar. Die Stenographie
verlangt sorgfältigere Schreibung als die gewöhnliche Schrift, und wenn eine
Einwirkung von jener auf diese ausgeht, so müßte man vielmehr erwarten,
daß die sorgfältigere Ausführung auch der gewöhnlichen Schrift zu gute
käme. Das Gegenteil gehört eigentlich zu den psychologischen Unmöglichkeiten,
und es hat auch noch niemand Beweise für jene Behauptung gebracht. In
der Orthographie sündigen allerdings manche Systeme gewaltig, aber doch nicht
alle. Wenn daher ein ungünstiger Einfluß der Stenographie auf die Recht¬
schreibung der gewöhnlichen Schrift bemerkt wird, so braucht uicht gleich das
Kind mit dem Bade ausgeschüttet zu werden, der Übergang zu einem ortho¬
graphischeren System würde den Übelstand rasch beseitigen -- oeWimts va-us"
oessat eA'solus --, und die Vorteile blieben den Schülern erhalten.

Im Grunde genommen ist ein einziger Einwand von Bedeutung: die
Stenographie könne mißbraucht werden. Das ist richtig. Die Schüler


Die Stenographie in der Schule

der Stenographie vertraut zu machen. Er würde dabei im eigensten Vorteil
handeln, denn mich von Personen reifern Alters erlernt, trügt die Stenographie
noch so reichliche Zinsen für das aufgewandte Zeitkapital, daß niemand über
einen Verlust zu klagen haben wird.

Ein andrer Einwand ist der, die Schüler seien schon genügend mit Arbeiten
überhäuft und könnten nicht noch etwas Neues dazuuehmen. Das ist gewiß
richtig. Aber eben der Arbcitsüberhänfnug wegen lernen die Schüler Steno¬
graphie, sie wollen sich durch eine Mehrarbeit von kurzer Zeit eine für Schule
und Leben andauernde Arbeitsentlastuug erringen. Das ist ein schlechter
Rechner, der aus falsch angebrachter Sparsamkeit sich scheut, eine einmalige
Ausgabe vou hundert Mark zu machen, obwohl er weiß, daß die aufzuwendende
Summe in kurzem aus dem Ertrage des beschafften Dinges wieder gedeckt sein
wird und künftig Jahr für Jahr ein Gewinn damit zu hoffen ist, der die An¬
lage um das doppelte, dreifache und noch mehr übertrifft.

Des weitern wird wohl behauptet, die Stenographie schade den Augen,
verderbe die gewöhnliche Schrift und Orthographie, und es lasse sich keine
charakteristische Hand darin ausbilden. Diese Einwürfe beruhen teils ans un¬
genügender Sachkenntnis, teils treffen sie nur einzelne Systeme, nicht aber die
Stenographie schlechthin. Ein hervorragender Augenarzt, wie Professor Cohn
in Breslau, hat aus eigner langjähriger Erfahrung im Gegenteil die An¬
wendung der Stenographie zur Schonung der Augen und zur Verhütung der
Kurzsichtigkeit empfohlen. Daß sich in der Stenographie genau so charakteristisch
uuterschiedne Hände ausbilden wie in der gewöhnlichen Schrift, wird jeder be¬
stätigen, der stenographirte Schriftstücke verschiedner Personen zu lesen gehabt
hat. Mau lernt dnrch den Gebrauch die Hände scharf unterscheiden, ja es
genügen dann z. B. drei bis vier stenographirte Wortbilder, um den Schreiber
daraus zu erkennen. Eine Verschlechterung der gewöhnlichen Handschrift bei
gleichzeitigem Gebrauche der Stenographie ist kaum denkbar. Die Stenographie
verlangt sorgfältigere Schreibung als die gewöhnliche Schrift, und wenn eine
Einwirkung von jener auf diese ausgeht, so müßte man vielmehr erwarten,
daß die sorgfältigere Ausführung auch der gewöhnlichen Schrift zu gute
käme. Das Gegenteil gehört eigentlich zu den psychologischen Unmöglichkeiten,
und es hat auch noch niemand Beweise für jene Behauptung gebracht. In
der Orthographie sündigen allerdings manche Systeme gewaltig, aber doch nicht
alle. Wenn daher ein ungünstiger Einfluß der Stenographie auf die Recht¬
schreibung der gewöhnlichen Schrift bemerkt wird, so braucht uicht gleich das
Kind mit dem Bade ausgeschüttet zu werden, der Übergang zu einem ortho¬
graphischeren System würde den Übelstand rasch beseitigen — oeWimts va-us»
oessat eA'solus —, und die Vorteile blieben den Schülern erhalten.

Im Grunde genommen ist ein einziger Einwand von Bedeutung: die
Stenographie könne mißbraucht werden. Das ist richtig. Die Schüler


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[0364] Die Stenographie in der Schule der Stenographie vertraut zu machen. Er würde dabei im eigensten Vorteil handeln, denn mich von Personen reifern Alters erlernt, trügt die Stenographie noch so reichliche Zinsen für das aufgewandte Zeitkapital, daß niemand über einen Verlust zu klagen haben wird. Ein andrer Einwand ist der, die Schüler seien schon genügend mit Arbeiten überhäuft und könnten nicht noch etwas Neues dazuuehmen. Das ist gewiß richtig. Aber eben der Arbcitsüberhänfnug wegen lernen die Schüler Steno¬ graphie, sie wollen sich durch eine Mehrarbeit von kurzer Zeit eine für Schule und Leben andauernde Arbeitsentlastuug erringen. Das ist ein schlechter Rechner, der aus falsch angebrachter Sparsamkeit sich scheut, eine einmalige Ausgabe vou hundert Mark zu machen, obwohl er weiß, daß die aufzuwendende Summe in kurzem aus dem Ertrage des beschafften Dinges wieder gedeckt sein wird und künftig Jahr für Jahr ein Gewinn damit zu hoffen ist, der die An¬ lage um das doppelte, dreifache und noch mehr übertrifft. Des weitern wird wohl behauptet, die Stenographie schade den Augen, verderbe die gewöhnliche Schrift und Orthographie, und es lasse sich keine charakteristische Hand darin ausbilden. Diese Einwürfe beruhen teils ans un¬ genügender Sachkenntnis, teils treffen sie nur einzelne Systeme, nicht aber die Stenographie schlechthin. Ein hervorragender Augenarzt, wie Professor Cohn in Breslau, hat aus eigner langjähriger Erfahrung im Gegenteil die An¬ wendung der Stenographie zur Schonung der Augen und zur Verhütung der Kurzsichtigkeit empfohlen. Daß sich in der Stenographie genau so charakteristisch uuterschiedne Hände ausbilden wie in der gewöhnlichen Schrift, wird jeder be¬ stätigen, der stenographirte Schriftstücke verschiedner Personen zu lesen gehabt hat. Mau lernt dnrch den Gebrauch die Hände scharf unterscheiden, ja es genügen dann z. B. drei bis vier stenographirte Wortbilder, um den Schreiber daraus zu erkennen. Eine Verschlechterung der gewöhnlichen Handschrift bei gleichzeitigem Gebrauche der Stenographie ist kaum denkbar. Die Stenographie verlangt sorgfältigere Schreibung als die gewöhnliche Schrift, und wenn eine Einwirkung von jener auf diese ausgeht, so müßte man vielmehr erwarten, daß die sorgfältigere Ausführung auch der gewöhnlichen Schrift zu gute käme. Das Gegenteil gehört eigentlich zu den psychologischen Unmöglichkeiten, und es hat auch noch niemand Beweise für jene Behauptung gebracht. In der Orthographie sündigen allerdings manche Systeme gewaltig, aber doch nicht alle. Wenn daher ein ungünstiger Einfluß der Stenographie auf die Recht¬ schreibung der gewöhnlichen Schrift bemerkt wird, so braucht uicht gleich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet zu werden, der Übergang zu einem ortho¬ graphischeren System würde den Übelstand rasch beseitigen — oeWimts va-us» oessat eA'solus —, und die Vorteile blieben den Schülern erhalten. Im Grunde genommen ist ein einziger Einwand von Bedeutung: die Stenographie könne mißbraucht werden. Das ist richtig. Die Schüler

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/364>, abgerufen am 23.07.2024.