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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Judith Trachtenberg

reichen kann, ihn zu ihrem Mörder zu machen. Er sieht sich, wie es der
Regimentsarzt Dr. Reiser ausdrückt, vor die Frage gestellt, ob man einen
Physischen Mord begehen darf, um sich den moralischen Selbstmord zu er¬
sparen. In seiner Verzweiflung würde sich der Graf jetzt, trotz der unüber¬
windlichen und berechtigten Abneigung gegen eine solche Heirat, entschließen,
Judith durch eine Trauung die Ehre wiederzugeben, wenn er auch uicht ab¬
sieht, wie er dann weiter leben soll. Aber wieder ist Herr von Wroblewski
zur Stelle, um einen Ausweg zu zeigen, der freilich ein neues Verbrechen in
sich schließt, auf den sich aber Graf Agenor hindrängen läßt. Der Kreis
tommissar kennt einen zerlumpten Gesellen, der schon bei früherer Gelegenheit
den Priester gespielt hat. Er überzeugt deu Grafen, daß Zeit gewinnen in
diesem Falle alles gewinnen heiße, und so wird der falsche Priester zu einer
Scheintaufe und Scheintrauuug verschrieben, nach der Graf Baranowski mit
Judith, die sich nun für seiue Gattin hält, eine Reise nach dem Süden an¬
tritt. Hier verfließt dem Paare ein glücklich-unglückliches Jahr, während¬
dessen die Betrogene einem Knaben das Leben giebt. Der Graf hat sich dnrch
die Einwilligung in den schauerlichem Betrug ganz in die Hände des elenden
Wroblewski gegeben, der die Schraube der Erpressung umso fester anzieht,
als er inzwischen sein Amt als Kreiskommissar verloren hat. Denn Trachten¬
berg hat seinem Sohne Rafael die Rache an dem schurkischen Beamten sterbend
hinterlassen, die dieser mit alttestamentarischen Vergeltungseifer betreibt. Wenn
es auch zu Nnfael Trachteubergs Bedauern nicht zur schimpflichen Absetzung
und zur Zuchthausstrafe für Wroblewski gekommen ist, so ist er doch pensionirt
worden, ist fortan machtlos und auf die Ausbeutung des schuldigen Agenor
Baranowski angewiesen.

Daß auch dieser Krug nur so lange zu Wasser gehen kann, bis er bricht,
empfindet jeder Leser, es ist eigentlich ein halbes Wunder, wie lange es dauert,
bis er in Scherben liegt. Die Geldforderungen des schamlosen Exkommisfars
erreichen eine Höhe, die schließlich die Mittel des Grafen Baranowski über¬
steigt und ihn zwingt, zur Ordnung seiner Angelegenheiten nach der galizischen
Heimat zu reisen. Während seiner Abwesenheit wird Judith in ihrem italie¬
nischen Zufluchtsorte das furchtbare Geheimnis verraten, sie erfährt, daß sie
eine Betrogene und Entehrte ist, und entflieht mit ihrem Kinde, um gleichfalls
"ach ihrem Geburtsorte heimzueilen. In dem Augenblicke, wo sie den unge¬
heuerlichen Betrug, der an ihr verübt worden ist, erkennt, weiß sie auch, daß
sie keine Katholikin, daß sie noch eine Jüdin ist, und begreiflicherweise gereicht
ihr das in dem Gedanken an ihren Vater, dem ihre Liebe zu Graf Baranowski
den Tod gebracht hat, zu einer Art von Trost. Sie findet freilich daheim
nur verschlossene Thüren und verschlossene Herzen, eine einzige alte jüdische
Witwe, Miriam Gold, deren Tochter Christin und die Ehefrau eines Christen
geworden ist und die sich von den jüdischen Frommen hat verleiten lassen, ihrer


Judith Trachtenberg

reichen kann, ihn zu ihrem Mörder zu machen. Er sieht sich, wie es der
Regimentsarzt Dr. Reiser ausdrückt, vor die Frage gestellt, ob man einen
Physischen Mord begehen darf, um sich den moralischen Selbstmord zu er¬
sparen. In seiner Verzweiflung würde sich der Graf jetzt, trotz der unüber¬
windlichen und berechtigten Abneigung gegen eine solche Heirat, entschließen,
Judith durch eine Trauung die Ehre wiederzugeben, wenn er auch uicht ab¬
sieht, wie er dann weiter leben soll. Aber wieder ist Herr von Wroblewski
zur Stelle, um einen Ausweg zu zeigen, der freilich ein neues Verbrechen in
sich schließt, auf den sich aber Graf Agenor hindrängen läßt. Der Kreis
tommissar kennt einen zerlumpten Gesellen, der schon bei früherer Gelegenheit
den Priester gespielt hat. Er überzeugt deu Grafen, daß Zeit gewinnen in
diesem Falle alles gewinnen heiße, und so wird der falsche Priester zu einer
Scheintaufe und Scheintrauuug verschrieben, nach der Graf Baranowski mit
Judith, die sich nun für seiue Gattin hält, eine Reise nach dem Süden an¬
tritt. Hier verfließt dem Paare ein glücklich-unglückliches Jahr, während¬
dessen die Betrogene einem Knaben das Leben giebt. Der Graf hat sich dnrch
die Einwilligung in den schauerlichem Betrug ganz in die Hände des elenden
Wroblewski gegeben, der die Schraube der Erpressung umso fester anzieht,
als er inzwischen sein Amt als Kreiskommissar verloren hat. Denn Trachten¬
berg hat seinem Sohne Rafael die Rache an dem schurkischen Beamten sterbend
hinterlassen, die dieser mit alttestamentarischen Vergeltungseifer betreibt. Wenn
es auch zu Nnfael Trachteubergs Bedauern nicht zur schimpflichen Absetzung
und zur Zuchthausstrafe für Wroblewski gekommen ist, so ist er doch pensionirt
worden, ist fortan machtlos und auf die Ausbeutung des schuldigen Agenor
Baranowski angewiesen.

Daß auch dieser Krug nur so lange zu Wasser gehen kann, bis er bricht,
empfindet jeder Leser, es ist eigentlich ein halbes Wunder, wie lange es dauert,
bis er in Scherben liegt. Die Geldforderungen des schamlosen Exkommisfars
erreichen eine Höhe, die schließlich die Mittel des Grafen Baranowski über¬
steigt und ihn zwingt, zur Ordnung seiner Angelegenheiten nach der galizischen
Heimat zu reisen. Während seiner Abwesenheit wird Judith in ihrem italie¬
nischen Zufluchtsorte das furchtbare Geheimnis verraten, sie erfährt, daß sie
eine Betrogene und Entehrte ist, und entflieht mit ihrem Kinde, um gleichfalls
»ach ihrem Geburtsorte heimzueilen. In dem Augenblicke, wo sie den unge¬
heuerlichen Betrug, der an ihr verübt worden ist, erkennt, weiß sie auch, daß
sie keine Katholikin, daß sie noch eine Jüdin ist, und begreiflicherweise gereicht
ihr das in dem Gedanken an ihren Vater, dem ihre Liebe zu Graf Baranowski
den Tod gebracht hat, zu einer Art von Trost. Sie findet freilich daheim
nur verschlossene Thüren und verschlossene Herzen, eine einzige alte jüdische
Witwe, Miriam Gold, deren Tochter Christin und die Ehefrau eines Christen
geworden ist und die sich von den jüdischen Frommen hat verleiten lassen, ihrer


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[0327] Judith Trachtenberg reichen kann, ihn zu ihrem Mörder zu machen. Er sieht sich, wie es der Regimentsarzt Dr. Reiser ausdrückt, vor die Frage gestellt, ob man einen Physischen Mord begehen darf, um sich den moralischen Selbstmord zu er¬ sparen. In seiner Verzweiflung würde sich der Graf jetzt, trotz der unüber¬ windlichen und berechtigten Abneigung gegen eine solche Heirat, entschließen, Judith durch eine Trauung die Ehre wiederzugeben, wenn er auch uicht ab¬ sieht, wie er dann weiter leben soll. Aber wieder ist Herr von Wroblewski zur Stelle, um einen Ausweg zu zeigen, der freilich ein neues Verbrechen in sich schließt, auf den sich aber Graf Agenor hindrängen läßt. Der Kreis tommissar kennt einen zerlumpten Gesellen, der schon bei früherer Gelegenheit den Priester gespielt hat. Er überzeugt deu Grafen, daß Zeit gewinnen in diesem Falle alles gewinnen heiße, und so wird der falsche Priester zu einer Scheintaufe und Scheintrauuug verschrieben, nach der Graf Baranowski mit Judith, die sich nun für seiue Gattin hält, eine Reise nach dem Süden an¬ tritt. Hier verfließt dem Paare ein glücklich-unglückliches Jahr, während¬ dessen die Betrogene einem Knaben das Leben giebt. Der Graf hat sich dnrch die Einwilligung in den schauerlichem Betrug ganz in die Hände des elenden Wroblewski gegeben, der die Schraube der Erpressung umso fester anzieht, als er inzwischen sein Amt als Kreiskommissar verloren hat. Denn Trachten¬ berg hat seinem Sohne Rafael die Rache an dem schurkischen Beamten sterbend hinterlassen, die dieser mit alttestamentarischen Vergeltungseifer betreibt. Wenn es auch zu Nnfael Trachteubergs Bedauern nicht zur schimpflichen Absetzung und zur Zuchthausstrafe für Wroblewski gekommen ist, so ist er doch pensionirt worden, ist fortan machtlos und auf die Ausbeutung des schuldigen Agenor Baranowski angewiesen. Daß auch dieser Krug nur so lange zu Wasser gehen kann, bis er bricht, empfindet jeder Leser, es ist eigentlich ein halbes Wunder, wie lange es dauert, bis er in Scherben liegt. Die Geldforderungen des schamlosen Exkommisfars erreichen eine Höhe, die schließlich die Mittel des Grafen Baranowski über¬ steigt und ihn zwingt, zur Ordnung seiner Angelegenheiten nach der galizischen Heimat zu reisen. Während seiner Abwesenheit wird Judith in ihrem italie¬ nischen Zufluchtsorte das furchtbare Geheimnis verraten, sie erfährt, daß sie eine Betrogene und Entehrte ist, und entflieht mit ihrem Kinde, um gleichfalls »ach ihrem Geburtsorte heimzueilen. In dem Augenblicke, wo sie den unge¬ heuerlichen Betrug, der an ihr verübt worden ist, erkennt, weiß sie auch, daß sie keine Katholikin, daß sie noch eine Jüdin ist, und begreiflicherweise gereicht ihr das in dem Gedanken an ihren Vater, dem ihre Liebe zu Graf Baranowski den Tod gebracht hat, zu einer Art von Trost. Sie findet freilich daheim nur verschlossene Thüren und verschlossene Herzen, eine einzige alte jüdische Witwe, Miriam Gold, deren Tochter Christin und die Ehefrau eines Christen geworden ist und die sich von den jüdischen Frommen hat verleiten lassen, ihrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/327>, abgerufen am 23.07.2024.