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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

hat in Paris unter ihren Anbetern auch den Enkel eines reichen Grafen aus
der Provinz. Der Alte erfährt von dem Verhältnis seines Erben, der im
Begriff ist, die Kokotte zu heiraten, läßt ihn zu sich kommen und verschreibt
sich als angenehme Zerstreuung für den jungen Adelphe, ohne dessen Aus¬
erwählte zu kennen, eben jene Gin, die den Wahlspruch führt: (Zui s'^ droles,
s'^ volle. Das Unglück, hängen zu bleiben, pcissirt denn auch dem alten
Grafen, desgleichen einem unschuldigen, gutherzigen Fischerjnngen, dessen Mutter
den Spaß aber falsch versteht und der Gin mit einem Axthiebe den Schädel
spaltet.

Natürlicher in der Charakterzeichnung und weniger widerlich im Stoff
sind der Roman Naclamc; ^.nclrv, worin er die Seelenkämpfe eines verirrten
Weibes schildert, und die etwas romantisch gehaltene Geschichte NmrKü, la M<z
Ä l'oui'8, worin er im Gebrauch ungewöhnlicher Wendungen und altertümlicher
Ausdrücke schwelgt. Den Lexikographen wird wohl dieser Roman einen be¬
sondern Genuß gewähren; andre Leser jedoch werden sich kaum mit Ruhe durch
diesen Urwald fremdkliugender Wörter hindurcharbeiten.

Lebendig und anschaulich geschrieben sind einige Teile des Romans Lösarins,
besonders da, wo Nichepin das Elend der in die Schweiz geworfenen Ostarmee
schildert und die entsetzlichen Szenen, die sich nach dem deutsch-französischen
Kriege in Paris abspielen. In diesem Kampfe geht sein Freund Paul de
Rvneieux zu Grunde, dessen Geschichte und Liebe zu der edeln Cvsarine der
Dichter erzählt.

Nach Entwurf, Aufbau und Gedankeninhalt am wertvollsten ist sein
Roman Lrg.v<Z8 6on8. Hier entwirft er in scharfen Zügen und frischen Farben
ein fesselndes Bild von der Pariser Künstlerbohvme. In seinem Helden Joch
führt er uns den Typus eines kunstbegeisterten, anspruchslosen und gutmütigen
Musikers vor, der sich nach langen Kämpfen und Entbehrungen doch noch zu
einem bescheidnen Lebensglück hindurcharbeitet. Der Verfasser wirft zuweilen
interessante Schlaglichter auf die litterarischen und künstlerischen Zustände der
Gegenwart, die in den Köpfen vieler Geister eine heillose Verwirrung anrichten.
So sprechen die jungen, bahnbrechenden Dichter in ihren Versammlungen von
einem neuen Verse, worin der Gedanke durch eine Art von Musik ersetzt werden
soll, worin die Wörter, die Klangfarbe und die Harmonie von Tönen erhalten
und die einfachem Tonvariationen der Silben genügen sollen, um Bilder und
Vorstellungen in der Phantasie zu erwecken. Diese Kunst nennen sie l'vLriwrs
snMstivö. Die Maler erheben gewissermaßen auf eine psychologische Malerei
Anspruch, indem sie nur den Eindruck der Dinge wiedergeben wollen, die
einen nämlich durch das flüchtige grelle Glitzern des in freier Luft unendlich
zerteilten Lichtes, die andern durch die Zusammenstellung eines clsssin initial
se xrimitif. Die Musiker sind der Ansicht, daß ihre Kunst schließlich alle
übrigen aufsaugen werde, da sie die sinnlichste und zugleich die geistigste, die


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

hat in Paris unter ihren Anbetern auch den Enkel eines reichen Grafen aus
der Provinz. Der Alte erfährt von dem Verhältnis seines Erben, der im
Begriff ist, die Kokotte zu heiraten, läßt ihn zu sich kommen und verschreibt
sich als angenehme Zerstreuung für den jungen Adelphe, ohne dessen Aus¬
erwählte zu kennen, eben jene Gin, die den Wahlspruch führt: (Zui s'^ droles,
s'^ volle. Das Unglück, hängen zu bleiben, pcissirt denn auch dem alten
Grafen, desgleichen einem unschuldigen, gutherzigen Fischerjnngen, dessen Mutter
den Spaß aber falsch versteht und der Gin mit einem Axthiebe den Schädel
spaltet.

Natürlicher in der Charakterzeichnung und weniger widerlich im Stoff
sind der Roman Naclamc; ^.nclrv, worin er die Seelenkämpfe eines verirrten
Weibes schildert, und die etwas romantisch gehaltene Geschichte NmrKü, la M<z
Ä l'oui'8, worin er im Gebrauch ungewöhnlicher Wendungen und altertümlicher
Ausdrücke schwelgt. Den Lexikographen wird wohl dieser Roman einen be¬
sondern Genuß gewähren; andre Leser jedoch werden sich kaum mit Ruhe durch
diesen Urwald fremdkliugender Wörter hindurcharbeiten.

Lebendig und anschaulich geschrieben sind einige Teile des Romans Lösarins,
besonders da, wo Nichepin das Elend der in die Schweiz geworfenen Ostarmee
schildert und die entsetzlichen Szenen, die sich nach dem deutsch-französischen
Kriege in Paris abspielen. In diesem Kampfe geht sein Freund Paul de
Rvneieux zu Grunde, dessen Geschichte und Liebe zu der edeln Cvsarine der
Dichter erzählt.

Nach Entwurf, Aufbau und Gedankeninhalt am wertvollsten ist sein
Roman Lrg.v<Z8 6on8. Hier entwirft er in scharfen Zügen und frischen Farben
ein fesselndes Bild von der Pariser Künstlerbohvme. In seinem Helden Joch
führt er uns den Typus eines kunstbegeisterten, anspruchslosen und gutmütigen
Musikers vor, der sich nach langen Kämpfen und Entbehrungen doch noch zu
einem bescheidnen Lebensglück hindurcharbeitet. Der Verfasser wirft zuweilen
interessante Schlaglichter auf die litterarischen und künstlerischen Zustände der
Gegenwart, die in den Köpfen vieler Geister eine heillose Verwirrung anrichten.
So sprechen die jungen, bahnbrechenden Dichter in ihren Versammlungen von
einem neuen Verse, worin der Gedanke durch eine Art von Musik ersetzt werden
soll, worin die Wörter, die Klangfarbe und die Harmonie von Tönen erhalten
und die einfachem Tonvariationen der Silben genügen sollen, um Bilder und
Vorstellungen in der Phantasie zu erwecken. Diese Kunst nennen sie l'vLriwrs
snMstivö. Die Maler erheben gewissermaßen auf eine psychologische Malerei
Anspruch, indem sie nur den Eindruck der Dinge wiedergeben wollen, die
einen nämlich durch das flüchtige grelle Glitzern des in freier Luft unendlich
zerteilten Lichtes, die andern durch die Zusammenstellung eines clsssin initial
se xrimitif. Die Musiker sind der Ansicht, daß ihre Kunst schließlich alle
übrigen aufsaugen werde, da sie die sinnlichste und zugleich die geistigste, die


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[0286] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart hat in Paris unter ihren Anbetern auch den Enkel eines reichen Grafen aus der Provinz. Der Alte erfährt von dem Verhältnis seines Erben, der im Begriff ist, die Kokotte zu heiraten, läßt ihn zu sich kommen und verschreibt sich als angenehme Zerstreuung für den jungen Adelphe, ohne dessen Aus¬ erwählte zu kennen, eben jene Gin, die den Wahlspruch führt: (Zui s'^ droles, s'^ volle. Das Unglück, hängen zu bleiben, pcissirt denn auch dem alten Grafen, desgleichen einem unschuldigen, gutherzigen Fischerjnngen, dessen Mutter den Spaß aber falsch versteht und der Gin mit einem Axthiebe den Schädel spaltet. Natürlicher in der Charakterzeichnung und weniger widerlich im Stoff sind der Roman Naclamc; ^.nclrv, worin er die Seelenkämpfe eines verirrten Weibes schildert, und die etwas romantisch gehaltene Geschichte NmrKü, la M<z Ä l'oui'8, worin er im Gebrauch ungewöhnlicher Wendungen und altertümlicher Ausdrücke schwelgt. Den Lexikographen wird wohl dieser Roman einen be¬ sondern Genuß gewähren; andre Leser jedoch werden sich kaum mit Ruhe durch diesen Urwald fremdkliugender Wörter hindurcharbeiten. Lebendig und anschaulich geschrieben sind einige Teile des Romans Lösarins, besonders da, wo Nichepin das Elend der in die Schweiz geworfenen Ostarmee schildert und die entsetzlichen Szenen, die sich nach dem deutsch-französischen Kriege in Paris abspielen. In diesem Kampfe geht sein Freund Paul de Rvneieux zu Grunde, dessen Geschichte und Liebe zu der edeln Cvsarine der Dichter erzählt. Nach Entwurf, Aufbau und Gedankeninhalt am wertvollsten ist sein Roman Lrg.v<Z8 6on8. Hier entwirft er in scharfen Zügen und frischen Farben ein fesselndes Bild von der Pariser Künstlerbohvme. In seinem Helden Joch führt er uns den Typus eines kunstbegeisterten, anspruchslosen und gutmütigen Musikers vor, der sich nach langen Kämpfen und Entbehrungen doch noch zu einem bescheidnen Lebensglück hindurcharbeitet. Der Verfasser wirft zuweilen interessante Schlaglichter auf die litterarischen und künstlerischen Zustände der Gegenwart, die in den Köpfen vieler Geister eine heillose Verwirrung anrichten. So sprechen die jungen, bahnbrechenden Dichter in ihren Versammlungen von einem neuen Verse, worin der Gedanke durch eine Art von Musik ersetzt werden soll, worin die Wörter, die Klangfarbe und die Harmonie von Tönen erhalten und die einfachem Tonvariationen der Silben genügen sollen, um Bilder und Vorstellungen in der Phantasie zu erwecken. Diese Kunst nennen sie l'vLriwrs snMstivö. Die Maler erheben gewissermaßen auf eine psychologische Malerei Anspruch, indem sie nur den Eindruck der Dinge wiedergeben wollen, die einen nämlich durch das flüchtige grelle Glitzern des in freier Luft unendlich zerteilten Lichtes, die andern durch die Zusammenstellung eines clsssin initial se xrimitif. Die Musiker sind der Ansicht, daß ihre Kunst schließlich alle übrigen aufsaugen werde, da sie die sinnlichste und zugleich die geistigste, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/286>, abgerufen am 25.08.2024.