Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Judith Trachtenberg

In dem vstgcilizischen Neste, das die Familie Trachtenberg bewohnt, steht
das Haupt- und Stammschloß der polnischen Grafenfamilie Baranowski, deren
gegenwärtiges Haupt der junge Graf Agenor Baranowski ist, der beim Be¬
ginn des Romans seinen Einzug in Stadt und Schloß hält und bei einem
vom Kreiskommissar gegebenen Balle in die Lage kommt, sich der schönen
Judith gegen eine feige und unwürdige Beleidigung, die ihr von einem ver¬
lumpten Schlachzizen angethan wird, ritterlich anzunehmen, um so ritterlicher,
als er ein ausgesprochener Feind der Juden ist und mit gutem Gewissen be¬
teuern kann, daß er ihr beigesprungen sein würde, auch wenn Judith statt
schön häßlich gewesen wäre, und obschon sonst seine Losung ist: Kampf gegen die
wachsende Macht des israelitischen Kapitals und als erste Regel in diesem
Kampfe keine gesellschaftliche Berührung mit den Juden, keine Vermischung
der Gegensätze. Die eine Begegnung mit der schönen Jüdin hat hingereicht,
in ihm eine rasende Leidenschaft zu wecken, denn nur eine solche kann es be¬
greiflich machen, daß er einem Halunken wie dem Kreiskommissar Mitteilungen
über seine entzündete Phantasie macht und es' weniger beklagt, daß Judith
Trachtenberg eine Jüdin, als daß sie ein braves Mädchen ist. Für Wrvblewski
ist dies das Signal, seinen übrigen anmutigen Eigenschaften die eines eifrigen
und ziemlich geschickten Knpplers hinzuzufügen. Graf Agenor leistet nach der
Sitte schwacher Naturen seinem plötzlichen wilden Verlangen, Judith zu besitzen,
einigen Widerstand, aber er ist so von seiner Leidenschaft übermannt, daß es des
Kreiskommissars und seiner häßlichen Dienstleistungen gar nicht erst bedürfte, um
ihn auf dem Wege weiterzutreiben, auf dem er Judiths Gegenliebe sucht und --
gewinnt. Dabei täuscht er sich im Grunde weder über sie noch über sich. "Er hatte
Judith gewonnen, weil sie ihn für ritterlich und edel hielt, frei von Vorurteilen
gegen ihr Volk, weil sie seiner Ehrlichkeit, seiner Liebe vertraute; ein Wort von
der Kluft, die sie schied, eine Andeutung der Unmöglichkeit, sie zu seinem Weibe
zu machen und sie war ihm für immer verloren. Sie hatte bisher nie
von der Zukunft gesprochen, keine Frage an ihn gestellt -- aber wenn sie es
that? Und wenn es nicht dazu kam, wenn sein Betrug, seine Lüge auch
ferner im Schweigen oder in vieldeutigen Antworten bestand -- durfte sie ihm
deshalb nunder das Gewissen beschweren? Und die er betrog, er begehrte
sie nicht bloß, sondern liebte sie auch, heiß und ans ganzer Seele. "Wie ist
das nur über mich gekommen?" fragte er sich oft und fand keine Antwort.
Gewiß, ihre Schönheit hatte auf den ersten Blick seine Sinne entzündet, aber
daran allein lag es nicht. Sie war so gut, so achtungswert in ihrem Stolz,
so rührend i" ihrer Hingebung, so bedauernswert durch die Art, wie sie ihre
Stellung nnter den Menschen empfand, eine Stellung, die ihr fremder Wille
gegeben hhätte^. Aber auch dies alles genügte nicht, um ihm selbst das
Wunder zu erklären, welches sich mit seinem Herzen begeben hhätte^. "Viel¬
leicht, dachte er zuweilen, vielleicht ists nur das Mitleid, das Grauen vor dem


Judith Trachtenberg

In dem vstgcilizischen Neste, das die Familie Trachtenberg bewohnt, steht
das Haupt- und Stammschloß der polnischen Grafenfamilie Baranowski, deren
gegenwärtiges Haupt der junge Graf Agenor Baranowski ist, der beim Be¬
ginn des Romans seinen Einzug in Stadt und Schloß hält und bei einem
vom Kreiskommissar gegebenen Balle in die Lage kommt, sich der schönen
Judith gegen eine feige und unwürdige Beleidigung, die ihr von einem ver¬
lumpten Schlachzizen angethan wird, ritterlich anzunehmen, um so ritterlicher,
als er ein ausgesprochener Feind der Juden ist und mit gutem Gewissen be¬
teuern kann, daß er ihr beigesprungen sein würde, auch wenn Judith statt
schön häßlich gewesen wäre, und obschon sonst seine Losung ist: Kampf gegen die
wachsende Macht des israelitischen Kapitals und als erste Regel in diesem
Kampfe keine gesellschaftliche Berührung mit den Juden, keine Vermischung
der Gegensätze. Die eine Begegnung mit der schönen Jüdin hat hingereicht,
in ihm eine rasende Leidenschaft zu wecken, denn nur eine solche kann es be¬
greiflich machen, daß er einem Halunken wie dem Kreiskommissar Mitteilungen
über seine entzündete Phantasie macht und es' weniger beklagt, daß Judith
Trachtenberg eine Jüdin, als daß sie ein braves Mädchen ist. Für Wrvblewski
ist dies das Signal, seinen übrigen anmutigen Eigenschaften die eines eifrigen
und ziemlich geschickten Knpplers hinzuzufügen. Graf Agenor leistet nach der
Sitte schwacher Naturen seinem plötzlichen wilden Verlangen, Judith zu besitzen,
einigen Widerstand, aber er ist so von seiner Leidenschaft übermannt, daß es des
Kreiskommissars und seiner häßlichen Dienstleistungen gar nicht erst bedürfte, um
ihn auf dem Wege weiterzutreiben, auf dem er Judiths Gegenliebe sucht und —
gewinnt. Dabei täuscht er sich im Grunde weder über sie noch über sich. „Er hatte
Judith gewonnen, weil sie ihn für ritterlich und edel hielt, frei von Vorurteilen
gegen ihr Volk, weil sie seiner Ehrlichkeit, seiner Liebe vertraute; ein Wort von
der Kluft, die sie schied, eine Andeutung der Unmöglichkeit, sie zu seinem Weibe
zu machen und sie war ihm für immer verloren. Sie hatte bisher nie
von der Zukunft gesprochen, keine Frage an ihn gestellt — aber wenn sie es
that? Und wenn es nicht dazu kam, wenn sein Betrug, seine Lüge auch
ferner im Schweigen oder in vieldeutigen Antworten bestand — durfte sie ihm
deshalb nunder das Gewissen beschweren? Und die er betrog, er begehrte
sie nicht bloß, sondern liebte sie auch, heiß und ans ganzer Seele. »Wie ist
das nur über mich gekommen?« fragte er sich oft und fand keine Antwort.
Gewiß, ihre Schönheit hatte auf den ersten Blick seine Sinne entzündet, aber
daran allein lag es nicht. Sie war so gut, so achtungswert in ihrem Stolz,
so rührend i» ihrer Hingebung, so bedauernswert durch die Art, wie sie ihre
Stellung nnter den Menschen empfand, eine Stellung, die ihr fremder Wille
gegeben hhätte^. Aber auch dies alles genügte nicht, um ihm selbst das
Wunder zu erklären, welches sich mit seinem Herzen begeben hhätte^. »Viel¬
leicht, dachte er zuweilen, vielleicht ists nur das Mitleid, das Grauen vor dem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0325" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209558"/>
          <fw type="header" place="top"> Judith Trachtenberg</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_925" next="#ID_926"> In dem vstgcilizischen Neste, das die Familie Trachtenberg bewohnt, steht<lb/>
das Haupt- und Stammschloß der polnischen Grafenfamilie Baranowski, deren<lb/>
gegenwärtiges Haupt der junge Graf Agenor Baranowski ist, der beim Be¬<lb/>
ginn des Romans seinen Einzug in Stadt und Schloß hält und bei einem<lb/>
vom Kreiskommissar gegebenen Balle in die Lage kommt, sich der schönen<lb/>
Judith gegen eine feige und unwürdige Beleidigung, die ihr von einem ver¬<lb/>
lumpten Schlachzizen angethan wird, ritterlich anzunehmen, um so ritterlicher,<lb/>
als er ein ausgesprochener Feind der Juden ist und mit gutem Gewissen be¬<lb/>
teuern kann, daß er ihr beigesprungen sein würde, auch wenn Judith statt<lb/>
schön häßlich gewesen wäre, und obschon sonst seine Losung ist: Kampf gegen die<lb/>
wachsende Macht des israelitischen Kapitals und als erste Regel in diesem<lb/>
Kampfe keine gesellschaftliche Berührung mit den Juden, keine Vermischung<lb/>
der Gegensätze. Die eine Begegnung mit der schönen Jüdin hat hingereicht,<lb/>
in ihm eine rasende Leidenschaft zu wecken, denn nur eine solche kann es be¬<lb/>
greiflich machen, daß er einem Halunken wie dem Kreiskommissar Mitteilungen<lb/>
über seine entzündete Phantasie macht und es' weniger beklagt, daß Judith<lb/>
Trachtenberg eine Jüdin, als daß sie ein braves Mädchen ist. Für Wrvblewski<lb/>
ist dies das Signal, seinen übrigen anmutigen Eigenschaften die eines eifrigen<lb/>
und ziemlich geschickten Knpplers hinzuzufügen. Graf Agenor leistet nach der<lb/>
Sitte schwacher Naturen seinem plötzlichen wilden Verlangen, Judith zu besitzen,<lb/>
einigen Widerstand, aber er ist so von seiner Leidenschaft übermannt, daß es des<lb/>
Kreiskommissars und seiner häßlichen Dienstleistungen gar nicht erst bedürfte, um<lb/>
ihn auf dem Wege weiterzutreiben, auf dem er Judiths Gegenliebe sucht und &#x2014;<lb/>
gewinnt. Dabei täuscht er sich im Grunde weder über sie noch über sich. &#x201E;Er hatte<lb/>
Judith gewonnen, weil sie ihn für ritterlich und edel hielt, frei von Vorurteilen<lb/>
gegen ihr Volk, weil sie seiner Ehrlichkeit, seiner Liebe vertraute; ein Wort von<lb/>
der Kluft, die sie schied, eine Andeutung der Unmöglichkeit, sie zu seinem Weibe<lb/>
zu machen und sie war ihm für immer verloren. Sie hatte bisher nie<lb/>
von der Zukunft gesprochen, keine Frage an ihn gestellt &#x2014; aber wenn sie es<lb/>
that? Und wenn es nicht dazu kam, wenn sein Betrug, seine Lüge auch<lb/>
ferner im Schweigen oder in vieldeutigen Antworten bestand &#x2014; durfte sie ihm<lb/>
deshalb nunder das Gewissen beschweren? Und die er betrog, er begehrte<lb/>
sie nicht bloß, sondern liebte sie auch, heiß und ans ganzer Seele. »Wie ist<lb/>
das nur über mich gekommen?« fragte er sich oft und fand keine Antwort.<lb/>
Gewiß, ihre Schönheit hatte auf den ersten Blick seine Sinne entzündet, aber<lb/>
daran allein lag es nicht. Sie war so gut, so achtungswert in ihrem Stolz,<lb/>
so rührend i» ihrer Hingebung, so bedauernswert durch die Art, wie sie ihre<lb/>
Stellung nnter den Menschen empfand, eine Stellung, die ihr fremder Wille<lb/>
gegeben hhätte^. Aber auch dies alles genügte nicht, um ihm selbst das<lb/>
Wunder zu erklären, welches sich mit seinem Herzen begeben hhätte^. »Viel¬<lb/>
leicht, dachte er zuweilen, vielleicht ists nur das Mitleid, das Grauen vor dem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0325] Judith Trachtenberg In dem vstgcilizischen Neste, das die Familie Trachtenberg bewohnt, steht das Haupt- und Stammschloß der polnischen Grafenfamilie Baranowski, deren gegenwärtiges Haupt der junge Graf Agenor Baranowski ist, der beim Be¬ ginn des Romans seinen Einzug in Stadt und Schloß hält und bei einem vom Kreiskommissar gegebenen Balle in die Lage kommt, sich der schönen Judith gegen eine feige und unwürdige Beleidigung, die ihr von einem ver¬ lumpten Schlachzizen angethan wird, ritterlich anzunehmen, um so ritterlicher, als er ein ausgesprochener Feind der Juden ist und mit gutem Gewissen be¬ teuern kann, daß er ihr beigesprungen sein würde, auch wenn Judith statt schön häßlich gewesen wäre, und obschon sonst seine Losung ist: Kampf gegen die wachsende Macht des israelitischen Kapitals und als erste Regel in diesem Kampfe keine gesellschaftliche Berührung mit den Juden, keine Vermischung der Gegensätze. Die eine Begegnung mit der schönen Jüdin hat hingereicht, in ihm eine rasende Leidenschaft zu wecken, denn nur eine solche kann es be¬ greiflich machen, daß er einem Halunken wie dem Kreiskommissar Mitteilungen über seine entzündete Phantasie macht und es' weniger beklagt, daß Judith Trachtenberg eine Jüdin, als daß sie ein braves Mädchen ist. Für Wrvblewski ist dies das Signal, seinen übrigen anmutigen Eigenschaften die eines eifrigen und ziemlich geschickten Knpplers hinzuzufügen. Graf Agenor leistet nach der Sitte schwacher Naturen seinem plötzlichen wilden Verlangen, Judith zu besitzen, einigen Widerstand, aber er ist so von seiner Leidenschaft übermannt, daß es des Kreiskommissars und seiner häßlichen Dienstleistungen gar nicht erst bedürfte, um ihn auf dem Wege weiterzutreiben, auf dem er Judiths Gegenliebe sucht und — gewinnt. Dabei täuscht er sich im Grunde weder über sie noch über sich. „Er hatte Judith gewonnen, weil sie ihn für ritterlich und edel hielt, frei von Vorurteilen gegen ihr Volk, weil sie seiner Ehrlichkeit, seiner Liebe vertraute; ein Wort von der Kluft, die sie schied, eine Andeutung der Unmöglichkeit, sie zu seinem Weibe zu machen und sie war ihm für immer verloren. Sie hatte bisher nie von der Zukunft gesprochen, keine Frage an ihn gestellt — aber wenn sie es that? Und wenn es nicht dazu kam, wenn sein Betrug, seine Lüge auch ferner im Schweigen oder in vieldeutigen Antworten bestand — durfte sie ihm deshalb nunder das Gewissen beschweren? Und die er betrog, er begehrte sie nicht bloß, sondern liebte sie auch, heiß und ans ganzer Seele. »Wie ist das nur über mich gekommen?« fragte er sich oft und fand keine Antwort. Gewiß, ihre Schönheit hatte auf den ersten Blick seine Sinne entzündet, aber daran allein lag es nicht. Sie war so gut, so achtungswert in ihrem Stolz, so rührend i» ihrer Hingebung, so bedauernswert durch die Art, wie sie ihre Stellung nnter den Menschen empfand, eine Stellung, die ihr fremder Wille gegeben hhätte^. Aber auch dies alles genügte nicht, um ihm selbst das Wunder zu erklären, welches sich mit seinem Herzen begeben hhätte^. »Viel¬ leicht, dachte er zuweilen, vielleicht ists nur das Mitleid, das Grauen vor dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/325
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/325>, abgerufen am 25.08.2024.