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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die konservativen Lleniente Frankreichs vor der großen Revolution

bisher geringgeschätzte englische Verfassung, die den Bürger vor solchen Ge¬
waltthaten schütze, doch ihr Gutes habe. In der Revolution schlug er völlig
"in nud wurde ein wütender Jakobiner. "Gcnützt hat es ihm nichts; er
endete 17!)Z unter der Guillotine."

Dieselben Grundsätze, die Linguet als ein Mann von leidenschaftlichem
Gemüt und zweifelhaftem Charakter in möglichst schroffer und durch Über¬
treibung abstoßender Form zu verkündigen liebte, verteidigte Mallet du Pan,
der Sprößling einer Genfer Pastvrenfamilie und den Überlieferungen seines
frommen und sittenstrengen Vaterhauses zeitlebens treu, in der gemäßigten
Sprache einer tiefen und klaren Überzeugung, unchdem ihn die Wirren seines
kleinen Heimatstaates allmählich aus einem Anhänger Rousseaus in einen Kon¬
servativen verwandelt hatten. Als Linguet 1780 eingekerkert wurde, übernahm
Mallet die Leitung der Annalen. "Schon der erste Band, sagt Gnglia, beweist,
daß seine politischen Nnschnunngen eine beinahe endgiltige Klärung erfahren
haben. Wie scharf weist er die Deklamationen zurück, mit denen Diderot das
Buch seines Freundes Raynal über die Geschichte der europäischen Nieder¬
lassungen in den beiden Indien pikant gemacht hatte! Wenn da von der heil¬
losen Verderbtheit aller bestehenden Ordnungen die Rede ist, so wendet er
dagegen ein, wie alle die schönen Systeme der Zeitphilosophen doch nichts
Existenzfähiges an deren Stelle zu setzen wüßten. Was denn Raynal mit
seinen Ausfällen gegen Priestertum und Könige eigentlich wolle? Selbst wen"
mau so dächte, wie er, müßte mau doch diesen Wahrheitsfanatisnius, diese
Überhebung der Vernunft, diese Konvulsionen der Philosophie bedauern. Ob
sich denn diese Schriftsteller über den Einfluß der Religion auf die Moral,
auf die Politik, auf das Glück oder Unglück der Massen niemals ernstere Ge¬
danken gemacht hätten? "Möchten sie doch den sittlichen Zustand des Zeit¬
alters erwägen und uns dann aufrichtig sagen, ob sie den Augenblick für passend
erachten, die Antriebe zur Tugend zu vermindern!" Was halte denn die mensch¬
liche Gesellschaft zusammen? Die Gesetze? Raynal beweist in zehn Ländern
ihre Tyrannei und ihren Widersinn. Die Regierungen? Nach Raynal sind
sie alle verdorben. Die Erziehung? Die kann bei der Unsittlichkeit der Er¬
wachsenen keine Früchte trage". Die Selbstsucht? Raynal liefert die Geschichte
ihrer Verbrechen. Was bleibt also? Die Wahrheit? "Aber ich frage euch wie
Festus den heiligen Paulus: Was ist denn Wahrheit? Bis nicht alle Weisen
der Erde einstimmig ans diese Frage antworten, lasset den Elenden ihr Para¬
dies und den Bösen ihre Gewissensangst!" Revolutionen wirkten um so ver-
heerender, je älter die zu beseitigenden Einrichtungen und je verwickelter die
Verhältnisse einer fortgeschrittenen Kultur seien. Raynal scheine die Kultur-
staaten und Völker Europas für Kalmückenhorden und Jrokesendörser zu halten.
Die großen Eigenschaften Voltaires erkennt Mallet an, beklagt aber "die Wut,
>"it der er die Priester und die heilige Schrift verfolgt hat." Und da ihm


Die konservativen Lleniente Frankreichs vor der großen Revolution

bisher geringgeschätzte englische Verfassung, die den Bürger vor solchen Ge¬
waltthaten schütze, doch ihr Gutes habe. In der Revolution schlug er völlig
»in nud wurde ein wütender Jakobiner. „Gcnützt hat es ihm nichts; er
endete 17!)Z unter der Guillotine."

Dieselben Grundsätze, die Linguet als ein Mann von leidenschaftlichem
Gemüt und zweifelhaftem Charakter in möglichst schroffer und durch Über¬
treibung abstoßender Form zu verkündigen liebte, verteidigte Mallet du Pan,
der Sprößling einer Genfer Pastvrenfamilie und den Überlieferungen seines
frommen und sittenstrengen Vaterhauses zeitlebens treu, in der gemäßigten
Sprache einer tiefen und klaren Überzeugung, unchdem ihn die Wirren seines
kleinen Heimatstaates allmählich aus einem Anhänger Rousseaus in einen Kon¬
servativen verwandelt hatten. Als Linguet 1780 eingekerkert wurde, übernahm
Mallet die Leitung der Annalen. „Schon der erste Band, sagt Gnglia, beweist,
daß seine politischen Nnschnunngen eine beinahe endgiltige Klärung erfahren
haben. Wie scharf weist er die Deklamationen zurück, mit denen Diderot das
Buch seines Freundes Raynal über die Geschichte der europäischen Nieder¬
lassungen in den beiden Indien pikant gemacht hatte! Wenn da von der heil¬
losen Verderbtheit aller bestehenden Ordnungen die Rede ist, so wendet er
dagegen ein, wie alle die schönen Systeme der Zeitphilosophen doch nichts
Existenzfähiges an deren Stelle zu setzen wüßten. Was denn Raynal mit
seinen Ausfällen gegen Priestertum und Könige eigentlich wolle? Selbst wen»
mau so dächte, wie er, müßte mau doch diesen Wahrheitsfanatisnius, diese
Überhebung der Vernunft, diese Konvulsionen der Philosophie bedauern. Ob
sich denn diese Schriftsteller über den Einfluß der Religion auf die Moral,
auf die Politik, auf das Glück oder Unglück der Massen niemals ernstere Ge¬
danken gemacht hätten? »Möchten sie doch den sittlichen Zustand des Zeit¬
alters erwägen und uns dann aufrichtig sagen, ob sie den Augenblick für passend
erachten, die Antriebe zur Tugend zu vermindern!« Was halte denn die mensch¬
liche Gesellschaft zusammen? Die Gesetze? Raynal beweist in zehn Ländern
ihre Tyrannei und ihren Widersinn. Die Regierungen? Nach Raynal sind
sie alle verdorben. Die Erziehung? Die kann bei der Unsittlichkeit der Er¬
wachsenen keine Früchte trage». Die Selbstsucht? Raynal liefert die Geschichte
ihrer Verbrechen. Was bleibt also? Die Wahrheit? »Aber ich frage euch wie
Festus den heiligen Paulus: Was ist denn Wahrheit? Bis nicht alle Weisen
der Erde einstimmig ans diese Frage antworten, lasset den Elenden ihr Para¬
dies und den Bösen ihre Gewissensangst!« Revolutionen wirkten um so ver-
heerender, je älter die zu beseitigenden Einrichtungen und je verwickelter die
Verhältnisse einer fortgeschrittenen Kultur seien. Raynal scheine die Kultur-
staaten und Völker Europas für Kalmückenhorden und Jrokesendörser zu halten.
Die großen Eigenschaften Voltaires erkennt Mallet an, beklagt aber »die Wut,
>»it der er die Priester und die heilige Schrift verfolgt hat.« Und da ihm


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[0358] Die konservativen Lleniente Frankreichs vor der großen Revolution bisher geringgeschätzte englische Verfassung, die den Bürger vor solchen Ge¬ waltthaten schütze, doch ihr Gutes habe. In der Revolution schlug er völlig »in nud wurde ein wütender Jakobiner. „Gcnützt hat es ihm nichts; er endete 17!)Z unter der Guillotine." Dieselben Grundsätze, die Linguet als ein Mann von leidenschaftlichem Gemüt und zweifelhaftem Charakter in möglichst schroffer und durch Über¬ treibung abstoßender Form zu verkündigen liebte, verteidigte Mallet du Pan, der Sprößling einer Genfer Pastvrenfamilie und den Überlieferungen seines frommen und sittenstrengen Vaterhauses zeitlebens treu, in der gemäßigten Sprache einer tiefen und klaren Überzeugung, unchdem ihn die Wirren seines kleinen Heimatstaates allmählich aus einem Anhänger Rousseaus in einen Kon¬ servativen verwandelt hatten. Als Linguet 1780 eingekerkert wurde, übernahm Mallet die Leitung der Annalen. „Schon der erste Band, sagt Gnglia, beweist, daß seine politischen Nnschnunngen eine beinahe endgiltige Klärung erfahren haben. Wie scharf weist er die Deklamationen zurück, mit denen Diderot das Buch seines Freundes Raynal über die Geschichte der europäischen Nieder¬ lassungen in den beiden Indien pikant gemacht hatte! Wenn da von der heil¬ losen Verderbtheit aller bestehenden Ordnungen die Rede ist, so wendet er dagegen ein, wie alle die schönen Systeme der Zeitphilosophen doch nichts Existenzfähiges an deren Stelle zu setzen wüßten. Was denn Raynal mit seinen Ausfällen gegen Priestertum und Könige eigentlich wolle? Selbst wen» mau so dächte, wie er, müßte mau doch diesen Wahrheitsfanatisnius, diese Überhebung der Vernunft, diese Konvulsionen der Philosophie bedauern. Ob sich denn diese Schriftsteller über den Einfluß der Religion auf die Moral, auf die Politik, auf das Glück oder Unglück der Massen niemals ernstere Ge¬ danken gemacht hätten? »Möchten sie doch den sittlichen Zustand des Zeit¬ alters erwägen und uns dann aufrichtig sagen, ob sie den Augenblick für passend erachten, die Antriebe zur Tugend zu vermindern!« Was halte denn die mensch¬ liche Gesellschaft zusammen? Die Gesetze? Raynal beweist in zehn Ländern ihre Tyrannei und ihren Widersinn. Die Regierungen? Nach Raynal sind sie alle verdorben. Die Erziehung? Die kann bei der Unsittlichkeit der Er¬ wachsenen keine Früchte trage». Die Selbstsucht? Raynal liefert die Geschichte ihrer Verbrechen. Was bleibt also? Die Wahrheit? »Aber ich frage euch wie Festus den heiligen Paulus: Was ist denn Wahrheit? Bis nicht alle Weisen der Erde einstimmig ans diese Frage antworten, lasset den Elenden ihr Para¬ dies und den Bösen ihre Gewissensangst!« Revolutionen wirkten um so ver- heerender, je älter die zu beseitigenden Einrichtungen und je verwickelter die Verhältnisse einer fortgeschrittenen Kultur seien. Raynal scheine die Kultur- staaten und Völker Europas für Kalmückenhorden und Jrokesendörser zu halten. Die großen Eigenschaften Voltaires erkennt Mallet an, beklagt aber »die Wut, >»it der er die Priester und die heilige Schrift verfolgt hat.« Und da ihm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/358>, abgerufen am 23.07.2024.